Moderatorin zwischen zwei Welten
Aufgeschlossen blickt Thoraya Obaid ihr jeweiliges Gegenüber an und unterbricht den Gesprächsfaden höchstens durch ein tiefes, gurrendes Lachen. Immer wieder lässt sie ihren Redefluss auf diese freundliche Weise ins Stocken geraten, ohne allerdings den Ernst der vorgetragenen Materie zu vergessen.
von Friederike Bauer
Sie hat ein weiches Herz. So jedenfalls charakterisiert sie sich selbst. Und tatsächlich wirkt die 56 Jahre alte Araberin auch eher mütterlich und warm. Kurzum, Obaid wirkt wie eine ausgeglichene Frau, die viel Glück gehabt hat im Leben.
Dabei flogen ihr die Erfolge keineswegs so zu, wie es heute den Anschein hat. Überall, wo sie hinkam, musste Obaid sich ihren Weg erst bahnen und dabei allerlei Hindernisse überwinden. Dass sie jetzt als erste Vertreterin der arabischen Welt in eine führende Position der Vereinten Nationen aufgestiegen ist und damit eine von sechs Frauen mit vergleichbaren Aufgaben ist, dürfte als Beweis für ihren zähen Arbeitseifer genügen: Im Januar wurde sie für vier Jahre zur Exekutivdirektorin des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) ernannt. Sie folgt damit der Pakistanerin Nafis Sadik, die mehr als ein Jahrzehnt an der Spitze dieser Organisation gestanden hatte.
Dieser beachtliche Karriereschritt ist nur der (vorläufig) letzte auf einem langen Weg, den sie bereits im Alter von 17 Jahren betrat. 1962 erhielt sie als erstes Mädchen ihres Heimatlandes Saudi-Arabien ein vierjähriges Stipendium zum Studium in den Vereinigten Staaten. Allein und ohne die Nähe der großen Familie machte sie sich auf den Weg nach Kalifornien. Das war für sie als eines von acht Kindern schon ein gewaltiger Erfolg, da weder Vater noch Mutter studiert hatten. Aber sie leitete damit auch einen gesellschaftlichen Wandel ein - dessen war sie sich schon damals bewusst. Denn die Verantwortlichen in Saudi Arabien entsandten die aufgeweckte junge Frau nicht ohne Hintergedanken: Sie suchten nur einen Vorwand, um Frauen dauerhaft von der höheren Bildung fern zu halten. "Allein im feindlichen Ausland - das schafft die nie", beschreibt Obaid die Beweggründe der damaligen Geldgeber.
Aber sie meisterte die Herausforderung im fremden Land, nicht zuletzt, weil sie der ideellen Unterstützung ihres Vaters sicher sein konnte. Er war es, der die kleine Thoraya schon früh zum Lernen ermunterte, der Bildung als ein hohes Gut - gerade auch für Mädchen - erachtete. Diese Prägung hat Obaid nachhaltig geformt: "Erziehung, Erziehung, Erziehung", pflegt sie noch heute zu sagen, wenn es um das Fortkommen von Mädchen und Frauen geht.
Schon damals mit ihren 17 Jahren spürte die junge Araberin die große Verantwortung, die wegen dieser Pionierrolle auf ihr lastete. Sie strengte sich an, lernte fleißig und belehrte alle Zweifler eines Besseren: Den ersten Abschluss - einen Bachelor - überbot sie gleich noch mit einem Doktortitel in englischer Literatur. Viele Mädchen und junge Frauen aus Saudi-Arabien folgten ihrem Beispiel und wagten, ausgestattet mit der nötigen Finanzspritze, ein Studium im Ausland. "Man kann sie gar nicht mehr zählen", sagt Obaid stolz auf ihre Pionierleistung.
Aber normal ist in Obaids Leben sicherlich das Wenigste. Nach Abschluss der Universität stieß sie zu den Vereinten Nationen, wo sie über ein Viertel Jahrhundert hinweg in den unterschiedlichsten Positionen und Ländern tätig war. Schon wenige Jahre nach ihrem Amerika-Aufenthalt sollte sich ihre unkonventionelle Art ein weiteres Mal als Segen und Fluch zugleich erweisen, dieses Mal im Libanon. Weil sie bei der Ankunft des ersten Kindes auf ihren Beruf hätte verzichten müssen, gründete sie mit anderen Familien kurzerhand einen Hort. So konnte sie zwar arbeiten gehen, musste aber ihren einzigen freien Tag in der Woche in der Krippe zubringen, um ihren Teil am Betreuungsdienst abzuleisten. "Es war die Hölle", sagt die Mutter zweier erwachsener Töchter, die inzwischen selbst studiert haben. Wenn sie heute auf ihre jungen Jahre zurückblickt, denkt Obaid: "Ich muss verrückt gewesen sein."
