Ein ehemaliger Soldat fordert im Internet Pekings Parteiführung heraus
Li Xinde schiebt die Tassen auf dem Tisch beiseite und öffnet seinen schwarzen Laptop. "Mit diesem kleinen Programm kann man die Internetblockaden der Behörden umgehen", erklärt er.
von Harald Maass
Seine unterlaufenen Augen kleben jetzt auf dem Bildschirm, die Finger fliegen über die Tastatur. Nach ein paar Minuten hat er es geschafft. Auf dem Schirm erscheinen Berichte über Korruptionsfälle, über ausgebeutete Bauern und Fotos von korrupten Kadern. Li Xinde hat die Artikel selbst geschrieben und ins Netz gestellt. Der 46- Jährige aus der Provinz Anhui hat sich selbst zum Internet-Reporter und Korruptionsjäger erklärt. "Die Leute, die etwas auf dem Kerbholz haben, fürchten mich", sagt er selbstbewusst.
Vor drei Jahren begann Li, im Internet über Korruptionsfälle und Ungerechtigkeiten in der Volksrepublik zu berichten. Weil er dabei weder auf Kader der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) noch auf Zensurrichtlinien Rücksicht nimmt, ist seine Webseite mit dem Titel "Chinas Überwachungsnetz durch öffentliche Meinung" (www.yuluncn.com) meistens gesperrt. Li, der mit seinen zerzausten Haaren und dem braun-schwarzen Strickpullover selbst wie ein Provinzkader aussieht, hält das nicht ab. "Wenn sie eine Seite dicht machen, mache ich einfach eine neue auf", sagt er.
Li schreibt über die Themen, die in den staatlichen Medien tabu sind. Er berichtet über geldgierige lokale Parteikader. Über Geschäftsleute, die bei wirtschaftlichen Disputen entführt werden. Über Polizisten, die als Mörder unterwegs sind. Seine Geschichten veröffentlicht er auf 50 Webseiten und Blogs je nachdem, was davon gerade nicht gesperrt ist. "Der Vorsitzende Mao nannte das die Spatzen-Taktik", sagt Li, der als junger Mann bei der Volksbefreiungsarmee diente und später als fahrender Händler für Heilkräuter durch die Provinzen tingelte. "Bleibe klein und unabhängig, sei immer unterwegs, und entscheide selbst, wann du angreifst und wann du wegrennst", erklärt Li.
Kaum eine Woche vergeht ohne einen Korruptionsskandal in China. Ende April wurde der führende Raketentechniker Li Jianzhong zu lebenslanger Haft verurteilt. Er soll 3,5 Millionen Yuan (umgerechnet rund 350.000 Euro) an Bestechungsgeldern erhalten haben. Im gleichen Monat nahmen Ermittler fünf leitende Mitarbeiter einer Bank of China-Filiale in der Provinz Heilongjiang wegen Unterschlagung fest. Li Youcan, der frühere Vizedirektor des Handelsbüros der Provinz Hebei, wurde wegen Bestechlichkeit hingerichtet. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Nach Angaben der Disziplinarkommission der KP wurden im vergangenen Jahr nicht weniger als 115.143 Parteikader bestraft.
Trotz der zum Teil drakonischen Strafen bleiben die meisten Korruptionsfälle jedoch unaufgedeckt. Chinas Kader geben pro Jahr mehr als 600 Milliarden Yuan für Dienstautos und Festbankette aus fünf Mal mehr als das Bildungsbudget der Volksrepublik, berichtete die "China Jugendzeitung". Das Geld dafür holen sie sich oft bei den Bauern. "Lokale Kader sind wie eine Herde Wölfe, die um ein Stück Fleisch kreisen", kommentierte der Sozialexperte Zhang Ming beim Volkskongress im März. Von jedem Budget zweigten sie zuerst etwas in die eigene Tasche ab. Die staatlich zensierten Medien dürfen über diese Betrugsfälle meist nicht berichten.
