Wie AIDS in Botsuana Einzug hielt
Als AIDS Anfang der neunziger Jahre in Botsuana zum Thema wurde, galt die Immunschwäche als Krankheit der Weißen, der Fremden. Es existierte nicht einmal ein Wort dafür in der Landessprache Setswana. Im Laufe der Zeit aber, als immer mehr Familien AIDS-Kranke und -Opfer zu beklagen hatten, mussten Bilder und Worte gefunden werden, um sich mit der Krankheit auseinandersetzen zu können.
von Georgia A. Rakelmann
Als »Radio-Krankheit« und »Scania disease« wurde AIDS in Botsuana Ende der achtziger Jahre bezeichnet. Die Krankheit war zu diesem Zeitpunkt neu und unbekannt. Die beiden Bezeichnungen wiesen bereits zu Beginn auf zweierlei hin: Zum einen kannte man die Krankheit lediglich aus dem Radio, wo im Zuge der Volksaufklärung seit dem Beginn der botsuanischen AIDS-Politik im Jahr 1988 regelmäßig über sie gesprochen wurde. Sie war also ein Ereignis, das nicht zur eigenen Lebenswelt gehörte, sondern aus der Ferne und von oben, von der Regierung, zu einem getragen wurde. Zum anderen wurde AIDS Fremden zugeordnet, nämlich den Lastwagenfahrern (oft der Marke Scania), die das Land von Süden, von den Produktionszentren in Südafrika, nach Norden bis nach Zentralafrika durchrollen. Jene Lastwagenfahrer, die auf ihren Zwischenstopps gelegentlich auf eilige sexuelle Kontakte aus sind, sollten die Träger und Überträger der Krankheit sein, von der die Radiosendungen sprachen.
Seit der Anfangsphase der Epidemie in Botsuana hat deren Wahrnehmung, Beschreibung und Benennung einen vielfältigen Prozess durchlaufen, in deren Zuge die Krankheit langsam von einer Krankheit Fremder zu einer einheimischen geworden ist. Damit einhergehend haben sich drei verschiedene Deutungen des Geschehens herausgebildet: AIDS wird entweder als Krankheit Fremder interpretiert, die Batswana, die Bewohner Botsuanas, als Gottes Strafe wegen ihrer Abkehr von christlicher Lebensführung befallen hat, oder als alte Tswana-Krankheit, die mit der Nichteinhaltung von Reinheitsgeboten in Verbindung steht. Leute mit wissenschaftlichem Verständnis schließlich erkennen sie als Viruskrankheit im biomedizinischen Sinne.
Diese Interpretationen manifestieren sich in Alltagsgesprächen, wobei je nach Gesprächszusammenhang und -situation unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Zugleich wandeln sich die Deutungen laufend, weil durch die Verbreitung von Informationen Wissensbestände ausgetauscht und verändert werden.
Eine der ersten AIDS-Toten, die in der Presse erwähnt wurden, war die Gattin eines ausländischen Experten. Das stützte die Wahrnehmung, die Krankheit gehöre nicht zur Tswana-Welt, sei eine Krankheit der Fremden, und wenn über sie auch im Radio berichtet wurde, so betraf sie nicht das eigene Leben. Daran änderte auch nichts, dass der Staat schon früh einen Leitfaden zu AIDS für den Bildungssektor und das Gesundheitswesen ausgab. Die AIDS-Politik in Botsuana orientiert sich allerdings (bis heute) an den internationalen Organisationen und formuliert entsprechend in der Sprache und den Termini der Biomedizin und der globalen AIDS-Programme.
Anfangs wurde auf Englisch aufgeklärt, was in Botsuana lediglich die Amtssprache und nicht die Alltagssprache ist. Bald jedoch wurde auch die einheimische Sprache Setswana einbezogen, wobei die Unübersetzbarkeit von Metaphern gerade im Bereich des Körperlichen und des Intimen bis heute ein Problem geblieben ist. So wird bei der gängigen ABC-Formel abstain, be faithfull or condomise (lebe enthaltsam, sei treu oder benutze Kondome) »Kondom« mit »Socken« übersetzt. Das hat im Laufe der Jahre so manchen Witz hervorgebracht, zum Beispiel über Enkel, die nicht ohne sich Socken überzuziehen in Großmutters Bett steigen wollen aus Angst vor AIDS. Be faithfull wird mit: »teile nicht deine Decke« übersetzt, was dazu führt, dass in Beratungsgesprächen gelegentlich erläutert werden muss, dass damit gemeint ist, dass man nicht nacheinander mit mehreren Partner (inne)n sexuell verkehren soll, wohl aber mit mehreren Familienmitgliedern ein Bett teilen darf. Auch die Rede von der Infektionsgefahr durch Blut war vielen erst einmal gänzlich unverständlich, ist doch eine der Bezeichnungen für Ehe in Setswana: »sie sind von einem Blut«.