Richtig verwegen scheint der letzte Sprung auf den UNFPA-Chefsessel vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit indes kaum noch. Vielmehr ist er die logische Folge ihrer jahrelangen beruflichen Mühen. Aber auch dieser Posten verlangt wieder allerhand Unkonventionalität von ihr. Denn es gilt nicht nur, häufige und gravierende Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen in arabischen Ländern zu bekämpfen, sondern auch die Zweifel am Nutzen aller Emanzipation nach westlichem Muster auszuräumen, die dort besonders weit verbreitet sind. Obaid als Kennerin beider Welten bietet sich als fordernde Moderatorin geradezu an. Aber leicht wird sie es nicht haben mit ihren Vorstellungen, so viel weiß sie selbst.
Dass Obaid als arabische Frau ausgerechnet jener Organisation vorsteht, die alle Paare in die Lage versetzen will, über die Zahl ihrer Kinder und den Zeitpunkt der Geburt selbst zu entscheiden, darin liegen ihrer Ansicht nach auch Chancen. Vielleicht gelingt es jemandem wie ihr, in muslimischen Staaten das Bewusstsein für Familienplanung zu vergrößern. Erste Zeichen für den schleichenden Wandel meint sie schon zu bemerken: In den Golfländern beginne man über das Thema Demographie zu sprechen. Wachsende Arbeitslosigkeit, steigende Umweltverschmutzung, knappe Wasservorräte und überforderte Gesundheitssysteme ließen die Debatte über die Bevölkerungsentwicklung in einem neuen Licht erscheinen. "Es gibt einen Weg dorthin, es gibt ein Tor, aber wir müssen ihn richtig beschreiten."
So jedenfalls formuliert sie eines ihrer wichtigsten Anliegen für die kommenden vier Jahre. Wenn es zum Beispiel gelänge, in arabischen Staaten die Familienplanungszentren auch für Jugendliche zu öffnen, hätte sie schon einiges erreicht. Denn obwohl in ihrer Heimatregion viele Mädchen schon als Jugendliche verheiratet werden, haben sie nicht den gleichen Zugang zu Gesundheitsprogrammen wie erwachsene Frauen. Wenn sie die Imame dazu bewegen könnte, solche Themen häufiger in ihre Freitagsgebete einzuschließen, dann wäre das ein großer Erfolg. Die Möglichkeiten dazu sieht sie, und die Voraussetzungen dazu besitzt sie, denn solche Veränderungen lassen sich ihrer Ansicht nach nicht mit der Brechstange herbeiführen, sondern nur "innerhalb dieser Kultur", die sie kennt.
Immer wenn Verantwortliche in den entsprechenden Ländern den Kopf schüttelten und als Grund den Koran anführten, dann müsse man mit einer anderen, weniger einschränkenden Stelle der islamischen Heiligen Schrift antworten. Denn allzu häufig lägen die Probleme nur in der Auslegung. Obaid ermutigt die örtlichen Partner von UNFPA, stets die frauenfreundlichste, die progressivste Lesart zu unterstützen. Oftmals erlaubten Familien ihren Töchtern immer noch nicht, eine Schule zu besuchen und Lesen und Schreiben zu lernen. "Wir erinnern sie dann daran, dass eines der ersten islamischen Gebote das Lesen vorgibt." Solche Interpretationsspielräume will Obaid nützen, um in arabischen Ländern mehr Freiheit und Selbstbestimmung für Frauen zu erwirken - jedoch langsam und in kleinen, homöopathischen Dosen.
Neben diesen, wie sie es nennt, kulturellen Herausforderungen, plagen Obaid die ernsten Finanznöte ihrer Organisation. Die internationale Gemeinschaft habe ihre Zusagen auf der Bevölkerungskonferenz in Kairo aus dem Jahr 1994 nicht eingehalten. Nach Berechnungen der amerikanischen Organisation Population Action International müssten jedes Jahr 17 Milliarden US-Dollar aufgewandt werden, um das Bevölkerungswachstum dauerhaft zu stoppen. Nur einen Bruchteil des Notwendigen, sagt Obaid, ohne die Zielsumme zu nennen, hätten die Einzelstaaten aber bereitgestellt, Geber- wie Nehmerländer. Mit dem Ergebnis, dass immer noch vielen Paaren der Wunsch nach Familienplanung unerfüllt bleibe: Untersuchungen zeigten, dass zwischen 100 und 150 Millionen Frauen verhüten würden, wenn sie Kontrazeptiva hätten. Dieser chronische Missstand wurde im vergangenen Jahr sogar noch durch einen akuten Mangel verschlimmert, als es zu einem zwischenzeitlichen Engpass an Verhütungsmitteln kam. Solche Krisen sind zum Teil auf organisatorische Mängel zurückzuführen, sagt Obaid, aber sie haben ihre Ursachen auch in der mangelnden Zahlungsbereitschaft vieler UN-Mitgliedstaaten. Selbst Deutschland, dessen UNFPA-Budget im Entwicklungsministerium angesiedelt ist, hat seine Beiträge in den vergangenen Jahren dem allgemeinen Sparzwang des Finanzministers unterworfen. Es ist mit knapp zehn Millionen Dollar auf den neunten Platz der Geber abgerutscht. "Wenn es schon jetzt einen solchen Mangel gibt, was kommt dann erst in den nächsten Jahren auf uns zu?" Dann nämlich erreichen mehr junge Menschen das reproduktive Alter als jemals zuvor. Spätestens bis dahin wird sich zeigen, ob die Versprechen aller Konferenzen ihre Wirkung entfalten oder ob die Staatengemeinschaft nach einer kurzen Phase williger Zustimmung das Interesse und die Bereitschaft, die Ziele von Kairo umzusetzen, schon wieder verloren hat.
