Die Pentagon Boys von Freetown und ihr Kampf gegen die Babylonians
Trotz seines Reichtums an Bodenschätzen ist Sierra Leone eines der ärmsten Länder der Welt. In den 1990er Jahren verwüstete ein brutaler Bürgerkrieg das Land. Viele der Soldaten waren junge Männer und Frauen. Heute versuchen sie, ihr Leben außerhalb der schützenden Familienbande zu meistern. Dabei leben sie keineswegs in einem sozialen Vakuum, sondern übernehmen Aufgaben, die der korrupte Staat nicht wahrnimmt.
von Mats Utas
Leben am Rande der Gesellschaft
Zwei Uhr nachts. Eine dunkle Straßenecke namens Pentagon. Ein paar Jungs schlafen in oder auf parkenden Taxis, andere sitzen am Straßenrand, trinken Pega-Packs (20 cl Alkohol in Plastikverpackung), rauchen Joints und unterhalten sich über des Lebens Härten. Hinter einer Mauer erklingt Radiomusik, sie spielen einen aktuellen sierra-leonischen Hit. Die raue Stimme fragt, warum die politische Elite den Staat fortwährend bestiehlt. Zwei kleine Jungs, Super Large und Base, haben gerade 1000 Leone (0,30 Euro) von einer Prostituierten und ihrem Kunden kassiert, denen sie ein Plätzchen auf einer Decke in einem verlassenen Lastwagen verkauft haben eine beliebte Behelfslösung für sexuelle Aktivitäten. Wasser und ein schmutziges Handtuch für danach sind im Service inbegriffen.
Stromausfall ist in Freetown (Sierra Leone) bei Nacht mehr oder weniger ein Dauerzustand, und in der Berwick Street in der westlichen Innenstadt ist es noch dunkler als in den meisten anderen Stadtvierteln.
Aus der Dunkelheit tauchen drei Polizisten und zwei Zivilisten in blauen Overalls auf. Die Nachricht macht schnell die Runde bei den Pentagon-Boys: Die Babylonians, die Polizei, ist gekommen. Drogen werden versteckt. Die Jungs auf der Straße schließen sich zu Gruppen zusammen, um gemeinsam stärker zu sein als die Polizei so kann die Polizei ihnen nichts anhaben. In einiger Entfernung greift die Polizei jedoch American auf, der alleine unterwegs ist, und sie "verhaften" ihn, weil er gegen die Ausgangssperre verstoßen hat. American weiß sehr wohl, dass das Gerede von der Ausgangssperre nur Bluff ist, aber in seiner Situation hat er keine andere Wahl, als den Weisungen der Polizei zu folgen und sich von ihnen die Taschen leeren zu lassen. Das ist bei nächtlichen Polizeikontrollen so üblich. Nächtlichen Spaziergängern dagegen können Orte wie Pentagon, an denen unter anderem viele zu Zeiten des Bürgerkriegs aktiv kämpfende Jugendliche leben, in der Dunkelheit städtischen Lebens Schutz vor räuberischen Staatsbeamten bieten.
Das ist nur eine der Episoden, die ich in den letzten zwei Jahren erlebt habe, als ich mich an der Ecke zwischen Berwick und Priscilla Street in Freetown "herumtrieb". Im Mittelpunkt meiner Arbeit standen die Pentagon-Boys, ein loser Zusammenschluss von rund 15 Jugendlichen, die im Wesentlichen vom Autowaschen, aber auch dem Verkauf von Marihuana und von Diebstählen aller Art leben. Viele von ihnen kämpften im sierra-leonischen Bürgerkrieg, entweder auf Seiten der Rebellen in der Revolutionary United Front (RUF), als irreguläre Soldaten der sierra-leonischen Armee (SLA), bei den abtrünnigen Streitkräften des Armed Forces Revolutionary Council (AFRC) und der West Side Boys oder bei den Milizen der Civil Defence Forces (und hier vor allem bei den Kamajors), doch ihre Position und Uneinigkeit während des Krieges spielen in ihrem jetzigen Leben keine zentrale Rolle. Heute leben sie Seite an Seite, und alle politischen Spannungen, die es im Krieg gegeben haben mag, sind im Nachkriegsszenario in den Hintergrund gerückt.
