Der Tod um des Toten willen
In verschiedenen Teilen der Welt sind Menschen anderen in den Tod gefolgt: Frauen ihren Männern, Diener ihren Herren, Untertanen ihren Herrschern. Voraussetzung dafür, dass sie das zum Teil freiwillig und in der Regel in gesellschaftlich akzeptierten Ritualen taten, war der Glaube an ein Jenseits, in dem sie dem Verstorbenen nahe sein oder ihm weiter dienen konnten.
von Jörg Fisch
Romeo und Julia gehören sicherlich zu den bekanntesten und beliebtesten Figuren der abendländischen Literatur. Was die beiden in den Tod treibt, mag umstritten sein - aber sie können sich des Verständnisses des Publikums sicher sein. Der - vermeintliche oder tatsächliche - Tod des einen Menschen wirkt so stark auf den anderen ein, dass dieser ebenfalls den Tod sucht, aus Trauer, Verzweiflung, Treue, dem Wunsch oder der Hoffnung, im Jenseits mit ihm wiedervereinigt zu werden oder aus anderen Gründen. Nur moralische Rigoristen, die die Selbsttötung unter allen Umständen ablehnen, mögen die Tat verurteilen.
Was aber wäre unsere Reaktion, wenn Julia, nachdem sie den toten Romeo gesehen (oder Romeo, nachdem er vom Tode Julias gehört hat), sich auf den Marktplatz begeben und sich dort vor versammeltem Volk das Leben nehmen würde, etwa, indem sie sich erdolcht oder auf einen brennenden Scheiterhaufen steigt? Oder wenn sie gar von jemand anderem getötet würde, nachdem sie ihn dazu aufgefordert hätte, oder schließlich, wenn sie gewaltsam ergriffen, auf den Marktplatz geführt und dort unter dem Applaus der Menge getötet würde, nicht etwa als Verbrecherin, sondern zwecks Wiedervereinigung mit Romeo.
Das Phänomen, von dem hier die Rede ist, soll als Totenfolge bezeichnet werden. Totenfolge bedeutet, dass einer verstorbenen Person, eine oder mehrere andere Personen freiwillig oder unfreiwillig im Rahmen eines öffentlichen Rituals in den Tod folgen. Die äußeren Formen, in denen die Totenfolge durchgeführt wird, sind vielfältig; der innere Gehalt ist stets derselbe. Einschlägige Sitten finden sich in der Geschichte immer wieder. Am bekanntesten war seit jeher die Witwenverbrennung in Indien. Diese wurde, in etwas anderer Form, bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein auch auf Bali praktiziert. Auf zahlreichen Südseeinseln wurden Frauen beim Tode ihres Mannes erdrosselt, oft auf eigenen Wunsch. Auch im neuzeitlichen China war die Witwenselbsttötung verbreitet. In vielen Gebieten wurden beim Tode eines Herrschers oder einer anderen hochgestellten Persönlichkeit Ehefrauen, Konkubinen, Diener, Sklaven, Kriegsgefangene, Beamte und andere Personen in größerer oder geringerer Zahl getötet, oder sie töteten sich selbst.
Die Erzählung von Romeo und Julia ist geprägt durch vielfältige soziale und politische Konstellationen. Aber der Tod der beiden ist eine individuelle Angelegenheit, die abgeschieden von der Öffentlichkeit erfolgt. Diese erfährt erst hinterher davon.
Was hier als Totenfolge definiert worden ist, ist hingegen eine ganz und gar öffentliche Angelegenheit. Die Tötung oder Selbsttötung erfolgt vor einer oft sehr zahlreichen Volksmenge. Diese belässt es in der Regel zwar beim bloßen Zuschauen. Aber ihre Anwesenheit bedeutet eine Absegnung, die bis zur Erzwingung gehen kann. Dagegen können im Falle der Selbsttötung die Zuschauer die Tat als eine öffentliche verhindern. Sie können zwar niemanden davon abhalten, sich hinterher unter Ausschluss von Zeugen trotzdem umzubringen. Aber dadurch entfällt die Billigung durch die Öffentlichkeit, die auch durch die ritualisierte Durchführung betont wird. Die Geschichte von Romeo und Julia ist auch in einer Umgebung denkbar, die den Selbstmord rigoros ablehnt, während Totenfolge im hier definierten Sinne nur möglich ist in einer Gesellschaft, die die betreffende Sitte akzeptiert und ihr in der Regel sogar applaudiert.