Ohne Sprachbilder sind solch abstrakte Phänomene nicht zu vermitteln. Die Metaphern der AIDS-Kampagnen entstammen jedoch vor allem dem Diskurs der westlichen Industriegesellschaften. Die Autorin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag hat schon 1988 auf die große Bedeutung hingewiesen, die Metaphern bei der Diskussion über AIDS zukommt, und besonders darauf, dass dafür häufig Bilder aus dem Krieg gewählt werden. Mit den Erfahrungen und den Sinnbildern der botsuanischen Alltagswelten waren diese Beschreibungen aber nicht in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise stand lange Zeit der ausgearbeitete Text der Aufklärungsprogramme und der staatlichen Medizin wie eine Suada, ein Redeschwall, dem Schweigen der Adressaten gegenüber. Jenes vielbeklagte Schweigen, welches von Sozialwissenschaftlern als Verhaftung in vormodernen Scham- und Autoritätsstrukturen gedeutet wurde, kennzeichnet den Anfang des Einzugs von AIDS in die Gesellschaft.
AIDS wurde im Alltagsgebrauch langsam zu Aidsi gerundet. Dazu mögen die umfassenden Programme im Radio, in lokalen Einrichtungen und im Schulunterricht beigetragen haben, die immer wieder AIDS thematisiert und eine wachsende Anzahl von Batswana im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens mit dem Wort konfrontiert haben.
Mit HIV hat es keinen solchen Abschleifungsprozess gegeben. Aidsi ist etwas, was man erfahren kann: Man ist krank, und in der Klinik wird das, was man erlebt, mit dem Wort AIDS benannt. HIV dagegen entzieht sich der Erfahrung: Dass man so etwas haben kann, ohne sich krank zu fühlen, und dass dies in ferner Zukunft zwingend zu dem Zustand führen soll, der in den Aufklärungskampagnen so eindringlich beschworen wird, diese Vorstellung einer unsichtbaren Krankheit und ein solches Konzept von Zukunft ist von den landläufigen Körper- und Krankheitskonzepten in Botsuana zu weit entfernt. Deshalb ist HIV obgleich die Biomedizin sehr deutlich zwischen HIV und AIDS unterscheidet bis heute nicht in die Muttersprache und kaum in die Vorstellungswelt eingegangen.
Die Einbeziehung von AIDS in die Tswana-Welt bedarf wie die Reproduktion und Produktion von Kultur in einem kommunikativen Prozess im Allgemeinen am Anfang der Bilder, welche im weiteren Verlauf ausgearbeitet und modifiziert werden. Im Zuge dieses Vorgangs wird das Neue, zunächst einmal Unverständliche, in Beziehung zum kulturellen Gedächtnis und zur landläufigen Moral gesetzt; Erfahrungen werden verknüpft mit dem Wissensbestand über die Ordnung der Welt und der Gesellschaft. Ein solcher Vorgang dauert wie alle kommunikativen Prozesse eine Weile, und auch eine noch so insistierende Volkserziehung wie die AIDS-Aufklärung in Botsuana kann ihn nicht abkürzen oder ignorieren.
Was die Regierungsvertreter und ausländischen Experten als AIDS bezeichneten, hatte also zunächst keine Entsprechung in den sozialen Erfahrungen und den Wissensbeständen der Batswana-Gesellschaft. Von Regierungsleuten erwartet man ohnehin nicht, dass sie etwas sagen, was jenseits politischer Reden und Statements von Bedeutung ist. Und die ausländischen Experten, in Botsuana makgoa genannt (wörtlich »die Ausgespieenen«), etwa zwei Prozent der Einwohner des Landes, hatten schon immer irgendein Thema, das sie für das Wichtigste der Welt hielten. Seien es bestimmte Toiletten oder Krankheiten sie sprachen dann nur noch davon. Jetzt kamen sogar welche von ihnen nur zu dem Zweck in das Land, um über ihre Krankheit zu reden. So jedenfalls berichteten die Befragten über die Anfänge der AIDS-Epidemie und ihre Erinnerungen an das, was sie damals dachten. Es musste, wie Krebs, Diabetes und Bluthochdruck, eine lekgoa-Krankheit (Einzahl zu makgoa) sein, eine Krankheit der ausländischen Experten, wenn diese daran so interessiert waren und darüber so viel wussten. Und wenn die Krankheit von ihnen kommt, dann ist die Behandlung auch ihre Sache.
Die eindeutige Fremdzuweisung wurde schließlich dadurch erschüttert, dass wie die Interviewten berichteten ihnen auffiel, dass, obgleich es sich um eine lekgoa-Krankheit handelte, man nie einen Fremden traf, der AIDS hatte, und die makgoa berichteten nie von AIDS-Toten in ihren Familien oder in ihren Ländern. Dafür starben immer mehr Batswana. Auf die war die Krankheit offensichtlich übergesprungen.
