"Folter ist an der Tagesordnung"
Basil Fernando ist Direktor der Asian Human Rights Commission (AHRC) und des Asian Legal Resource Centre (AlRC) in Hongkong. Er stammt aus Sri Lanka, wo er von 1980 bis Ende 1989 als Rechtsanwalt praktiziert hat. Unter anderem vertrat er Opfer der Repression im Süden der Insel, wo damals Tausende verschleppt wurden. Die AHRC und das AlRC wurden 1984 bzw. 1986 von Juristen und Experten gegründet, die sich gegen Diktaturen wie die auf den Philippinen und in Pakistan oder gegen den Ausnahmezustand in Indien unter Indira Gandhi wandten. Die AHRC untersucht Menschenrechtsverstöße mit Hilfe von Experten-Missionen, organisiert Kampagnen zugunsten einzelner Opfer, führt Menschenrechtserziehung durch und tritt für Justizreformen ein. Das AlRC wendet sich, zum Beispiel mit Dialogprogrammen, vorwiegend an Richter und Anwälte. Die AHRC ist ein Partner des EED; das AlRC hat Beraterstatus beim “Wirtschafts- und Sozialrat” (ECOSOC) der Vereinten Nationen.
Die Fragen stellte Bernd Ludermann
Wo liegen insgesamt gesehen die größten Menschenrechtsprobleme in Asien?
Eine unserer größten Sorgen betrifft die Folter. Sie ist überall in Asien außer in Hongkong und Südkorea praktisch an der Tagesordnung. Und zwar nicht politisch motivierte Folter, sondern Misshandlung ohne jeden Grund. Einer der letzten Fälle, die ich bearbeitet habe, betrifft einen Maler, der unwissentlich einen Dieb in seinem Haus beherbergte. Als die Polizei den Dieb festnahm, nahm sie auch den Maler mit und wollte von ihm ein Geständnis. Sie verprügelten ihn brutal, doch er hatte nichts zu gestehen. Da holten sie einen Festgenommenen, der an Tuberkulose litt, und brachten ihn dazu, in den Mund des Malers zu spucken. Jetzt hat der Tuberkulose. Solche Art Folter kommt täglich vor. Sie hat nichts damit zu tun, dass das Militär politische Informationen erpresst, sondern ist Symptom eines Versagens des Justizsystems. Die Polizei steht unter großem Druck von oben, Probleme wie kleine Diebstähle zu “lösen”. Dann nehmen sie irgendjemanden fest und prügeln ein Geständnis aus ihm heraus. Deshalb ist der klassische Ansatz, sich auf politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen zu konzentrieren, ungeeignet für die Situation in Asien. Damit verfehlt man die Grundlage für zahllose Rechtsverletzungen.
In einer politischen Krise wird dann ein normalerweise schlechtes System noch schlechter. Zum Beispiel gab es in Bihar, einem der größten Bundesstaaten Indiens, eine starke Bewegung der Armen und Kastenlosen. Doch die oberen Klassen waren zu keinem Zugeständnis bereit. Kämpfe zwischen beiden Gruppen ließen das Rechtswesen zusammenbrechen. Jetzt herrscht dort Straflosigkeit. In anderen Teilen Indiens sieht es nicht so schlimm aus. Doch das Rechtswesen ist auch da ein Problem, wo es besser zu funktionieren scheint, etwa in Thailand. Dort sind nach Angaben der Regierung in den vergangenen zwei Jahren etwa zweitausend Menschen getötet worden, weil ihnen Drogenhandel vorgeworfen wurde.
Getötet während der Untersuchung, oder wurden sie nach einem Urteil hingerichtet?
Nein, ohne jeden Prozess. Die Polizei holte sie zum Verhör, und davon kamen sie nie zurück. Untersuchungen der Regierung selbst haben dann gezeigt, dass die meisten Opfer gar nichts mit Drogenhandel zu tun gehabt hatten. Jemand hatte sie zum Beispiel aus persönlichen Gründen denunziert. Das Vorgehen der Polizei hing offenbar damit zusammen, dass sie von oben Anweisung bekommen hatten, Drogenhändlern eine Lektion zu erteilen.
Ist das eine Folge des Regierungswechsels Anfang 2001 und der schärferen Anti-Drogen-Politik des neuen Premiers?
