Die Arbeitslosenbewegung der »Piqueteros« steht in Argentinien zwischen allen Fronten
Die argentinische Arbeitslosenbewegung der »Piqueteros« entstand 1996 ohne politisches Konzept oder Kalkül. Sie wurde von Menschen geschaffen, die oft wenig oder gar keine Bildung hatten. Mehr als 150.000 Arbeitslose gehören nach Schätzungen zu einer der verschiedenen Piquetero-Strömungen. Typisch für sie sind die fast täglichen Straßensperren. Im Juni 2002 hatte das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegen die Straßenbehinderungen sogar zu vorzeitigen Präsidentschaftswahlen geführt.
von Antje Krüger
Der Taxifahrer stöhnt: »Nein, nicht schon wieder!« und zeigt auf einen Zug Demonstranten, die in einer langen Reihe am Straßenrand in die Richtung ziehen, aus der wir gerade kommen. Sie laufen zielstrebig, geordnet, tragen gelbe Überzieher über ihren Jacken. MIJD steht in selbstgemalten Lettern drauf. Manche Männer halten armdicke Stöcke, andere ein paar Transparente. Viele Frauen und Kinder gehen mit ihnen. »Da haben Sie aber verdammtes Glück, dass wir schon drin sind«, sagt der Taxifahrer und sieht dem Menschenzug nach. Drin? Wo drin und warum Glück gehabt und wer waren die? »Na, das waren die harten, die ganz harten Piqueteros. Wenn die jetzt die Straßen sperren, ist kein Durchkommen mehr. Wann Sie dann in die Stadt reinkommen, das weiß nur Gott allein. Aber wir haben die magische Grenze schon überquert«, erklärt der Chauffeur und schickt einen kurzen Stoßseufzer in den trüben Himmel über Buenos Aires.
Die magische Grenze, das ist der Autobahnring General Paz um Argentiniens Metropole. Er trennt die Bundeshauptstadt von der Provinz Buenos Aires. Und »die harten, die ganz harten Piqueteros« sind Arbeitslose. Sie gehören zu einer Strömung innerhalb der argentinischen Arbeitslosenbewegung. Da ihnen der Streik als Druckmittel nicht mehr gegeben ist, sperren sie die Zufahrtsstraßen zur Stadt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Diese Art von Demonstration wird Piquete (Streikposten) genannt, die arbeitslosen Demonstranten deshalb Piqueteros.
Auf ihre gelben, selbstgefertigten Überzieher schreiben die Piqueteros, von welcher Gruppierung sie kommen. Die Lettern MIJD der soeben vorbeigezogenen Gruppe stehen für Movimiento Independiente de Jubilados y Desocupados (Unabhängige Rentner- und Arbeitslosenbewegung). Der MIJD ist eine der radikalsten Gruppen der fünf großen Piqueteroströmungen, die es mittlerweile in Argentinien gibt.
»In diesem Land, wo das Chaos von oben kommt, fängt alles an, sich von unten zu reorganisieren«, sagte kurz nach dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch Argentiniens im Dezember 2001 der argentinische Journalist Miguel Bonasso. Damals schien es nichts und niemanden zu geben, der das immer größer werdende soziale Vakuum füllte. Es gab keine Institutionen für diejenigen Massen, die plötzlich im sozialen Aus standen. Aus der Intuition heraus, der absoluten Not, erwuchs eine Bewegung sondergleichen die Arbeitslosenbewegung der Piqueteros. Sie entstand ohne politisches Konzept oder Kalkül. Sie wurde von Menschen geschaffen, die oft nur wenig oder gar keine Bildung genossen hatten, die nicht wussten, wie man sich organisiert und keine Theorien kannten. Zu den ersten Piquetes kam es 1996 in den nordargentinischen Kleinstädten General Mosconi und Cutral Co. Hier lebten die Einwohner von und mit der einst staatlichen Erdölfirma YPF. Nach der Privatisierung des Konzerns und Massenentlassungen trieb die Ohnmacht die Arbeitslosen auf die Straße. Ihre Familien zogen gleich mit.
