Für jede Milliarde einen Kanonenschuss
Während Haiti immer mehr in der Misere versinkt und die Opposition verzweifelt demonstriert, treibt der haitianische Präsident Aristide ein perfides Spiel mit Frankreich, seinem Volk und der kolonialen Geschichte.
von Odile Jolys
Der Präsident Haitis hat es ganz genau berechnet. 21.685.155.571,48 US-Dollar (circa 20 Milliarden Euro) verlangt er von Frankreich. Das entspricht mit Zins und Zinseszins der Summe, die das gerade unabhängig gewordene Haiti den enteigneten französischen Kolonisten im 19. Jahrhundert als Wiedergutmachung bezahlt hatte.
Die Geschichte begann, als Ende 2002 die sozialistische Abgeordnete Christiane Taubira aus Französisch-Guayana den Premierminister Frankreichs, Jean-Pierre Raffarin, aufforderte, Haiti die historische Zahlung zurückzuerstatten. Die Abgeordnete, die auch die Initiatorin des 2001 verabschiedeten Gesetzes war, das die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschheit anerkannte, drängte die französische Regierung, das Geld nicht einfach in die Staatskasse Haitis fließen zu lassen, sondern einen von der Zivilgesellschaft verwalteten Fonds einzurichten. Catherine Taubira machte dabei deutlich, dass es hierbei nicht um eine Entschädigung für die Kolonisierung oder die Sklaverei ginge, deren Folgen nicht mit Geld auszugleichen seien, sondern um eine Rückerstattung jener Summe, die Haiti im Jahr 1883 bis zum letzten Cent beglichen hatte.
Nachdem die Sklaven unter der Führung von Toussaint Louverture im ehemaligen Saint Domingue die Truppen Napoleons besiegt und dann die erste unabhängige afrikanische Republik im Januar 1804 gegründet hatten, tat sich Frankreich schwer, diesen Zustand zu akzeptieren. Denn Saint Domingue war das Prunkstück der ganzen Kolonialbemühungen Frankreichs und die Quelle vieler Reichtümer in der Metropole gewesen. Als Gegenleistung für die Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis, verlangte das monarchistische Frankreich 1825 eine Entschädigungszahlung von 150 Millionen Goldfrancs für ihre enteigneten Kolonisten. Diese Summe - später auf 90 Millionen Goldfrancs reduziert - wurde im Finanzvertrag eingetragen, der gleichzeitig mit dem Anerkennungsvertrag 1838 unterzeichnet wurde. Der Vertrag ist bis heute gültig und bestimmt die Grundlage der französisch-haitianischen Beziehungen immer noch mit.
Um die Summe zahlen zu können, nahm Haiti bei der damals einzigen in Haiti vertretenen Bank - einer französischen - Kredite auf. Die Tilgung der Summe reichte weit über das mit Frankreich festgesetzte Abschlagsjahr hinaus. Will man den Historikern Glauben schenken, hatte dies verheerende Folge für die Entwicklung Haitis. Auf der ländlichen Bevölkerung lasteten hohe Steuern. Noch 1942 hatte die Regierung Haitis landesweit für die Zeichnung von Staatsanleihen geworben, um endlich die Schulden vollständig tilgen zu können. Der haitianische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert behauptete in einem Beitrag in der Tageszeitung Libération vom 6. Januar 2004, dass der Kredit erst 1972 voll getilgt wurde. Alle sind sich aber einig, dass die Misere Haitis nicht nur auf die Kredittilgung zurückzuführen ist.
Oder besser gesagt fast alle: Am 7. April 2003, dem 200. Todestag von Toussaint Louverture kündigte der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide in seiner Rede zur Würdigung des im französischen Gefängnis gestorbenen Anführers des Sklavenaufstands in Saint Domingue an, Frankreich zur Rückerstattung des damals gezahlten Geldes auffordern zu wollen. Circa 21 Milliarden US-Dollar soll die ehemalige Kolonialmacht zahlen. Das entspricht etwa den addierten haitianischen Staatshaushalten der letzten 50 Jahre.
Frankreich stellte sich vorerst taub und behauptete, keine offizielle Forderung bekommen zu haben. Präsident Jacques Chirac erinnerte die Regierung jedoch an die finanzielle Hilfe, die Frankreich Haiti in den letzten Jahrzehnte zukommen ließ. Aber Aristide spielte das Thema hoch. Es sollte eines der wichtigsten politischen Themen der geplanten Feierlichkeiten zum 200-jährigen Bestehen der Republik Haiti im Jahr 2004 werden.
Seitdem blühen auf den Straßen die Plakate und Transparente für die Wiedergutmachung. Für die Jugendlichen wurde ein Kunstwettbewerb zum Thema organisiert. Aristide verpasst keine Gelegenheit darüber zu sprechen. Am Ende seiner Rede am 17. Oktober 2003 zum Gedenktag von Jean-Jacques Dessalines, des ersten Staatschefs Haitis, erwähnte er den Traum eines Freundes über eine Blutgruppe R+. Der Buchstabe R steht für “Restitution”. In dieser Verbindung von Blut und Restitution sieht der Soziologe Laennec Hurbon eine Rachedrohung an die Feinde der wahren Haitianer (Le Monde vom 30. Dezember 2003).