Gemeinsame Nenner in der politischen Ökonomie des Lebens am Rand der Gesellschaft, das diese junge Menschen führen, sind vielmehr der andauernde Kampf ums überleben, die Suche nach einer Zukunftsperspektive, der Wunsch, für die eigenen Kinder, für die Partnerin sorgen zu können, und das Streben nach sozialer Anerkennung.
Für die Pentagon-Boys wie auch für einen Großteil der sierra-leonischen Bevölkerung bietet der Staat, verkörpert durch die Polizei, nicht den sozialen und physischen Schutz, der mit einer Staatsbürgerschaft verbunden sein sollte. Im Gegenteil, der Staat ist im täglichen Leben ein aktiver Unsicherheitsfaktor. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Das Spiel
Parallel zur Berwick Street verläuft die größere und belebtere Adelaide Street. Die Bars hier sind die natürlichen Anlaufstellen für die Pentagon-Boys. Hier treffen sie die Big Men ihrer sozialen Netzwerke (Männer und Frauen, die in ihren sozioökonomischen Netzwerken eine gewisse Bedeutung haben), hier treffen sie Prostituierte einige sind ihre Freundinnen und in der Partnerschaft die Geldverdienerinnen , und hier bestehlen sie Kunden oder Mitglieder konkurrierender Gangs. Hard-To-Catch (HTC) treibt sich in der Nähe der Bars herum. Obwohl von Beruf Drogenhändler, verdient er mehr Geld mit dem Diebstahl von Mobiltelefonen.
HTC wurde vor ein paar Tagen wegen Drogenhandels festgenommen und wieder freigelassen, um seine Verteidigung "vorzubereiten". Die Polizei hat ihm einen Tag Zeit gegeben, um den Fall "aus der Welt zu schaffen" (also den Polizeibeamten zu bestechen). Er braucht noch in dieser Nacht 200.000 Leone (60 Euro). Vor dem Nachtclub Biggies stiehlt er einem Mann aus der Menge ein schickes Handy. Das Handy würde in der Tat fast die gesamte Summe einbringen, die er zur Bestechung der Polizei braucht. HTC rennt Richtung Jamaica, einem nahe gelegenen Slum, wo er in Sicherheit wäre, weil die Polizei sich dort nachts nicht hineinwagt.
Aber ein Polizist holt ihn ein. Er will HTC, dessen Notlage ihm durchaus bekannt ist, nicht etwa auf die Wache bringen. Nein, er will einen Anteil am Handy-Geschäft. Aber HTC versucht, seine Beute zu retten und zaubert ein anderes Handy aus der Tasche. Es ist offensichtlich ein sehr viel älteres Modell, und der Polizist ärgert sich über den billigen Trick. HTC wird auf der Polizeiwache in der Adelaide Street in eine Zelle gesperrt und muss nun zwei Fälle "aus der Welt schaffen".
Die Pentagon-Boys werden nicht nur vom sierra-leonischen Staat ins soziale Abseits gedrängt, sie stehen auch im wirtschaftlichen Abseits. Zum Überleben sind sie auf die illegale oder informelle Wirtschaft angewiesen. Die meisten kommen aus zerrütteten Familien. Ihre Familienbande sind zerrissen oder schwer beschädigt. An den wirtschaftlichen Krisen der 1970er und 1980er Jahre und mehr noch am Bürgerkrieg der 1990er Jahre zerbrachen viele Familien. Armut zwang die Kinder auf die Straße, trieb sie aus ihrer Heimat in die Städte und Bergbaugebiete und später in die Hände der Kriegsparteien. Viele junge Menschen wurden in ihren Familien ausgegrenzt.