Was bewirkt, dass Totenfolge in einer Gesellschaft möglich und schließlich auch wirklich wird? Das Besondere einer solchen Gemeinschaft ist, dass sich in ihr in einmaliger Weise diesseitge und jenseitige, weltliche und religiöse, materielle und ideelle Aspekte miteinander verbinden.
Die eigentliche Grundlage für die Totenfolge ist religiös-ideeller Art. Es ist ein Jenseitsglaube, der davon ausgeht, dass das Jenseits eine Wiederholung, ja eine Kopie des Diesseits ist. Jeder Mensch findet sich dort in der gleichen Stellung und Umgebung wie im Diesseits wieder. Wer herrschte, wird erneut zum Herrscher, Diener haben zu dienen, Bäcker werden wieder zu Bäckern. Ein solcher Glaube muss nicht zur Totenfolge führen. Aber ohne ihn ist Totenfolge nicht denkbar. Sie erschiene sonst aus der Sicht der betreffenden Gesellschaft oder Religion einfach als Verbrechen. Wer glaubt, dass das Leben mit dem Tode beendet ist, kann dem Toten keinen Dienst erweisen, indem er ihm einen Lebenden hinterherschickt.
Wichtiger ist, dass Totenfolge nicht mit dem Glauben an ein Totengericht vereinbar ist, in dem den Menschen ihre Stellung im Jenseits allererst aufgrund ihres Verhaltens im Diesseits zugewiesen wird. Wenn der Herr in die Hölle, der Diener hingegen in den Himmel kommt, dann macht es keinen Sinn, dem Herrn den Diener hinterherzuschicken; er wird ihn ja doch nicht einholen können.
Religionen mit Totengerichtsvorstellungen, allen voran das Christentum und der Islam, haben die Totenfolge stets mit großer Entschiedenheit abgelehnt und sie in ihrem Einflussbereich nach Möglichkeit unterdrückt. Freilich ist hier auf eine wichtige Ausnahme hinzuweisen. Auch im Hinduismus spielte und spielt die Vorstellung eines Totengerichts eine wichtige Rolle, sowohl in Bezug auf ein Leben im Jenseits, als auch im Hinblick auf eine Wiedergeburt im Diesseits. Die Witwenverbrennung wurde diesem Sachverhalt durch die Annahme angepasst, die Frau, die ihrem Manne in den Tod folge, erwerbe sich durch diesen Akt nicht nur selbst ein Anrecht auf eine privilegierte Stellung im Jenseits oder im nächsten Leben, sondern sie könne dadurch auch ihren Mann aus der Hölle befreien.
Der Versuch, das Diesseits möglichst vollständig ins Jenseits zu übertragen, jedem Toten seine gesamte Umgebung, also auch die ihm vertrauten Menschen ins Jenseits zu transferieren, würde indessen unweigerlich mit der Selbstzerstörung der betreffenden Gesellschaft, mit ihrem Aussterben enden. Totenfolge würde eine Kettenreaktion bewirken, sobald auch nur das Prinzip gelten würde, dass jeder Tote einen Begleiter erhält. Die Totenfolge muss eingeschränkt werden, indem festgelegt wird, wer das Recht hat, begleitet zu werden und wer verpflichtet ist, anderen in den Tod zu folgen. Da Gleichheit nicht möglich ist, muss die Ungleichheit in irgendeiner Form geregelt werden. Ungleichheit ist immer auch eine Machtfrage, wer für sich bestimmte Privilegien durchsetzen kann. Damit verbinden sich die jenseitigen Aspekte der Totenfolge mit handfest diesseitigen.
In der Geschichte finden sich zwei grundlegende Arten solcher Regelungen der Ungleichheit. Der erste Typ geht vom Verhältnis der Geschlechter aus. Prototyp ist die indische Witwenverbrennung. Schon die Bezeichnung verweist auf eine fundamentale Einseitigkeit. Von Witwerverbrennung ist nicht die Rede. In der Tat berichten die Quellen kein einziges Mal davon, ein Mann habe sich anlässlich des Todes seiner Frau in einem öffentlichen Ritual verbrannt. Die Witwenverbrennung wird damit sowohl zu einem Ausdruck als auch zu einer Ursache für die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern: Sie ist in ihrer konkreten Form ein Zeichen der Unterordnung der Frauen unter die Männer, und zugleich verstärkt sie diese Unterordnung wieder. Der umgekehrte Fall, dass nur die Männer den Frauen in den Tod zu folgen haben, findet sich in keiner Kultur. Lediglich für den Adel der nordamerikanischen Natchez-Indianer ist glaubwürdig überliefert, dass in Bezug auf die Totenfolge die Geschlechter gleich behandelt wurden: Französische Quellen berichten, dass im 17. und 18. Jahrhundert die Männer den Frauen in gleicher Weise wie die Frauen den Männern nachzufolgen hatten.