Mehr und mehr führte Aristide das Wort Reparation in die Debatte ein. Frankreich soll nicht nur das einst bezahlte Entschädigungsgeld zurückerstatten, sondern auch für die Verbrechen der Kolonisierung und Sklaverei finanziell zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Forderungen sind angesichts der Misere Haitis sehr populär. Was die Opposition in Haiti nicht daran hindert, die Strategie des Präsidenten anzuprangern. Eine Gruppe intellektueller Haitianer verbreitete im September 2003 eine Erklärung zur Gedenkfeier, die dazu aufruft, die Feierlichkeiten des Jahres 2004 zu boykottieren. Sie seien “ein Propagandafeldzug, um einer usurpierten Macht Legitimität zu verleihen”. Die Forderung Aristides an Frankreich wird zurückgewiesen und als “ein weiterer verzweifelter Versuch bewertet, um vom eigenen Scheitern abzulenken”. “Die Inkompetenz, die Korruption und der totalitäre Charakter des Regimes haben ihn als Partner für einen Dialog über die Wiedergutmachung historischen Unrechts disqualifiziert.”
Angesichts des Ausmaßes, das die Restitutionsfrage angenommen hat, reagierte die französische Regierung im Oktober 2003 mit der Einberufung eines Ausschusses, der beauftragt ist, Empfehlungen zur Zukunft der französisch-haitischen Beziehungen zu formulieren. Er ist aus französischen Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft (unter anderen aus den Überseegebieten der Karibik) gebildet. Der Vorsitzende ist kein geringerer als der vielseitige Intellektuelle Régis Debray, einst Weggefährte Che Guevaras in Bolivien, der heute im Dienst der französischen Republik steht.
Aristide heizt seinerseits das Thema weiter an. Er hat bekannt gegeben, dass haitianische, amerikanische und französische Anwälte eine offizielle Klage gegen Frankreich vorbereiten und dass ein Teil des Geldes für die im Lauf des Jahres 2004 stattfindenden Gedenkfeiern (sie sollen rund ein Viertel des Staatshaushaltes ausmachen) vorgesehen ist.
Am ersten Januar, dem Tag der Unabhängigkeitsfeier, fand eine Demonstration für die Wiedergutmachung vor der französischen Botschaft statt. In seiner Rede hat Aristide für die Entwicklung des Landes einen 21-Punkte-Fahrplan dargelegt, für dessen Verwirklichung je Themenpunkt eine Milliarde US-Dollar veranschlagt ist. Exakt die Summe, die er von Frankreich verlangt. Er sprach von 21 Kanonenschüssen. Und Aristide findet dafür Verbündete. Laut Le Monde vom 5. Januar 2004 will die afroamerikanische Abgeordnete, Maxine Waters, dem amerikanischen Kongress in dieser Frage einen Resolutionsvorschlag im Sinne Aristides vorlegen.
Mindestens zwei Fragen sind mit dieser Forderung verbunden: Soll Frankreich überhaupt etwas für die damalige Entschädigung zurückerstatten? Wenn ja, in welcher Form und an wen? Die letzte Frage ist sicherlich die spannendere. Denn trotz jahrzehntelanger Entwicklungshilfe ist die Lage in Haiti miserabel. Lohnt es sich überhaupt, weiter an finanzielle Entschädigung zu denken? Und sollte die gegenwärtige Regierung der Empfänger einer solchen Finanzspritze sein?
Am 28. Januar 2004 legte Régis Debray seinen Bericht dem französischen Außenminister Dominique de Villepin vor. Darin ist zu lesen, dass die Beziehungen Frankreichs mit Haiti nicht im Bereich der Außenpolitik anzusiedeln sind. Es ginge um eine gemeinsame Geschichte, Frankreich gedenke seinem Anteil dabei zu wenig. So seien zwei US-amerikanischen Präsidenten schon in Haiti gewesen, aber weder ein französischer Präsident noch ein Premierminister. Um der geteilten Vergangenheit gerecht zu werden, wird Frankreich ermahnt, sich solidarisch mit Haiti zu zeigen - nicht jedoch in Form von Zurückerstattung oder Reparationen. Debray bedauert das häufige Scheitern der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit und das Versickern der Entwicklungshilfegelder in einem Fass ohne Boden, stellt aber ebenfalls fest, dass die wirtschaftliche Sanktionspolitik steril ist und perverse Folgen nach sich zieht. Der Bericht schlägt folglich der französischen Regierung vor, Europa dazu zu bewegen, Verhandlungen mit Haiti zu führen um die europäische Entwicklungshilfe wieder freizugeben.
Ein Witz kursiert derzeit in Haiti: Frankreich entscheidet sich die 21.685.155. 571,48 US-Dollar zu zahlen, aber um die Sache zu vereinfachen, entschließt es sich die Summe abzurunden und die 48 Cent fallen zu lassen. “Um Gottes Willen, nein!”, schreit Aristide, “was würde dann für das Volk übrig bleiben?”
aus: der überblick 01/2004, Seite 77
AUTOR(EN):
Odile Jolys:
Odile Jolys arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Sie hat während der Konzeption und Produktion des Heftes 1/2004 als Hospitantin in der Redaktion des "überblicks" gearbeitet.