Li Xinde kämpft deshalb als Ein-Mann-Unternehmen gegen die Korruption. Die meiste Zeit des Jahres ist er mit Zügen im Hinterland unterwegs, um neue Fälle aufzudecken und sich mit Informanten zu treffen. Doch Lis Artikel und Tagebücher im Internet, so schillernd und skandalös wie das chinesische Kaderleben, sind effektiv. Bis zu 400 Emails bekomme er am Tag, berichtet Li. "Die Leute schicken mir ihre Fälle und bitten mich, darüber zu berichten." Seinen bisher größten Fall lasen Hundertausende von Internetnutzern, und er machte selbst in den Staatsmedien Schlagzeilen. Li deckte die Machenschaften eines Vizebürgermeisters in Jining (Provinz Shandong) auf, der Millionenbeträge an öffentlichen Geldern unterschlagen hatte. Das Foto, das Li neben seinen Artikel stellte, zeigte den Vizebürgermeister nur mit Shorts bekleidet und vor seiner Geliebten kniend. "Der Kader sitzt heute mit einer lebenslangen Strafe hinter Gittern", berichtet Li zufrieden.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Li mit seinen Anti-Korruptions-Blogs bewegt. Kaum ein anderes Land zensiert die Medien und das Internet so scharf wie die Volksrepublik. In den Zeitungen und Rundfunkstationen, die laut Gesetz in Staatsbesitz sein müssen, wachen Parteisekretäre über jedes veröffentlichte Wort. 40.000 Cyberpolizisten und eine aufwändige Filtertechnik sorgen dafür, dass im Internet nur der Partei gefällige Meinungen vertreten sind. Dabei beugen sich auch ausländische Internetfirmen dem Druck Pekings. Google stellte unlängst eine chinesische Version seiner Suchmaschine ins Internet, die politisch sensible Seiten wie etwa über das Tiananmen-Massaker oder Menschenrechtsverletzungen gar nicht erst anzeigt. Yahoo soll nach Informationen der Journalistenorganisation "Reporter ohne Grenzen" in mindestens zwei Fällen private Emails chinesischer Bürgerrechtler an die chinesische Staatssicherheit weitergegeben haben. Die beiden Bürgerrechtler sitzen heute im Gefängnis.
Seit Ende vergangenen Jahres zieht Pekings Führung die Schrauben der Zensur noch enger. Die Stimmung in den Redaktionen ist gespannt. Auf Druck der Propagandaabteilung der KP, der höchsten Zensurbehörde des Landes, wurden mehrere kritische Redakteure von Staatszeitungen entlassen oder strafversetzt. Als die Zensoren vergangenen Monat die populäre Beilage "Gefrierpunkt" der "China Jugendnachrichten" dicht machten, bislang ein Forum für kritische Intellektuelle, rumorte es bis in die Spitzen der Partei. "Die Geschichte zeigt, dass nur totalitäre Systeme eine Zensur der Nachrichten brauchen", kritisierten der ehemalige Sekretär von Mao Zedong, Li Rui, und der ehemalige Propagandachef Zhu Houze in einem offenen Brief an Staatschef Hu Jintao. Die Unterdrückung von Meinungen werde "zwangsläufig zu mehr Unruhen" führen, warnten die Altkader.
Spürt Li den wachsenden Druck? "Bislang hat mich noch kein Regierungsbeamter angerufen und gesagt, dass ich aufhören muss", sagt er. Eine völlige Kontrolle der öffentlichen Meinung sei in China nicht mehr möglich. "Das wissen auch die obersten Führer." Es klingt ein bisschen wie ein Katz-und-Maus-Spiel, wenn Li über seinen täglichen Wettstreit mit den Zensoren spricht. "Sie machen ihre Arbeit und blockieren meine Webseiten. Mich hindert das nicht wirklich." Manchmal benachrichtigen die Zensurbeamten Li per Email, ehe sie einen seiner Blog-Beiträge löschen. "Ich rufe sie dann an und frage warum." Doch Li weiß, dass er vorsichtig sein muss. Vorsichtig, mit seinen Berichten nicht einem hohen Führer in Peking auf die Füße zu treten. Vorsichtig, nicht über Politik zu reden. "Ich bin der Partei gegenüber sehr, sehr loyal", sagt Li, der seit seiner Jugend KP-Mitglied ist. Dann schließt er auf seinem Computer das Programm, mit dem er und andere chinesische Internetnutzer die Zensur im Netz umgehen. Es heißt Ziyou men "Tor zur Freiheit".
aus: der überblick 02/2006, Seite 28
AUTOR(EN):
Harald Maass
Harald Maass ist promovierter Politologe und arbeitet seit mehreren
Jahren als China-Korrespondent der Frankfurter
Rundschau in Peking.
Seine Reportagen sind bei
Frederking & Thaler als Bücher erschienen: China
im Wandel (2001) und Kinder des himmlischen
Friedens (2002).