Sozial sein ist ein hoher Wert
Ausgehend vom Niveau eines Entwicklungslandes hat Südkorea in weniger als vierzig Jahren ein umfassendes System der Sozialversicherung geschaffen. Weil die einzelnen Versicherungen nur schrittweise eingeführt und deren Leistungen nur nach und nach ausgeweitet wurden, konnte man Erfahrungen sammeln, die beim weiteren Ausbau berücksichtigt werden konnten. Heute steht das System infolge veränderten Altersaufbaus der Gesellschaft vor ähnlichen Problemen, wie die Sozialversicherung in Deutschland, und eine Reform scheint ebenso schwer durchsetzbar zu sein.
von Peter Mayer
Südkorea hat in den letzten fünfzig Jahren einen erstaunlichen Transformationsprozess erlebt. Die Kolonialherrschaft der Japaner von 1910 bis 1945 hatte kaum Entwicklung zugelassen und viele Strukturen zerstört. Die von den alliierten Mächten vereinbarte Teilung Koreas und die Zerstörungen des Koreakrieges von 1950 bis 1953 schufen noch schwierigere Ausgangsbedingungen für die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes. Innerhalb von fünfzig Jahren hat es Südkorea jedoch geschafft, vom Entwicklungsland mit niedrigstem Einkommen zum Schwellenland mit fast 10.000 US-Dollar Pro-Kopf-Einkommen aufzusteigen. Es gelang nicht nur, eine moderne industrielle Basis zu schaffen, sondern es wurde auch ein Sozialsystem fast aus dem Nichts aufgebaut, welches die Menschen gegen die grundlegenden sozialen Risiken wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfall absichert.
Das südkoreanische Sozialversicherungssystem besteht heute aus vier Säulen: einer Unfallversicherung, einer Krankenversicherung, einer Rentenversicherung und einer Arbeitslosenversicherung.
Seit 1964 gibt es eine Unfallversicherung, die durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert wird. Diese Versicherung, zunächst für mittlere und große Betriebe konzipiert, wurde später auf grundsätzlich alle Betriebe ausgeweitet. Sie bietet im Falle eines anerkannten Arbeitsunfalls für die Betroffenen Lohnersatzleistungen, Behandlungskosten und im Bedarfsfall Rentenzahlungen.
1977 wurde eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt, welche 1989 auf alle Bürger Südkoreas ausgedehnt wurde. Die Leistungen der Versicherung wurden schrittweise erweitert und decken mittlerweile einen beträchtlichen Teil der Gesundheitsrisiken ab.
Eine allgemeine Rentenversicherung schuf ein Gesetz aus dem Jahre 1988. Auch in diesem Fall wurde der Anwendungsbereich im Laufe der Zeit erweitert. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen jeweils 4,5 Prozent des Bruttolohnes in die Versicherung ein. Neben dieser allgemeinen Rentenversicherung gibt es spezielle Systeme für öffentlich Bedienstete, für Personal des Militärs und Lehrer an Privatschulen. Heute sind alle Bürger per Gesetz rentenversichert.
Seit 1995 gibt es eine Arbeitslosenversicherung. Diese wird gemeinsam aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert, gegenwärtig betragen die abzuführenden Anteile jeweils 0,5 Prozent des Bruttoeinkommens zuzüglich einer nur vom Arbeitgeber zu tragenden Rate für Aus-und Fortbildungsprojekte. Die Pflichtmitgliedschaft wurde schrittweise ausgedehnt: Zunächst erstreckte sich die Mitgliedschaft auf Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 30 Beschäftigten, später wurde diese Schwelle sukzessive abgesenkt, und seit Oktober 1998 sind grundsätzlich alle Arbeitnehmer von dem System erfasst. Zahlreiche Maßnahmen der Beschäftigungsförderung werden aus dem Fonds finanziert. Abhängig von der Dauer der Mitgliedschaft und ihrem Alter können Arbeitslose bis zu acht Monate Lohnersatzleistungen erhalten. Eine Vielzahl weiterer Maßnahmen ergänzt die beschriebenen Instrumente, etwa ein System der Sozialhilfe, Beschäftigungsprogramme für Frauen, eine Mindestlohngesetzgebung und andere.