Ja und nein. Der Mangel an Kontrolle über die Polizei hat in Thailand seit langem Tradition. Im Kleinen sind solche Übergriffe bei der Untersuchung von Straftaten immer vorgekommen. Das ist nicht als so großes Problem sichtbar geworden, bis der neue Premierminister das Vorgehen praktisch billigte. Doch damit ist ja nicht die Polizei plötzlich eine andere geworden. Das Grundproblem ist: Die Polizeisysteme in Asien sind nie so konstruiert worden, dass sie rechenschaftspflichtig sind. Deshalb laufen sie in einer Krise Amok. Sie sind nicht ins Rechtswesen integriert; sowohl die Gesellschaft als auch die Behörden erwarten von der Polizei, dass sie Lektionen erteilt, statt lediglich Beschlüsse von Gerichten auszuführen. Wer dabei illegale Übergriffe begeht, muss in der Praxis keine Strafe fürchten. Nur in Hongkong und Südkorea ist das anders. Wenn da jemand von der Polizei umgebracht wird, kostet das hochrangige Beamte ihre Posten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass dieses Problem eng mit Armut zusammenhängt. Denn die Mittelschichten profitieren von Menschenrechtsverstößen. Wenn zum Beispiel arme Bauern sich in Genossenschaften zusammenschließen, um bessere Preise für ihr Gemüse zu erzielen, dann findet man am Ende ihre Leichen. Die reicheren und mächtigeren Farmer am Ort benutzen die Polizei als Instrument der sozialen Kontrolle, etwa um die Löhne niedrig zu halten. Deshalb muss es bei der Menschenrechtsarbeit darum gehen, eine Art Schutzschirm für die Armen zu schaffen. Wir versuchen Netzwerke aufzubauen, die dafür sorgen, dass Übergriffe nicht mehr als lokal isolierte Vorfälle behandelt werden, sondern sofort andere Gruppen intervenieren und gleichzeitig die Öffentlichkeit das Problem wahrnimmt.
Sie wollen lokale Machtbündnisse zwischen der Polizei und den oberen Schichten aufbrechen?
Genau. Und zwar mit zwei Arten von Allianzen: internationalen Netzwerken und Allianzen am Ort. Dort schließen sich etwa zehn Leute zusammen, um Übergriffe zu prüfen und zu melden, sobald sie davon erfahren. So etwas hat zum Beispiel Arbeitenden auf den Teeplantagen in Malaysia und Sri Lanka geholfen. Diese Gruppe geht auf Zuwanderer zurück, die zur britischen Kolonialzeit auf die Plantagen gebracht wurden, und gehört zur ärmsten und schwächsten der Gesellschaft. Viele Frauen aus dieser Gruppe werden vergewaltigt, ohne dass die Polizei sie schützt, und sie sind zu arm, um die Gerichte anzurufen. Einem der Opfer hat die AHRC einen Anwalt gestellt. Der Fall wurde öffentlich stark beachtet, Gerichte und die Polizei mussten sich mit dem Problem befassen, und innerhalb von wenigen Jahren wurden solche Übergriffe an diesem Ort sehr selten.
Das heißt die Justiz ist hier bereit einzuschreiten?
Ja, sofern man sie unter Druck setzt. Wegen unserer internationalen Kampagne bekamen die Polizei und die Regierung Tausende Briefe. Nachdem internationale Medien darüber berichtet hatten, nahm endlich auch die lokale Presse das Thema auf. Die Behörden waren gezwungen, diese Art anarchische Gewalt nicht mehr tatenlos hinzunehmen.
Anarchische soziale Gewalt ist für Sie das größte Menschenrechtsproblem in Asien?
Ja, wobei politische Gewalt mit der sozialen verknüpft ist. Allerdings gilt das nicht für alle Länder. In Myanmar haben wir es mit umfassender politischer Repression zu tun. Meist liegt aber eine Mischung aus politischer Unterdrückung, sozialer Gewalt sowie Korruption und Versagen der Justiz vor.
In welchen Ländern Asiens sind Ihre Interventionen heute möglich?
In vielen. Die moderne Kommunikationstechnik, etwa E-Mails, hat das sehr erleichtert. Sobald einheimische Beobachter ausreichend geschult sind, verbreiten sich Informationen über Menschenrechtsverletzungen sehr schnell. In einigen Fällen haben wir bereits interveniert, als eine Person noch in einer Polizeiwache gefoltert wurde.
Aber gibt es Länder, in denen das unmöglich ist?