Dabei ist Sierra Leone zwar nicht wie dies einige Journalisten darstellen in ein soziales Nichts geraten, in dem Individuen sich ohne jede Bindung bewegen, doch zweifellos hat sich die soziale Landkarte verändert. Auch wenn Verwandtschaft für viele Sierra-Leoner wichtig bleibt, haben für andere alternative soziale Netze die Familie ersetzt oder sind ihnen zumindest wichtiger geworden als die Familie. Urbane Netzwerke sind als eine Art Ersatzfamilien zu sehen. Sie sind nicht straff organisiert und haben keine offiziellen Anführer. Es sind vielmehr lose zusammenhängende Gruppen, die sich um bestimmte Aktivitäten bilden und in denen Big Men den Ton angeben. Eine Gruppe kann sich zum Beispiel um informelle wirtschaftliche Aktivitäten in der Armee bilden, und ein Big Man kann ein Hauptmann der Armee sein. Es könnte aber auch ein politischer Führer oder ein Drogenbaron sein. Junge Sierra-Leoner, die am Rand der Gesellschaft leben, sind sozial und wirtschaftlich von solchen Netzwerken und ihren Big Men abhängig und diese Abhängigkeit zeigt, dass soziale Ausgrenzung auf vielen Ebenen stattfindet.
Moralität kontra Legalität
Die Pentagon-Boys waschen Autos, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie mischen aber auch kräftig in der illegalen Wirtschaft mit. Einer von ihnen, Slim, zieht das große Los. Viele der Jungs können gut fahren und kennen sich mit dem Innenleben von Autos bestens aus. Mit neuem Führerschein und ein bisschen Unterstützung eines Big Man ergattert Slim einen Job als Fahrer eines Richters. Nun kutschiert er einen betagten Mercedes durch die Straßen. Bald findet er jedoch heraus, dass seine Arbeit im Wesentlichen darin besteht, braune Umschläge einzusammeln. Umschläge mit Bestechungsgeldern. Er scheint damit ein moralisches Problem zu haben, und obwohl der Job offensichtlich einen Ausweg aus schwierigsten Lebensbedingungen bietet, beginnt er sich zu fragen, ob er eine Zukunft mit dem Richter hat. Warum? Sollte ein Straßenjunge und ehemals aktiver Kriegsteilnehmer ein stärker ausgeprägtes moralisches Bewusstsein haben als ein prominentes Mitglied der Gesellschaft? Offenbar heißt die Antwort: Ja. Und warum auch nicht? Slim gibt den Job des Einsammelns von illegalen braunen Umschlägen für den räuberischen Staatsdiener nach eineinhalb Monaten auf. Nicht nur, aber auch wegen der Sache mit der Bestechung wäscht er wieder Autos für durchschnittlich 3000 Leone (9 Euro Cents) pro Tag. Mehrmals sucht er den Richter auf, um seinen letzten Lohn einzufordern. Der aber sagt ihm jedes Mal, er solle "morgen wieder kommen". Im unsicheren sozialen Gelände Sierra Leones verzichtet Slim schließlich auf den Restlohn aus Angst vor den Konsequenzen eines offiziellen Vorgehens gegen einen Richter. "Ich lande noch im Gefängnis, wenn ich zu sehr Druck mache." Außerdem weiß er, dass es richtig Geld kostet, wenn er das Rechtssystem zum Handeln bewegen will.
Da sich die Pentagon-Boys zwar im sozialen Abseits, nicht aber in einem sozialen Nichts bewegen, sollten wir nicht überrascht sein, auch in Kreisen wie den ihren, soziale Regeln oder eine moralische Ordnung vorzufinden. Auch Diebe haben einen klar definierten Verhaltenskodex. Und wie oben angesprochen, finden Normalbürger nachts an der Pentagon-Ecke Schutz vor polizeilichem Amtsmissbrauch. In der Tat übernehmen Jugendgruppen in Freetown lokale Ordnungsaufgaben, organisieren Streifengänge, führen Festnahmen durch und melden Übeltäter bei lokalen Autoritäten wie traditionellen Chiefs oder inoffiziellen Big Men. Sie beteiligen sich auch an lokalen und alternativen Formen der sozialen Absicherung. Die gemeinsame Ausgangsbasis für viele dieser Aktionen besteht darin, dass der Staat als räuberische Macht gesehen wird und dass Maßnahmen gegen den Staat ergriffen werden. Nun ist der räuberische Staat keineswegs ein neues Phänomen. Vielmehr hat sich der sierra-leonische Staat durch strukturelle wie auch körperliche Gewalt seit kolonialen Zeiten als Hauptquelle sozialer Unsicherheit erwiesen.