Erst im Frühjahr haben die Vereinten Nationen ihre Prognose über das Wachstum der Weltbevölkerung nach oben korrigiert. Nicht mehr 8,9 Milliarden Menschen werden demnach Mitte des Jahrhunderts auf der Erde leben, sondern etwa 9,3 Milliarden (nach der mittleren von drei Varianten). Die Grenze von neun Milliarden wird also schon 2043 überschritten - einige Jahre früher als in zurückliegenden Prognosen angenommen. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau sinkt zwar weltweit, in den ärmsten Ländern verläuft der Geburtenrückgang aber weitaus langsamer als bisher gedacht. Die Zahl der Einwohner der am wenigsten entwickelten Länder wird sich diesen Schätzungen zufolge in den kommenden fünfzig Jahren verdreifachen. Obaid hält deshalb die Umsetzung der Kairo-Ziele für eines der dringlichsten Anliegen. Das Ausarbeiten von Normen sei so gut wie abgeschlossen, aber die Transformation in praktische Politik lasse immer noch zu wünschen übrig. In Kairo waren die UN-Mitgliedstaaten unter anderem übereingekommen, dass jedem Menschen ausreichend Verhütungsmittel zur Verfügung stehen müssten, um seine Fortpflanzung ohne fremde Einflussnahme zu gestalten. "Davon sind wir noch weit entfernt." Deshalb "müssen wir", sagt Obaid auch an die Adresse der Bundesregierung gewandt, "unsere Anstrengungen noch verstärken".
Als dritte Herausforderung nennt die UNFPA-Chefin die Reorganisation des Bevölkerungsfonds. In den kommenden drei bis vier Jahren verliert UNFPA auf Grund bevorstehender Pensionierungen einen großen Teil seiner Bediensteten. Die Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter bei gleichzeitigen finanziellen Einschnitten bedeutet aus Sicht Obaids ein hartes Stück Arbeit.
Aber vor neuen Aufgaben, und seien sie mitunter auch mühsam bis unangenehm, hat sich die Frau aus Saudi-Arabien bisher selten gedrückt. Dass sie zusätzlich noch mit dem überragenden Ruf ihrer Vorgängerin ringen muss, ist ihr wohl bewusst. Sadik, die als erste Frau überhaupt einen so exponierten Posten bei den Vereinten Nationen inne hatte, leitete die Organisation immerhin vierzehn Jahre lang. Mit ihrer quirligen und direkten Art hat sie nicht nur viele Männer im internationalen "Gewerbe" beeindruckt, sondern zweifellos auch einen Teil der Kairo-Übereinkünfte ermöglicht. Sadik war zwar keine gute Verwaltungsfrau, aber sie konnte selbst Gegner überzeugen und mitunter sogar um den Finger wickeln. Obaid ist anders. Der spritzige Charme der Pakistanerin fehlt ihr; große Empfänge, Gesellschaften und Konferenzen meistert sie bei weitem nicht so glänzend wie Sadik. Eher schüchtern, beinahe bieder wirkt sie bei solchen Anlässen. Die Schuhe der Vorgängerin seien groß, bemerkt Obaid durchaus zutreffend. Deshalb wolle sie auch gar nicht versuchen hineinzuschlüpfen, sondern lieber ein paar neue überziehen. Welches Design die haben sollen, hat sie mit den drei großen Herausforderungen - die Voreingenommenheit bestimmter Kulturen in Bevölkerungsfragen zu überwinden, die Finanzmisere zu lindern, die Organisation umzustrukturieren - schon skizziert. Bis die Schuhe allerdings so verarbeitet sind, dass sie passen und jene der Vorgängerin an Anmut übertreffen, wird es eine Weile dauern. Noch ist Thoraya Obaid in vielen Ländern völlig unbekannt. Ehe sich das ändert, wird sie sich auf dem internationalen Laufsteg vielleicht die ein oder andere Blase laufen. Den Willen und die Bereitschaft dazu bringt sie mit.
aus: der überblick 03/2001, Seite 73
AUTOR(EN):
Friederike Bauer :
Friederike Bauer arbeitet als politische Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist zuständig für internationale Organisationen.