Ja: in Myanmar, China, Vietnam, Laos und Nordkorea. Untersuchungsmissionen, wie wir sie nach Indien, Sri Lanka oder Thailand schicken, sind dort nicht möglich. Die Schwierigkeiten sind aber in diesen fünf Ländern nicht gleich groß. In Vietnam ist unsere Arbeit fast völlig unmöglich. In China können wir in gewissem Umfang indirekt etwas tun, weil das Land relativ offen für Ein- und Ausreisen ist und wir mit Hilfe anderer Organisationen an Informationen kommen. Auch außerhalb dieser fünf Länder wird unsere Arbeit ab einem gewissen Punkt schwierig. Sehr problematisch ist zum Beispiel Malaysia. Dort herrscht eine strenge Überwachung, und das Land hat dafür auch tatsächlich die Mittel. Die Behörden wissen sehr schnell, was etwa auf einer Konferenz gesagt wird. In Ländern wie Myanmar kann man die Armut ausnutzen und zum Beispiel an Informationen kommen, wenn man etwas mitbringt; das funktioniert in Malaysia nicht.
Gibt es in Malaysia nicht sehr aktive NGOs?
Das ist richtig. Aber gleichzeitig droht scharfe Repression. Mehrere unserer Freunde in Malaysia sind auf Anordnung des Premierministers ins Gefängnis geworfen worden. Nach zwei, drei Jahren wurden sie entlassen, ohne dass es einen Prozess gegeben hätte. Und die Zahl der Morde in den Polizeiwachen ist hoch - fast einer pro Woche. Dabei ist Malaysia reich; die Polizei ist nicht unterbezahlt oder erst im Aufbau. Sondern ihr Verhalten wird geduldet. Man kann in Malaysia einen Polizisten praktisch nicht vor Gericht bringen.
Können Sie in Nepal arbeiten?
Nepal ist insofern offen, als gewissermaßen Anarchie herrscht. Der Informationsfluss ist frei. Vor etwa zwei Monaten war ich dort und wurde innerhalb von ein paar Tagen mehrfach interviewt, ohne dass irgendwer eingeschritten wäre. Wenn ich mich in Indien öffentlich so äußern würde, würde ich sofort gefragt: “Was machen Sie eigentlich in unserem Land?”
Aber können Sie etwas bewirken?
Kaum. Man kann in Nepal alles sagen, aber wenig ändern. Immerhin: Wenn man in Fällen von Folter oder illegaler Inhaftierung internationale Proteste auf den Weg bringt, dann werden in vielen Fällen die Betroffenen freigelassen. Allerdings sind etwa 60 der 80 Provinzen unter der Kontrolle der Maoisten.
Und können Sie in von Rebellen beherrschten Gebieten etwas tun?
Nein. Das ist der schwierigste Teil der Menschenrechtsarbeit in Asien. Rebellen wie die in Nepal bringen keinen sozialen Fortschritt, und sie wollen auch keinen Frieden. Wir kritisieren sie ständig, aber wir können praktisch keinen Einfluss nehmen. Auch nicht auf die Tamil Tigers in Sri Lanka.
Wie versuchen Sie in China die Menschenrechte zu fördern?
Wir haben seit sieben Jahren ein Gesprächsprogramm mit Richtern in China. Die sagen selbst, dass das stalinistische Rechtswesen vor allem den Staat verteidigen sollte. Viele Richter wollen dieses System loswerden. Es ist einer Marktwirtschaft nicht angemessen. Aber nach wie vor fehlt in China eine echte Gewaltenteilung. Die Justiz kann sich mit zivilrechtlichen Streitigkeiten befassen, mit Wirtschaftsrecht und bis zu einem gewissen Grad mit dem Verhalten der Verwaltung. Aber die Vorstellung, dass die Justiz auch Konflikte zwischen dem Staat und den Individuen beilegt, ist noch nicht Bestandteil des Systems. Das alte stalinistische Modell der Justiz ist in Auflösung, aber es wird aus politischen Gründen nicht preisgegeben.
Chinesische Richter suchen aber den Austausch in Sachen Menschenrechte?
Ja. Und nicht nur das. Zum ersten Treffen mit ihnen fuhren wir mit der Vorstellung, dass wir lieber nicht zu offen reden sollten, um den Kontakt nicht gleich zu gefährden. Aber dann wurden uns eine Reihe Fragen gestellt, von denen wir erwartet hatten, dass sie erst einmal tabu wären. Ein Richter in Südchina hat uns einen Prozess beobachten lassen, dann die Sitzung unterbrochen und um unseren Kommentar gebeten. Auf unsere kritischen Einwände lächelte er und sagte, ich weiß das alles, aber ich kann nichts dagegen tun.
Ist auch Pakistan ein besonders schwieriges Land?
In Pakistan machen wir Menschenrechtsarbeit, ohne auf die Justiz zurückgreifen zu können. Es gibt kein oberstes Gericht, an das man appellieren könnte. Das einzige Mittel ist hier internationaler Druck, damit Missachtungen der Menschenrechte politisch abgestellt werden.
