Mit dem Begriff Zivilgesellschaft sind falsche Vorstellungen und unrealistische Erwartungen verbunden
"Zivilgesellschaft" ist weltweit zum Modewort geworden. Sie gilt als Schlüssel zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg, als Antriebskraft für die Demokratisierung und Wegweiser für Entwicklungsländer. Doch das Konzept wird mit Erwartungen stark überfrachtet. Viele gängige Vorstellungen über die Zivilgesellschaft sind bei näherem Hinsehen fragwürdig.
von Thomas Carothers
Eine verbreitete Annahme über Zivilgesellschaft ist, dass das Konzept eine neue Erfindung sei. Hier tut Aufklärung not. Der Ausdruck "Zivilgesellschaft" - oder "Bürgergesellschaft", "bürgerliche Gesellschaft" (civil society) - lässt sich über die Werke Ciceros und anderer römischen Denker bis zu den alten griechischen Philosophen zurückverfolgen; allerdings war der Begriff in seiner klassischen Lesart gleichbedeutend mit Staat.
Die moderne Vorstellung von Zivilgesellschaft entstand in der schottischen und kontinentaleuropäischen Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Theoretiker wie Thomas Paine oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel versuchten mit der Zivilgesellschaft eine dem Staat benachbarte, aber doch von ihm getrennte Sphäre zu erfassen - einen Bereich, in dem sich die Bürger gemäß ihrer eigenen Interessen und Wünsche zusammenschließen. In dieser neuen Vorstellung spiegelte sich ein Wandel der Wirtschaftsverhältnisse: das Aufkommen des Privateigentums, die Konkurrenz auf dem Markt und die Bourgeoisie. Die Idee erwuchs auch aus dem immer lauter werdenden Verlangen nach Freiheit, wie es sich in der Französischen und Amerikanischen Revolution gezeigt hatte.
Als die politischen Philosophen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Augenmerk auf die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Industriellen Revolution richteten, kam der Begriff der Zivilgesellschaft außer Gebrauch. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam er wieder in Mode - wiederbelebt von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der mit Zivilgesellschaft einen besonderen Ansatz für unabhängiges politisches Handeln bezeichnete und damit einen wichtigen Bereich im Kampf gegen die Tyrannei. Obwohl sich Gramsci mit rechtsgerichteten Diktaturen befasst hatte, beeinflussten seine Ideen in den siebziger und achtziger Jahren Dissidenten und Bürgerrechtler ganz unterschiedlicher Couleur in Osteuropa ebenso wie in Lateinamerika. Tschechische, ungarische und polnische Aktivisten beriefen sich auf die Zivilgesellschaft und verschafften dem Begriff eine geradezu heroische Qualität, als 1989 die Berliner Mauer fiel.
In den neunziger Jahren geriet die Zivilgesellschaft plötzlich zur Zauberformel für jeden, vom Präsidenten bis zum Politikwissenschaftler. Der weltweite Trend zu mehr Demokratie öffnete der Zivilgesellschaft in ehemaligen Diktaturen einen Spielraum. In den USA und Westeuropa erwuchs aus einer allgemeinen Parteienmüdigkeit das Interesse an der Zivilgesellschaft als Triebkraft der gesellschaftlichen Erneuerung. In den Entwicklungsländern gaben Privatisierungen und andere marktwirtschaftliche Reformen der Zivilgesellschaft die Chance, einzuspringen, wo Regierungen ihren Einfluss zurücknahmen. Und neue Informationstechnologien machten eine Vernetzung und Stärkung der Bürger möglich. So wurde die Zivilgesellschaft zum Bestandteil des Zeitgeistes in der Ära nach dem Kalten Krieg.
Eine zweite Annahme über die Zivilgesellschaft lautet, dass nichtstaatliche Organisationen (NGOs) ihren Kern bilden. Das ist nicht ganz richtig. Die Begeisterung, die der Begriff Zivilgesellschaft zurzeit auslöst, erwächst zum großen Teil aus dem begeisterten Interesse an (NGOs), vor allem an solchen, die sich als Anwalt des öffentlichen Interesses verstehen - für die Umwelt, Menschen- und Frauenrechte, Wahlbeobachtung, Korruptionsbekämpfung und anderes "Gutes". Die Zahl solcher Gruppen hat in den vergangenen Jahren vor allem in Ländern, die im Übergang zur Demokratie sind, stark zugenommen. Dennoch ist es falsch, die Zivilgesellschaft mit NGOs gleichzusetzen. Richtig verstanden umfasst der Begriff Zivilgesellschaft alle Organisationen und Vereinigungen jenseits des Staates (der auch politische Parteien einschließt) und des Marktes. Dazu gehören also auch Interessengruppen wie Gewerkschaften, Berufsverbände, Handelskammern und ethnische Verbände. Auch Vereinigungen, die kein besonderes soziales oder politisches Ziel verfolgen, gehören dazu wie religiöse Organisationen, Studentengruppen, Kultur- und Sportvereine.