Entscheidend für die erfolgreiche Einführung und Expansion der Sozialversicherung waren die Wertorientierung der koreanischen Bevölkerung und Entscheidungsträger, eine günstige politische Ausgangslage und Geschick bei der Einführung der Systeme. Die Südkoreaner sahen in der Nachkriegszeit stets die USA und Europa und dort vor allem Westdeutschland als Vorbilder für ihre eigene Zukunft an. Die dortigen Verhältnisse wurden intensiv studiert und analysiert, sie waren jahrzehntelang die Bezugsgröße für die eigene Entwicklung. Die von Mahatir Mohamad in Malaysia oder Lee Kuan Yew in Singapur vorgetragenen Konzepte eigener asiatischer Wege und Werte fanden in Südkorea nie den Widerhall, den diese Konzepte in anderen Ländern hatten. Südkorea ist an der westlichen Welt orientiert. Deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung war und ist der Standard, an dem die eigene Situation gemessen wird.
In Südkorea bildet die Familie einen besonderen Fixpunkt im Wertesystem der Menschen. Entscheidungsträger in der Politik wissen um die Bedeutung der Familie und wollen diese bewahren. Sie überhöhten und überschätzten aber die Leistungsfähigkeit familiärer Netze nicht. Man erkannte frühzeitig, wie sich der schnelle Strukturwandel und der veränderte Altersaufbau der Bevölkerung auswirken würden, und man sah rechtzeitig, dass mit dem rapiden Strukturwandel die Familie zur Abfederung sozialer Lasten nicht mehr alleine in der Lage sein würde. Hohen Rang im koreanischen Wertesystem haben das Bedürfnis nach relativ egalitären Einkommens-und Vermögensverhältnissen und die Erwartung an den Staat, dass dieser Strukturen schafft, die extreme Armut verhindern.
In den sechziger und siebziger Jahren schien das kommunistische Regime im Norden einen höheren Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung zu ermöglichen, als dies im Süden der Fall war. Der Systemwettbewerb zwang das südkoreanische Regime, sozialen Problemen eine größere Aufmerksamkeit zu widmen, als dies ohne das Gegenüber im Norden der Fall gewesen wäre. So wenig man dies heute verstehen mag, über Jahrzehnte waren viele südkoreanische Entscheidungsträger tief besorgt, dass große Teile der südkoreanischen Bevölkerung das System des Nordens vorziehen könnten. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren regierte eine autoritäre Militärelite, die sich sowohl von innen als auch von außen ständig bedroht gefühlt hat. Das Machtkalkül der Regierung sah vor, geeignete wirtschaftliche und soziale Bedingungen zu schaffen und dadurch die Bevölkerung so zu "befrieden", dass diese für eine begrenzte Zeit die Einschränkung der politischen Freiheiten duldete.
Seit Mitte der achtziger Jahre gelang es der Demokratisierungsbewegung, die Regierung zur weiteren Öffnung zu zwingen. Die Proteste nichtstaatlicher Organisationen, vor allem der Gewerkschaften, der Intellektuellen und einiger Studentengruppen, zwangen die Regierung, ihre Politik des Ausbaus der sozialen Systeme fortzusetzen.
Die bisher letzte Phase der Reform des sozialen Sicherungssystems war eine Reaktion auf die Asienkrise 1997-99. Im politischen Programm des in der Krise gewählten Präsidenten Kim Dae-jung stand der Ausbau des Wohlfahrtssystems an hoher Stelle. Hinzu kam, dass auch der Internationale Währungsfonds (IWF), der umfangreiche Kredite bereitstellte, nicht mehr wie früher die sozialen Folgen seiner Empfehlungen ignorierte, sondern die Regierung sogar ermutigte, die Leistungen der Sozialversicherungen, vor allem der Arbeitslosenversicherung, auszuweiten.