Der zweite Typ bezieht sich auf den sozialen Status der Beteiligten. Hier gilt, dass die Niedrigen den Hochgestellten zu folgen haben. Im Einzelnen finden sich sehr unterschiedliche Formen. Manchmal müssen dem Herrscher seine Frauen und seine höchsten Beamten und Minister folgen. Gelegentlich ist es der ganze Hofstaat. Bisweilen sind es Sklaven und Kriegsgefangene. Entscheidend ist die soziale und politische Stellung, nicht das Geschlecht. Das hat zur Folge, dass zuweilen auch Frauen, als Herrscherinnen oder hohe Adlige, begleitet werden und dass oft auch, oder gar ausschließlich, Männer (Sklaven, Diener, Minister, Gefangene) zur Gefolgschaft für das Jenseits gehören.
Besonders bekannt und spektakulär sind einschlägige Bestattungen im alten China, wo mitunter zusammen mit dem Kaiser hunderte von Personen lebendig begraben wurden. In neuerer Zeit scheinen solche Gebräuche in manchen Gebieten Afrikas besonders verbreitet gewesen zu sein. Europäische Berichte aus dem 19. Jahrhundert sprechen immer wieder - höchstwahrscheinlich mit beträchtlichen Übertreibungen - von Tausenden Opfern bei Herrscherbestattungen. Am Jahrestag des Todes wurden vielfach noch weitere Personen hinterhergeschickt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Tötung von Boten, die den Verstorbenen die neuesten Nachrichten über das Diesseits zu überbringen hatten.
Auch dieser Typ der Totenfolge hatte keineswegs nur jenseitige Aspekte. Vielmehr stellte er ein Instrument zur Bestätigung und Festigung der sozialen und politischen Machtverhältnisse dar. Er zeigte, wer die Herrschenden und wer die Beherrschten waren. Die Unterordnung wurde dabei sogar mit Blut besiegelt, und die Gesellschaft segnete diese Verhältnisse sowohl durch ihre Teilnahme am Ritual als auch durch die Stellung von Opfern ab.
In der Praxis konnten sich Elemente beider Typen miteinander verbinden. In Indien etwa verbrannten sich die Witwen in der Oberschicht und in den höheren Kasten deutlich häufiger als in der Unterschicht und in den Unterkasten. Darin kam der Anspruch der höheren Schichten auf eine führende Stellung zum Ausdruck.
Mit der Totenfolge konnten auch andere politische und wirtschaftliche Machtfragen verknüpft sein. Um nur zwei mögliche Punkte zu nennen: Starb ein Herrscher, so ermöglichte die Beseitigung seiner engsten Gefolgsleute einen klaren Machtwechsel. Erbte die Witwe von ihrem Ehemann ein beträchtliches Vermögen, so ließ ihre Verbrennung den Besitz an die Familie des Mannes zurückfallen.
Wie häufig war die Totenfolge? Wir besitzen nur in einem Fall halbwegs zuverlässige Angaben. Die Briten registrierten 1815-1828 in einem beträchtlichen Teil Indiens sämtliche Witwenverbrennungen, von denen sie erfuhren. Es waren insgesamt 8134. Das bedeutete, dass in ganz Indien etwa jede tausendste Witwe den Tod in den Flammen fand. In Bengalen, der Region mit der größten Häufigkeit, dürfte es etwa jede vierhundertste gewesen sein. Der höchste Wert, der für einen Distrikt in einem Jahr bekannt wurde, war eine von 36 Witwen. Auch in allen anderen Gegenden der Welt, mit Ausnahme vielleicht einiger Südseeinseln und Balis, dürfte der Beitrag der Totenfolge zur Sterbequote vernachlässigbar gewesen sein. Die Totenfolge war in gesamtgesellschaftlicher Perspektive also statistisch irrelevant. Ihre Bedeutung lag nicht in ihrem Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung, sondern in der sowohl symbolischen als auch sehr realen Bekräftigung der gesellschaftlich-politischen Machtverhältnisse.