Welche Rolle spielen Religionsgemeinschaften in der Arbeit der AHRC?
Gespräche zwischen Vertretern verschiedener Religionsgruppen darüber, dass es keinen Grund gibt sich zu bekämpfen, haben nach unserer Erfahrung nicht wirklich zu mehr Toleranz geführt. Daher ist unser Ansatz, gemeinsame Probleme zusammen anzugehen. Zum Beispiel appellieren wir an Religionsführer, sich mit für die Abschaffung der Folter einzusetzen, die ja von allen Religionen abgelehnt wird. Auch die Missachtung der Frauen gehört zu diesen Themen.
Kann man dafür zum Beispiel islamische Geistliche gewinnen?
Unter denen gibt es große Unterschiede. Das Verhältnis des Islam in Asien zu den Menschenrechten ist in den Ländern problematisch, die wie Pakistan einen einflussreichen islamischen Klerus besitzen. Ein Teil davon wendet sich gegen Frauenrechte, gegen religiöse Toleranz und gegen ein säkulares Justizwesen. Er besteht auf der Scharia, dem islamischen Recht. Das hat aber nicht nur mit der Ablehnung der Menschenrechte zu tun, sondern auch mit der Verteidigung sozialer Interessen.
Weil die Geistlichen selbst Richter sind?
Genau. Das säkulare und das islamische Rechtswesen bestehen in Pakistan nebeneinander, doch islamische Gerichte können Urteile von säkularen ändern. Es gibt in Asien aber auch Muslime, die versuchen, die Idee der Menschenrechte in der Sprache des Islam auszudrücken. In gewisser Hinsicht sind die Menschenrechte in der Hindu-Gesellschaft sogar schwieriger zu verankern als in der muslimischen. Nicht aufgrund religiöser Doktrinen, sondern weil die Kastenordnung so stark mit dem Hinduismus verquickt ist. Man kann sich mit Brahmanen, also Angehörigen der Priesterkaste, schnell abstrakt darauf einigen, dass alle Menschen gleich sind und die Natur für alle da ist. Aber ihren Nachbarn aus der Gruppe der Kastenlosen als Gleichen behandeln - das ist zu viel für sie. Das Rechtsgefühl der oberen Kasten in Indien ist ähnlich rückständig wie in Südafrika zur Zeit der Apartheid.
Wird die AHRC von Religionsgruppen oder Kirchen in Asien unterstützt?
Die Idee, dass alle Religionen bei der Förderung der Menschenrechte zusammenarbeiten sollten, lag der AHRC von Beginn an zugrunde. Die Gründer der AHRC sind anfangs von der Christian Conference of Asia zusammengebracht worden.
Hat das die Arbeit der AHRC belastet? Christen sind ja in den meisten Ländern Asiens eine Minderheit.
Wir sind keine christliche Organisation und treten nicht so auf. Das war nie ein Problem. Entscheidend ist, ob das Engagement für die Menschenrechte als authentisch erscheint oder als Mittel der Glaubensverkündigung. Ein größeres Problem als die Religion ist, dass man nicht als Propagandist des Westens erscheinen darf oder als jemand, der sich für Menschenrechte einsetzt, weil er von westlichen NGOs dafür bezahlt wird.
Hängt das mit Misstrauen gegen so genannte westliche Werte zusammen?
Nicht gegen Werte, sondern gegen Interessen des Westens. Viele in Asien argwöhnen, dass die Kritik sich weniger danach richtet, wo Menschenrechte verletzt werden, und mehr danach, welche Regierungen den Großmächten missfallen. Die Zurückweisung der Menschenrechte als westliche Werte war in Asien nie populär, sondern war ein Argument bestimmter Regierungen. Heute vertritt das kaum jemand mehr.
Geht der langfristige Trend in Asien in Richtung mehr Beachtung der Menschenrechte?
Das kann man sagen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass das Bildungsniveau wesentlich höher geworden ist. Es gibt kaum mehr Bauern, die keine Ahnung haben, was außerhalb ihres Dorfes vorgeht. Auch die Unterwerfung unter die Obrigkeit und die scharfe Unterscheidung von Arm und Reich, die in Asien sehr ausgeprägt waren, nimmt ab. Die Achtung für die Menschenrechte in der Gesellschaft hat zugenommen. Keine großen Fortschritte gibt es bei der praktischen Beachtung dieser Rechte durch die Staaten. Immerhin haben aber alle außer Malaysia und Singapur inzwischen den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte unterzeichnet. Es gibt also Fortschritte auch auf der Ebene der Staaten - mit großen Unterschieden von Land zu Land.
aus: der überblick 04/2004, Seite 125