Die Einführung der Sozialversicherungssysteme war vor allem deshalb erfolgreich, weil sie schrittweise verlief. Erst dreißig Jahre nach der Unfallversicherung gab es die Arbeitslosenversicherung. Auch dass zunächst Beschäftigten in Großunternehmen in den Genuss der Absicherung kamen und die Versicherungsleistungen nach und nach ausgeweitet wurden, hatte den Vorteil, dass Erfahrungen gesammelt und verarbeitet werden und die Versicherungsträger und deren Aufsichtsorgane langsam wachsen konnten. Die Systeme wurden zum großen Teil in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums und überschaubarer Risiken eingeführt. Die Arbeitslosenversicherung etwa wurde im Jahr 1995 eingeführt, als die Arbeitslosenquote bei nur zwei Prozent lag. Als in der Wirtschafts- und Finanzkrise 1997 und 1998 die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellte, konnte die Arbeitslosenversicherung also auf die über Jahre angesammelten Guthaben zurückgreifen. Während der Phase der Einführung oder Ausweitung der Systeme nutzte der Staat die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Druck auf die Bürger auszuüben, die neuen Regelungen zu akzeptieren. Da die damals staatlich kontrollierten Medien kaum dazu in der Lage waren, Themen glaubwürdig zu erörtern, und eine Diskussionskultur kaum entwickelt war, wurden anfängliche konzeptionelle Schwächen oder Umsetzungsdefizite fast nur unter Experten erörtert; die Öffentlichkeit nahm die Probleme kaum wahr. Ohne öffentliche Debatten war es vergleichsweise leicht, die neuen Systeme einzuführen.
Parallel zu den neuen Versicherungen blieben überdies andere Systeme in Kraft und sorgten somit für einen geringeren Druck auf die neu entstehenden Systeme: Die gesetzlich vorgeschriebene Abfindungszahlung in Höhe eines Monatslohns pro Beschäftigungsjahr am Ende der Beschäftigungsverhältnisse verschaffte Rentnern für eine gewisse Zeit finanzielle Spielräume. Und die von Gewerkschaften in Großunternehmen erfolgreich durchgesetzten betrieblich finanzierten Sozialleistungen für Arbeitnehmer und deren Familien hielten die Belastung der neuen Sozialversicherungssysteme zunächst in Grenzen. Koreaner legen ferner viel auf die hohe Kante, die Sparquote ist im internationalen Vergleich recht hoch. Und bislang helfen Familien ihren Mitgliedern in Notlagen. Wie in der Wirtschaftskrise 1997-99 deutlich wurde, ist diese Bereitschaft weitaus größer als in Deutschland. Aufgrund solcher zusätzlichen Absicherungsformen führten Defizite des neu entstehenden formalen Sicherungssystems in Krisenzeiten nicht gleich zu dramatischen Folgen für die Gesellschaft.
Heute sind die Ansprüche der Gesellschaft deutlich gewachsen. Die Zwangsmitgliedschaft wird hinterfragt, institutionelle Reformen, die ehemals von oben dekretiert wurden, sind nur noch gegen heftigen Protest durchsetzbar, wie jüngst der Streit in Korea um Gesundheits- und Rentenreform gezeigt hat. Die Gesellschaft verlangt Transparenz und verantwortliches Handeln von der Regierung, der Wirtschaft und auch von den verantwortlichen Managern der sozialen Systeme, von deren Funktionsfähigkeit es abhängt, ob es den Menschen gut oder schlecht geht. Neue Formen der Problemlösung sind also gefragt. Aber gegenwärtig knirscht es an allen Ecken des Systems.
Auch in Südkorea stehen die Versicherungen vor schwierigen Finanzierungsfragen: Die Lebenserwartung liegt inzwischen deutlich über 70 Jahren und steigt weiter. Folglich steigen die Rentenausgaben. Die Regierung aber missbraucht die Rentenversicherung als billige Refinanzierungsquelle. Die Arbeitslosigkeit erweist sich trotz inzwischen wieder rückläufiger Zahlen als hartnäckiger als erwartet. Ähnlich wie in Europa und Japan könnte sie zum strukturellen Problem werden. Eine zukunftsgerichtete Reform der Krankenversicherung scheint angesichts der Erwartungen der Pflichtmitglieder, der Ärzte, der Apotheker und der Pharmafirmen kaum möglich.
Südkoreas Wachstum war immer durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet. Das starke Wachstum geht aber einher mit hohen Risiken. Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise 1997 und 1998 war insofern kein untypisches Ereignis, sondern eine logische Folge des Entwicklungsweges. Daher ist Südkorea gut beraten, wenn es jene Mechanismen ausbaut, die in Krisen soziale Stabilität ermöglichen.
aus: der überblick 01/2001, Seite 51
AUTOR(EN):
Peter Mayer :
Dr. Peter Mayer ist Wirtschaftswissenschaftler. Er leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Korea. Die FES arbeitet dort unter anderem mit Gewerkschaften, NGOs und Forschungsinstitutionen in den Themenbereichen industrielle Beziehungen und soziale Sicherungssysteme zusammen.