Armut und Unsicherheit im täglichen Leben begünstigen Gewalt. Letzten Endes ist die Macht der Machtlosen rohe physische Gewalt. Für marginalisierte Menschen, so der Sozialanthropologe Michael Jackson, bedeutet Gewalt "die Einleitung einer Umkehr. Sie wird bestimmt durch die verzweifelte und magische Überzeugung, dass das Nichts zum Sein wird, wenn man die Uhr zurückstellt, die Reihenfolge der Geschehnisse, aus denen sich die eigene Nationalgeschichte oder die persönliche Biographie zusammensetzt, umkehrt. Irgendwie wird man dann ersetzen, was verloren ist, reparieren, was zerstört ist, und die Tragödie, die einem widerfahren ist, vergessen".
Dass so viele junge Menschen freiwillig im sierra-leonischen Bürgerkrieg kämpften, sollte als ein verzweifelter Aufschrei der machtlosen Bürger des Landes verstanden werden (die weiterhin von als Warlords und Big Men getarnten sozialpolitischen Akteuren mit weiter reichenden politischen und wirtschaftlichen Zielen verborgen vor der Öffentlichkeit manipuliert werden).
Hat der Krieg etwas geändert?
Wenig deutet darauf hin. Die traurige Erkenntnis ist, dass viele Sierra-Leoner auch heute noch, nach dem Bürgerkrieg und nach massiven Wiederaufbau- und Entwicklungsanstrengungen, den Staat als räuberisch und eher als eine Bedrohung für das Wohlbefinden des Einzelnen denn als konkrete Hilfsalternative und Garant individueller Sicherheit sehen. Die täglichen Unsicherheiten, mit denen sich ein wesentlicher Teil der sierra-leonischen Bevölkerung von Staat und Umwelt ausgegrenzt auseinander setzen muss, haben alternative Moralsysteme der marginalisierten Menschen entstehen lassen. So überrascht es keineswegs, wenn Jugendliche am Rand der Gesellschaft mit unvermindertem Hass auf den Staat und seine Agenten reagieren. Und trotz entsetzlicher Erfahrungen im letzten Krieg würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach wieder in einen neuen Krieg ziehen, wenn sie die Chance dazu hätten. Allzu viele ehemalige Kriegsteilnehmer haben mir gesagt: "Wir werden wieder kämpfen, und diesmal entkommt uns keiner."
Ein dicker Jeep rumpelt durch die Schlaglöcher am Pentagon vorbei. Big schlägt vor, dass wir den Wagen überfallen die Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen. "Man weiß es nicht, vielleicht ist der Mann im Auto ein Minister, wir sollten ihn uns hier und jetzt schnappen." Etwas später verkündet der kleine Dennis auf der anderen Straßenseite mit erschreckend kräftiger Stimme, dass er den Sohn des Bildungsministers kidnappen will. Nichts als Gerede, natürlich, aber aus seinen Worten spricht die Frustration vieler junger Menschen im heutigen Sierra Leone.
aus: der überblick 03/2006, Seite 6
AUTOR(EN):
Mats Utas
Mats Utas ist Wissenschaftler am "Nordic Africa Institute" in Uppsala, Schweden.
Sein Artikel basiert auf Feldforschungen als Research Fellow am "Fourah Bay College" in Freetown, Sierra Leone, der letzten beiden Jahre.