NGOs spielen in Industrie- und Entwicklungsländern eine wichtige und wachsende Rolle. Sie gestalten die Politik mit, indem sie Druck auf Regierungen ausüben und den politischen Entscheidungsträgern Expertenwissen zur Verfügung stellen. Sie fördern die politische Partizipation und politische Bildung. In vielen Ländern treten die NGOs in ihrer Bedeutung jedoch hinter eher traditionelle Elemente der Zivilgesellschaft zurück. Religiöse Organisationen oder Gewerkschaften besitzen oft eine solide Basis in der Bevölkerung und gesicherte finanzielle Grundlagen im eigenen Land; daran fehlt es anwaltschaftlichen NGOs meistens, vor allem in Ländern im Übergang zur Demokratie. Der florierende Sektor der NGOs in diesen Ländern wird oft von Gruppen beherrscht, die sich aus der Elite rekrutieren und kaum Verbindungen zu den Bürgern unterhalten, in deren Namen sie angeblich tätig sind. Sie können zudem ihren Geldbedarf oft nicht im eigenen Land decken, sondern sind auf internationale Geldgeber angewiesen.
Eine dritte Vorstellung besagt, dass es in der Zivilgesellschaft warm und heimelig ist. Aber würden Sie ähnlich gern mit der Mafia oder Milizionären aus Montana zusammensitzen wie mit den Leuten vom Elternbeirat in der Schule Ihrer Kinder? Auch die sind nämlich Teil der Zivilgesellschaft. Manche Verfechter der Zivilgesellschaft haben die mutige Rolle, die Bürgerrechtler im Kampf gegen den Kommunismus in Osteuropa gespielt haben, verallgemeinert und daraus die irrige Vorstellung abgeleitet, in der Zivilgesellschaft gebe es nur edle Anliegen und ernsthafte Gruppen mit hehren Absichten. Die Zivilgesellschaft ist jedoch immer und überall eine oft verwirrende Ansammlung aus guten, schlechten und einfach verschrobenen Menschen. Die Erkenntnis, dass sich in jeder Gesellschaft Leute zusammentun, um nicht nur lobenswerte, sondern auch bösartige Ziele zu verfolgen, ist für die Entmystifizierung des Begriffs Zivilgesellschaft entscheidend.
Die Annahme, die Zivilgesellschaft stehe an sich für das Gemeinwohl, ist auch aus zwei anderen Gründen irrig. Obwohl Aktivisten in Bürgergruppen oft der Meinung sind, sie setzten sich für das Gemeinwohl ein, ist stets hochgradig umstritten, was das Interesse der Allgemeinheit ist. Saubere Luft ist ein öffentliches Gut, aber niedrige Energiekosten ebenfalls. Das Gleiche könnte man über den freien Welthandel und die Sicherung der Arbeitsplätze zuhause oder über die Redefreiheit und das Recht auf Schutz vor übler Nachrede sagen. NGOs, die sich mit nur einem einzigen Anliegen beschäftigen, nehmen außer dem eigenen Programm oft nichts anderes wahr; an einem Ausgleich unterschiedlicher Ansichten über das Gemeinwohl sind sie nicht interessiert. Auseinandersetzungen über das, was im Interesse der Allgemeinheit liegt, werden nicht zwischen der Zivilgesellschaft auf der einen Seite und irgendwelchen bösen Buben auf der anderen Seite ausgetragen, sondern zwischen Interessengruppen in der Zivilgesellschaft selbst.
Darüber hinaus befasst sich die Zivilgesellschaft durchaus auch mit handfesten wirtschaftlichen Interessen. Vom Mieterverein bis zu den Gewerkschaften mögen die Gruppen zwar nicht profitorientiert sein, aber sie arbeiten eifrig daran, die ökonomischen Belange ihrer Mitglieder durchzusetzen. Manche Gruppen stehen für höhere, das heißt nicht materielle, Prinzipien und Wertvorstellungen, aber ein Großteil der Gruppierungen verfolgt häufig private oder eigennützige Ziele.