Nach dem Zusammenbruch Argentiniens standen als erste die Frauen auf und fingen an, das schlichte Überleben zu organisieren. Sie belebten den Tauschhandel, als für den offiziellen Markt kein Geld mehr da war. Sie taten ihre kargen Lebensmittel zusammen und kochten für alle gemeinsam. Sie nähten Kleider aus Lumpen und konfrontierten die Bürokratie und Polizei mit ihren Forderungen nach Unterstützung. Fast alle trieb ihr Muttersein aus der Küche raus auf die Straße. »Wir haben lange genug den Kopf gesenkt. Heute kämpfen wir für unsere Kinder. Die Männer haben sich mit ihrer Arbeitslosigkeit zuerst verkrochen. Aber wir spürten, wenn wir nichts tun, gehen wir unter. Also haben wir angefangen, uns zusammen zu tun«, erinnert sich die Piquetera Eva Gutierrez vom Polo Obrero (Arbeiterpol).
Schätzungsweise acht von zehn Piquetero-Basisgruppen werden von Frauen geleitet. Sie organisieren auch heute noch wie in großen Familien oder autonomen Gemeinden die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Gekocht wird für alle in alten Benzinfässern. Jeder bringt mit ein, was er gerade hat, stellt ein Zimmer, den Hinterhof, zwei Stühle zur Verfügung. Unter den Piqueteros ist die Frage bekannt: Woran erkennt man einen Piqueterohaushalt? Antwort: Es ist nie etwas im Mülleimer. Alles wird irgendwie verwertet. »Wir haben 280 Speisesäle im ganzen Land, wo täglich 20.000 bis 30.000 Menschen essen. Bei anderen Piqueterogruppen sieht es ähnlich aus«, erklärt der Mitbegründer des Polo Obrero, Ariel Lusso. Dieser tägliche Überlebenskampf, den vorwiegend die Frauen bestreiten, bleibt jedoch im Hintergrund. Die große Politik jenseits des sozialen Engagements, die das Bild der Piqueteros in der Öffentlichkeit bestimmt, haben die Männer übernommen.
Offizielle Erhebungen über die Anzahl organisierter Piqueteros gibt es nicht. Schätzungsweise gehören jedoch mehr als 150.000 Arbeitslose zu einer der verschiedenen Piqueteroströmungen, die wiederum in zahlreiche Untergruppen aufgeteilt sind. Ihr Ansehen stammt nach wie vor von den Straßensperren. Noch vor zwei Jahren war die Unterstützung für die Piqueteros groß. Diese neuartige soziale Bewegung hatte Hoffnungen geweckt, der meist korrupten argentinischen Politik von der Straße aus Druck machen zu können. Weit über die Hälfte der Argentinier hielt deshalb die Straßensperren für eine legitime Art des Protestes der Arbeitslosen.
Heute streiten sich die Piqueteros untereinander erbittert um die richtigen Mittel und Wege für ihre Proteste. Ordner grenzen die einzelnen Piqueterogruppen bei Demonstrationen untereinander ab. Man will einander nicht zu nahe kommen, mit den anderen nichts zu tun haben. Aus jeder Piqueterogruppe ist mittlerweile mindestens eine Splittergruppe hervorgegangen. »Diese Stöcke, die ihr bei Euch tragt, wozu sind sie«, so die ahnungslose Frage. Der angesprochene Piquetero zögert zunächst mit der Antwort. »So schützen wir uns selber, falls die Gruppe vor oder hinter uns Ärger mit der Polizei macht«, kommt die ausweichende Antwort.