Wie aber stellten sich die Opfer, die Begleiter für das Jenseits, zur Totenfolge? Die Frage nach Freiwilligkeit und Zwang ist keineswegs eine moderne europäische Erfindung. Insbesondere in Indien wurde das Erfordernis der Freiwilligkeit in der Theorie immer wieder betont. In der Praxis hielt man sich freilich nur begrenzt daran. Insgesamt findet sich in den Quellen das volle Spektrum von einer geradezu starrsinnigen Haltung von Personen, die den Tod suchen und überzeugt sind, dass sie nach ihrem Tode sogleich mit dem zu Begleitenden vereinigt werden, bis zur kaltblütigen Abschlachtung von Personen, die mit dem zu Begleitenden bislang nicht das Geringste zu tun hatten.
Widerstand erhob sich von drei Seiten. Am seltensten und am wenigsten wirksam war er von seiten der Opfer. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Die Opfer konnten sich kaum wirkungsvoll organisieren, da die Totenfolge weder regelmäßig noch immer am gleichen Ort stattfand. Wer sich entziehen wollte, für den bot die Flucht größere Chancen. Zudem herrschte gerade im Volk häufig der Glaube, bei nicht erfolgter Totenfolge würden sich die Verstorbenen aus dem Jenseits an der Gesamtheit im Diesseits rächen. Man wollte deshalb trotz der eigenen Opfer nicht auf die Zeremonie verzichten.
Wichtiger schon war die Opposition von Intellektuellen in Gesellschaften, in denen Totenfolge praktiziert wurde. Ablehnung fand sich in bestimmten Strängen des Hinduismus, insbesondere aber im Konfuzianismus in China und Japan. Das führte zu Einschränkungen und zeitweise relativ wirksamen Verboten, aber keineswegs zum gänzlichen Ende: Die auf das Jenseits bezogenen Glaubensüberzeugungen konnten nur langsam verändert werden.
Am wichtigsten wurde die Gegnerschaft von außen, gestützt zunächst hauptsächlich auf Religionen, die die Totenfolge strikt ablehnten, insbesondere das Christentum und der Islam. Beide haben die Totenfolge mit zunehmender Entschiedenheit verworfen und teilweise verboten. Die Europäer untersagten und verdrängten einschlägige Praktiken im Lauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Erstaunlicherweise waren sie damit weitgehend erfolgreich. Das ist nicht nur auf politischen Druck zurückzuführen; sonst wäre es nach der Entkolonisierung wohl in manchen Gebieten zu einer Renaissance der Totenfolge gekommen. Die Ablehnung wurde weitgehend verinnerlicht, in erster Linie wohl als Folge der Ausbreitung jener beiden Religionen, dazu später auch unter dem Einfluss säkularen, menschenrechtlich argumentierenden Denkens.
An dieser Stelle zeigen sich allerdings auch die Grenzen: Wo die religiösen Grundlagen der Totenfolge bestehen bleiben, da ist eine vollständige Beseitigung einschlägiger Auffassungen und Denkweisen kaum möglich. Im Hinduismus betrachten nach wie vor sehr viele Menschen die Witwenverbrennung als verdienstvollen Akt. Sie ist zwar durch die staatliche Gesetzgebung streng verboten - aber bis in die höchsten Kreise hinauf wird jede Witwe, die sich verbrennt, als Göttin verehrt. Seit die Politik in Indien sich nicht mehr grundsätzlich als weltlich versteht, sondern sich zunehmend auf religiöse Traditionen beruft, bietet sich die Witwenverbrennung als Kristallisationspunkt für politische Bewegungen geradezu an. Von deren Erfolg oder Misserfolg wird es abhängen, ob die Totenfolge zumindest in Indien eine Zukunft hat oder als Sache der Vergangenheit betrachtet werden kann.
aus: der überblick 02/2003, Seite 61
AUTOR(EN):
Jörg Fisch:
Jörg Fisch ist Professor am Historischen Seminar der Universität Zürich und Autor des Buches: "Tödliche Rituale. Die indische Witwenverbrennung und andere Formen der Totenfolge".