Eine vierte verbreitete Vorstellung lautet, dass eine starke Zivilgesellschaft die Demokratie festigt. Ein verlockender Gedanke. Eine vitale Zivilgesellschaft leistet oft wertvolle Hilfe bei der Entwicklung demokratischer Verhältnisse. Sie kann den Staat in die Schranken weisen, sie kann dafür sorgen, dass die Interessen der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden, sie kann die Beteiligung am politischen Prozess fördern. Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass eine starke Zivilgesellschaft eine gefährliche politische Schwäche widerspiegeln kann. Sheri Berman von der Princeton University hat eine ernüchternde Untersuchung über die Rolle der Zivilgesellschaft in der Weimarer Republik vorgelegt. In den zwanziger und dreißiger Jahren gab es in Deutschland ein ungewöhnlich reiches Vereinsleben. Viele Deutsche gehörten Berufsverbänden und Kulturvereinen an, die zu den wichtigsten Stützen der prodemokratischen Zivilgesellschaft gerechnet werden. Berman argumentiert jedoch, dass diese außerordentlich aktive Zivilgesellschaft die Demokratie und die liberalen Wertvorstellungen nicht nur nicht gestärkt, sondern geradezu untergraben hat. Schwache politische Institutionen vermochten auf die Forderungen der vielen Bürgergruppen nicht einzugehen, was diese veranlasste, mit nationalistischen und populistischen Gruppen und schließlich mit der Nazipartei zusammenzugehen. Am Ende erleichterte das dichte Geflecht der Zivilgesellschaft den Nazis sogar den raschen Aufbau eines dynamischen politischen Apparats.
Aber selbst für gefestigte Demokratien mit starken politischen Institutionen gibt es gute Gründe, der einfachen Vorstellung "je mehr Zivilgesellschaft, desto besser" zu misstrauen. Schon in den sechziger Jahren haben Experten davor gewarnt, dass die ausufernde Zahl der Interessengruppen in reifen Demokratien das Funktionieren der repräsentativen Organe lähmen und das Ergebnis zu Gunsten der Reichen mit guten Verbindungen - der gut Organisierten - verzerren könnte. Als in den neunziger Jahren die Zahl der Interessengruppen weiter stark zunahm, wurden auch die Warnungen vor einer "Demosklerose" lauter.
Fünftens heißt es, dass die Demokratie für eine starke Zivilgesellschaft sorge. Auch dafür gibt es aber keine Garantie. Japan ist seit vielen Jahrzehnten eine stabile Demokratie, aber die Zivilgesellschaft ist dort weiterhin relativ schwach - vor allem was unabhängige Bürgergruppen angeht, die sich mit Umwelt- und Verbraucherschutz, Menschenrechts- und Frauenfragen befassen (Themen, die Amerikanern und Europäern am Herzen liegen). Selbst in einem "urdemokratischen" Land wie Frankreich nimmt die Zivilgesellschaft gegenüber dem starken Zentralstaat nur einen hinteren Platz ein. Spanien, ein Beispiel für ein Land mit jüngerer demokratischer Tradition, hat ein recht schwaches Vereinsleben. Politische Parteien und Wahlen sichern den politischen Pluralismus; sie können eindeutig auch in Ländern mit schwacher Zivilgesellschaft funktionieren.
Einige politische Beobachter in den USA kritisieren die Verhältnisse in Japan, Frankreich, Spanien und anderen Ländern, wo die Partizipation der Bürger wenig entwickelt ist: Das seien allenfalls verkümmerte Demokratien, weil ihnen fehle, was Amerikaner für ein optimales Maß an staatsbürgerlichem Engagement halten. Viele Japaner, Franzosen und Spanier halten dagegen, dass ihre politischen Systeme besser mit ihren eigenen Traditionen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat in Einklang stünden und es ihren Regierungen erlaubten, öffentliche Mittel rationaler und mit weniger Rücksicht auf Gruppeninteressen zu verteilen. Die These, eine Demokratie sei so lange keine wirkliche Demokratie, wie sie nicht über eine Zivilgesellschaft nach amerikanischem Muster verfüge, ist offenkundig nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Der Glaube an die Zivilgesellschaft darf nicht in Intoleranz gegenüber anders gearteten Demokratien münden.
Sechstens halten Enthusiasten der Zivilgesellschaft diese nicht nur für eine Garantie auf politische Tugend, sondern auch auf ökonomischen Erfolg, nach dem Motto "alles Gute passt zusammen". Eine aktive, starke Zivilgesellschaft, so erklären sie, könne nützliche Beiträge zur Wirtschaftspolitik leisten, die Privatinitiative stärken und dazu beitragen, dass der Staat die Wirtschaft nicht erdrückt. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Zivilgesellschaft nicht immer so klar ist.