Die einst genuine Bewegung hat sich und wurde politisiert. Während die »weichen« Piqueteros nun mit der neuen sozialdemokratischen Regierung kooperieren, steuern die »harten« voll dagegen und sperren nicht nur Straßen, sondern besetzen auch Mc Donalds oder Supermärkte, um die Ausgabe von Lebensmitteln und Spielzeug für die Kinder zu erzwingen. Das eigentliche Anliegen, die Schaffung von Arbeitsplätzen, ist dabei völlig ins Hintertreffen geraten.
Die Argentinier reagieren mittlerweile sehr unterschiedlich auf die Piqueteros. Manche mit Wut, andere mit Enttäuschung, so manch einer sogar mit Hass. Inzwischen stellt sich nur noch 30 Prozent der Bevölkerung hinter die Proteste. »Letztendlich schädigen die mit ihren Piquetes nur diejenigen, die selbst zur Arbeit müssen«, regt sich Anna Espinoza auf. Die Putzfrau, die selbst aus einem ärmlichen Viertel außerhalb der Stadt kommt, steckt oft stundenlang mit dem Bus fest.
Zu dieser Wut über die fast schon tägliche Behinderung auf den Straßen kommt der Ärger der Arbeitnehmer über die Arbeitslosenhilfe, die Plan Jefas y Jefes de Hogar (Plan für Haushaltsvorstände). Jeder arbeitslose Familienvorstand erhält im Gegenzug zu einer gemeinnützigen Arbeit eine staatliche Unterstützung von 150 Pesos (ca. 50 Euro) pro Monat. Über zwei Millionen dieser Unterstützungsbudgets werden inzwischen ausgezahlt, allein 80 Prozent des Geldes fließt in die Provinz Buenos Aires. Dieses Geld spielt eine wichtige Rolle in der Organisation der Piqueteros. Denn die geforderte gemeinnützige Arbeit dient dem Kollektiv. Der eine zimmert das Dach der Suppenküche, der andere jätet Unkraut im gemeinsamen Gemüsegarten und die Piquetera, die Lesen und Schreiben kann, gibt Nachhilfeunterricht für die Kinder.
So weit, so sinnvoll. Doch die Auszahlung der 150 Pesos erfolgt nicht direkt vom Staat an die Betroffenen selbst. Das Geld wird einzelnen Organisationen zugesprochen, unter ihnen den Piqueteros, die es dann wiederum ihren Mitgliedern aushändigen. Ein riesiges Geschäft also, mit der sich politische Führungskräfte ein Heer von Armen kaufen können, ganz nach argentinischer Tradition. Seit Jahrzehnten kontrolliert zum Beispiel die peronistische Partei über soziale Zuwendungen ganze Stadtviertel. Bei den Piqueteros ist der Erhalt der Sozialhilfe an die regelmäßige Teilnahme an den Protestaktionen geknüpft. Aus diesem Grund wird auch um die Anzahl der einzelnen Arbeitslosenhilfen pro Piqueterogruppe mit der Regierung immer wieder heftig gestritten. Viele Straßensperren sollen mehr Arbeitslosenpakete für die Piqueterogruppen erzwingen. Ein Missbrauch des Geldes ist damit vorprogrammiert, ein politisches Interesse, dies zu ändern, jedoch nicht erkennbar. »Man müsste ein objektives System einrichten, so wie es alle Arbeitsämter der Welt haben, wo die Betroffenen sich ihre Unterstützung am Schalter abholen«, fordert deshalb die Oppositionspolitikerin Patrica Bullrich.