Ein Vergleich zeigt das. Südkoreas Wirtschaftswunder wurde auf dem Rücken einer unterdrückten Zivilgesellschaft errungen, besonders einer unterjochten Arbeiterschaft. Erst als in den achtziger Jahren das Militär mehr Freiheit zuließ, blühte die Zivilgesellschaft auf. Gewerkschaften, Studentengruppen und religiöse Verbände drängten mutig und wirksam auf eine Demokratisierung. Dennoch kann man ihnen nicht das Verdienst daran zusprechen, dass Korea eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in den letzten 50 Jahren geworden ist. Bangladesch dagegen verfügt über eine reiche Zivilgesellschaft. Tausende von NGOs, politischen Initiativen und sozialen Hilfsorganisationen sind auf nationaler und lokaler Ebene tätig. Aber aus diesem Reichtum an NGOs erwuchs den Menschen bisher kein Wohlstand. Bangladesch bleibt eines der ärmsten Ländern der Welt.
Andererseits kann eine entwickelte Zivilgesellschaft zum natürlichen Verbündeten einer erfolgreichen Marktwirtschaft werden. Wenn die Bürger eines Landes einen gewissen Lebensstandard erreicht haben, verfügen sie über mehr Zeit, Bildung und materielle Mittel, um Vereine und Gruppierungen in ihrem Land zu unterstützen und in ihnen mitzuwirken. Viele Bereiche der Zivilgesellschaft können wirtschaftliche Entwicklung fördern, indem sie vernünftige Politik einfordern und den Austausch von Wissen und Information in der Gesellschaft beschleunigen. Aber wie im Verhältnis von Zivilgesellschaft und Demokratie gibt es auch hier keine festen Kausalgesetze. Der Weg zum wirtschaftlichen Erfolg führt nicht notwendigerweise über die Zivilgesellschaft, und eine starke Zivilgesellschaft kann sehr wohl in einer relativ schwachen Wirtschaft bestehen und umgekehrt. Mehr noch: Zu viel oder die falsche Art Zivilgesellschaft kann für die Wirtschaft sogar schädlich sein. So glauben beispielsweise einige Wirtschaftswissenschaftler, dass eins der größten Hindernisse für das Wachstum und die Stabilität der Wirtschaft in Lateinamerika die Gewerkschaften sind, die das Rückgrat der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft darstellen.
Siebtens heißt es oft, dass eine echte Zivilgesellschaft vom Staat kein Geld nimmt. Tatsächlich nicht? Wenn zivilgesellschaftliche Gruppierungen in einer Diktatur eine Kampagne für mehr Freiheit starten, dann ist ihre völlige finanzielle und sonstige Unabhängigkeit vom Staat entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit. In demokratischen oder sich demokratisierenden Ländern gelten jedoch andere Regeln. Hier bekommen viele Gruppen der Zivilgesellschaft staatliche Zuwendungen. In einigen westeuropäischen Ländern ist die staatliche Unterstützung der Zivilgesellschaft weit verbreitet und kommt selbst Gruppen zugute, die - wie Menschenrechtsorganisationen und Umweltschutzgruppen - Staatsorganen kritisch entgegentreten. Auch in den USA ist die staatliche Unterstützung für NGOs höher und weiter verbreitet als gemeinhin angenommen. Der Staat ist laut einer Untersuchung der John Hopkins Universität für eine NGO als Geldgeber fast zweimal wichtiger als private Unterstützer.
Achtens wird gesagt, der Aufstieg der Zivilgesellschaft bedeute den Niedergang des Staates. Das ist mit Sicherheit falsch. Das Aufblühen der Zivilgesellschaft verleitet manche, eine Zukunft fast ohne Staat zu erwarten - dass minimalistische Staaten sich zurücknehmen, während mächtige nichtstaatliche Gruppierungen einer neuen, tugendhaften Ordnung zum Durchbruch verhelfen. Diese Vision ist ein Trugbild. Gruppen der Zivilgesellschaft können die staatliche Politik weit wirkungsvoller mitgestalten, wenn der Staat über die Macht verfügt, politische Programme vorzulegen und umzusetzen. Gute Lobby-Arbeit von NGOs wird deshalb darauf zielen, den Staat zu stärken, nicht ihn zu schwächen. Nichts behindert die Entwicklung der Zivilgesellschaft so sehr wie ein schwacher, lethargischer Staat. In Mittel- und Osteuropa ist seit 1989 die Zivilgesellschaft in Ländern, wo sich die Regierungen als relativ tatkräftig und kompetent erwiesen haben wie Polen oder Ungarn, gut vorangekommen, während ihre Entwicklung zurückgeblieben ist, wo Staaten in Ineffizienz und Inkompetenz verhaftet waren wie in Rumänien und zeitweise in Bulgarien.