Die Manipulation der Piqueteros hat mittlerweile die höchsten Machtebenen erreicht. Die Arbeitslosen stehen zwischen allen Fronten oder haben sich wissentlich oder unwissentlich hineinziehen lassen. Sie sind ein »Heer der Armen«, mit dem Politiker und Piqueteroführer verschiedenster Richtungen versuchen, ihre persönlichen Interessen durchzusetzen. Das Schüren von Chaos und Wut unter den Argentiniern ist dabei probates Mittel. Tatsächliche oder vermeintliche kriminelle Aktivitäten werden dazu genutzt. Über 3000 Verfahren wegen »illegaler Straßensperren«, Landesfriedensbruch und Störung der öffentlichen Ordnung werden gegen Piqueteros geführt. »In jeder politischen Bewegung gibt es immer eine Linke, welche ungewollt der Rechten zuspielt. Nicht, weil sie konspirieren, sondern weil sie derartig extrem werden, dass sie sich letztendlich mit den anderen berühren und ihnen nützlich werden«, erklärt der Journalist Miguel Bonasso. Bei dieser Auseinandersetzung sind selbst Menschenleben Mittel zum Zweck geworden.
Zur Zeit läuft in Buenos Aires ein Prozess über den Mord an zwei jungen Piqueteros im Juni 2002. Das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegen die Straßensperren auf der Brücke Puerreydon in Buenos Aires hatte sogar zu vorzeitigen Präsidentschaftswahlen geführt. Damals wurde versucht, die Arbeitslosenbewegung der Piqueteros mundtot zu machen. Die Polizei schoss ohne Vorwarnung. Sie schoss mit scharfer Munition. Und sie schoss von hinten. Zwei Tote und 33 durch Kugeln in Brust, Beine und Rücken verletzte Demonstranten waren das Ergebnis des Blutbades. Die Tumulte und die Opfer sollten den Piqueteros zugeschoben und als innere Konflikte dargestellt werden, auf dass die Bevölkerung mit Schrecken reagiere.
Die Rechnung ging jedoch nicht auf. Fotografen und Fernsehkameras hielten die Spuren fest, welche die Polizei zu verwischen suchte. Sie zeigten rote, illegale Patronenhülsen von scharfer Munition. Gummigeschosse haben grüne Hülsen. Und sie zeigten, wie der durch einen Brustschuss tödlich verletzte, 25-jährige Maximiliano Kosteki von der Polizei noch bewegt wurde, wonach er verblute. Und wie dem 21-jährigen Darío Santillán die gesamte Kugelladung eines Itaka-Gewehrs in den Rücken geschossen und er sterbend über den Asphalt geschleift wurde.
Heute behaupten die Kläger, diese Repression wäre politisch motiviert gewesen, um dem enormen Druck der Straße und der damaligen Solidarität der Bevölkerung mit den Arbeitslosen ein Ende zu setzen. Zwar stehen zur Zeit nur die beteiligten Polizisten vor Gericht, doch sollen auch der damalige Präsident Eduardo Duhalde, sein Staatssekretär für Sicherheit Juan José Alvarez sowie der ehemalige Sicherheitsminister der Provinz Buenos Aires, Luis Genoud, aussagen müssen. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass die Richter mit dem Verfahren bis hoch in die politische Führungsspitze kommen (wollen).
So geht es bei diesem Prozess um weit mehr als die beiden toten Jugendlichen. Es geht um einen Ruf: den der Piqueteros, den der sozialen Bewegung und den der Politik, die sich diese zu Nutze macht. Doch geschieht dies inzwischen weit entfernt von den Interessen und Nöten eines Großteils der Bevölkerung. Die Zeiten, da Interessierte aus aller Welt nach Argentinien reisten, um diese einzigartige Bewegung zu studieren, sind vorbei. Die Piqueteros laufen immer mehr Gefahr, zum Spielball der Politik zu verkommen, auf Kosten der eigentlich Betroffenen. Sie sind ein Machtfaktor mehr in Argentinien geworden, jedoch nicht so, wie es sich Anhänger und Sympathisanten ursprünglich wünschten als eine Stimme der Arbeitslosen, welche die Ausgeschlossenen zurück in die Gesellschaft holt, welche auf ein System hinter dem scheinbaren »Schicksal« der Arbeitslosigkeit aufmerksam macht und die Opfer zum Handeln bringt.
aus: der überblick 03/2005, Seite 33
AUTOR(EN):
Antje Krüger
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.