Außer in Diktaturen können Staaten bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielen - etwa indem sie klare, praktikable Rahmenbedingungen für nichtstaatliche Organisationen schaffen, indem sie steuerliche Anreize für die finanzielle Unterstützung nicht profitorientierter Gruppen schaffen, indem sie für Transparenz bei den Entscheidungsprozessen sorgen und indem sie Partnerschaften mit NGOs eingehen. Die Zivilgesellschaft kann und soll den Staat herausfordern, sie soll Störfaktor sein und sich ihm zuweilen auch entgegenstellen. Aber sie und der Staat brauchen einander; und in der besten aller Welten gedeihen sie gemeinsam und entwickeln sich nicht auf Kosten des anderen.
Neuntens schließlich heißt es, die Zivilgesellschaft sei global geworden. Das ist nicht wirklich der Fall. Der Erfolg der Internationalen Kampagne gegen Landminen hat Hoffnungen auf eine transnationale Zivilgesellschaft aufkeimen lassen. Aktivisten, Wissenschaftler und Journalisten sprechen bereits von "grenzüberschreitender Anwaltschaft". Eine globale Zivilgesellschaft scheint die logische Erweiterung der immer größer und stärker werdenden Zivilgesellschaft einzelner Länder zu sein. Schon heute sind mehr als 5000 transnationale NGOs bekannt - also solche, die regelmäßig auch in anderen Ländern als ihrem Heimatland tätig werden. Das Phänomen ist bedeutend. Das Zusammentreffen verschiedener Faktoren - Abbau der politischen Schranken nach dem Ende des Kalten Krieges, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, niedrigere Transportkosten und die Ausbreitung der Demokratie - hat ein günstiges Klima geschaffen, in dem NGOs ihren Einfluss ausweiten und länderübergreifende Verbindungen, Netzwerke und Koalitionen schaffen können.
Eine gewisse Vorsicht ist dennoch geboten. Erstens ist die transnationale Zivilgesellschaft nicht so neu, wie es zunächst den Anschein hat. Die katholische Kirche, um nur ein Beispiel zu nennen, ist eine transnationale ziviligesellschaftliche Gruppe, die seit vielen hundert Jahren international großen Einfluss hat. Zweitens gehen die Impulse zur Bildung dieser transnationalen Zivilgesellschaft hauptsächlich von westlichen Gruppen aus, die ihre Tätigkeit auf Entwicklungs- und Schwellenländer ausweiten. Sie mögen dabei zuweilen mit lokalen Partnern zusammenarbeiten, doch sie verfolgen in der Regel ihre eigenen Programme und Wertvorstellungen. Die transnationale Zivilgesellschaft ist also zwar "global", aber sie projiziert ebenso die politische und wirtschaftliche Macht des Westens in andere Weltgegenden, ein Modell, das Aktivisten der Zivilgesellschaft in anderen Zusammenhängen heftig verurteilen. Und drittens hat die grenzüberschreitende Zivilgesellschaft ähnlich wie die innerhalb eines Landes auch ihre Schattenseiten. "Hassgruppen" verbünden sich heute mit gleichgesinnten Extremisten in anderen Zeitzonen und bestärken sich gegenseitig in ihren Ressentiments. Das organisierte Verbrechen ist ein transnationales Unternehmen par excellence, an dem sich die fortgeschrittensten Formen einer flexiblen, kreativen internationalen Organisation und Operationsweise exemplarisch studieren lassen.
Kurz, die transnationale Zivilgesellschaft ist in ihren Grundeigenschaften so beschaffen wie die nationale. Sie besteht seit langem, wächst aber nun stark; dabei wird sie von der Globalisierung angetrieben und treibt umgekehrt diese voran. Sie besitzt das Potential, die Welt in wichtigen Aspekten zu verändern, aber man darf weder ihre Kraft überschätzen noch ihre Absichten idealisieren. Ob auf lokaler oder globaler Ebene, zivilgesellschaftlicher Realismus sollte kein Widerspruch sein.
aus: der überblick 03/2001, Seite 14
AUTOR(EN):
Thomas Carothers:
Thomas Carothers ist Vizepräsident der Abteilung für Weltpolitik der Stiftung "Carnegie Endowment for International Peace" in Washington DC. Der Artikel ist zuerst erschienen in "Foreign Policy" 117 vom Winter 1999. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung von "Foreign Policy" und der "Carnegie Endowment for International Peace" nach, die das Copyright besitzen. Die Veröffentlichung im "Deutschland-Magazin" Nr. 5/2000 ist die Grundlage dieser Fassung.