Zu dieser Zeit etwa ab Mitte der neunziger Jahre waren bereits Bilder von AIDS entstanden: Der Eindruck, es handele sich um eine Krankheit im Hintergrund, war der Erfahrung gewichen, ihr direkt gegenüberzustehen. Es gab kaum einen Haushalt, in dem nicht bereits ein Todkranker gepflegt worden war, kein Arbeitsteam und keine Abschlussklasse, die nicht das Siechtum von AIDS bereits aus der Nähe miterlebt hatte: AIDS war in der Gesellschaft angekommen.
Aus Gesprächen mit Heilern über ihre Krankheitskonzepte, ihre Diagnosen und Therapien wird deutlich, dass die Ankunft der Epidemie im Alltag die Debatte darüber eröffnete, was AIDS eigentlich ist und was es bedeutet. War das, was die modern doctors (wie die meist ausländischen Ärzte in den staatlichen Kliniken genannt werden) als AIDS bezeichnen, nicht vielleicht in Wahrheit eine alte einheimische Krankheit in neuem Gewand? Diese Theorie spiegelt einen Prozess der »Tswanisierung« von AIDS wider: Die Krankheit sei das Ergebnis von übelwollenden Wünschen seitens nahestehender Menschen, von Hexerei also. Allerdings taucht diese Erklärung nur vereinzelt in Gesprächen mit alten Landfrauen auf; von Heilern wurde sie schon früh verworfen. Die Krankheit, die zunächst mit fremden Einflüssen in Verbindung gebracht wurde, ist schwerlich mit Neid und familiärer Missgunst zur Deckung zu bringen.
Ernstere Überlegungen dagegen erfordert meila, ein Komplex, der mit ritueller Unreinheit zusammenhängt. Das Nichteinhalten von Geboten, nach Geburten und Todesfällen zurückgezogen und unberührbar zu leben, führt beispielsweise zu einer symbolischen Unreinheit, die an andere Beteiligte weitergeben werden kann. Bei einem der Betroffenen, unter Umständen auch bei einem Kind, zeigt sich dann eine der aus meila resultierenden Krankheiten. Witwen und auch Witwer etwa können in diesem Zusammenhang an boswagadi erkranken, ein Leiden, dessen Symptome denen von AIDS täuschend ähnlich sind: Schwäche, Fieber, Durchfälle, Schwermut.
Die Krankheiten in Zusammenhang mit meila sind Tswana-Krankheiten, die von modern doctors nicht diagnostiziert und behandelt werden können, für die Symptombehandlung und die erforderlichen symbolischen Reinigungen sind allein die Heiler kompetent. Wegen der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungsformen von AIDS und der großen Nähe mancher Symptomatik zu meila ist die Debatte um die eigentliche Ursache der Krankheit noch nicht entschieden. Inzwischen schicken jedoch viele Heiler ihre Patienten mit AIDS-Symptomatik in Krankenhäuser und behandeln mit eigenen Therapien lediglich die sozialmedizinische und symptomatische Seite der Erkrankung.
Nachdem die traditionelle Medizin in den ersten zehn Jahren der großen nationalen und internationalen AIDS-Kampagnen systematisch ignoriert worden war, ja sogar als kultureller Hinderungsfaktor bezeichnet wurde, haben sich die Politik der Vereinten Nationen (UN) und die an sie angelehnte AIDS-Politik der botsuanischen Regierung nun geändert. So sehr man die Heiler auch aus dem Kommunikationsprozess ausschloss, sie sind doch nach wie vor eine der Säulen des Medizinwesens. Fast alle Kranken suchen im Laufe ihres Krankheitsprozesses sowohl die staatlichen Institutionen auf, wenden sich daneben aber auch an Heilungskirchen und lassen sich von Heilern behandeln.
Das führte zur Modifikation der Programme: Die Heiler, sind seit Beginn des Jahres 2004 ebenfalls Adressaten von Informationsveranstaltungen, bekommen Zugang zu Errungenschaften der modernen Medizin wie Gummihandschuhe und werden Verfahren der Regulierung und Kontrolle unterworfen. So wird von staatlichen Koordinierungsstellen angestrebt, eine Organisation der Heiler zu bilden, die auf eine Standardisierung ihrer Therapien zielt.
Über einen langen Zeitraum hinweg hat man von AIDS oder aidsi gesprochen. Erst um das Jahr 2001, also mehr als ein Jahrzehnt nach dem Beginn der AIDS-Politik, tauchten die ersten Setswana-Begriffe auf. Nicht zufällig geschah dies zeitgleich mit der Ankündigung und dem Beginn der Behandlung von AIDS-Kranken mit antiretroviralen Medikamenten (ARV) im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems. Zuvor war es durchaus vorgekommen, dass die Gesprächspartner abstritten, jemanden zu kennen, der an AIDS erkrankt war, geschweige denn dass Familienmitglieder oder gute Freunde damit zu tun gehabt hätten. Auch wenn bereits mehrere Kinder oder Geschwister verstorben waren, gestand man keinerlei Verbindung zu der Krankheit ein. Nun aber hatte AIDS offenbar auch einen Weg in die Gespräche über das Privatleben gefunden. Die Menschen reden über Geschwister, Nachbarn, Kinder, Verwandte, Kollegen, die an AIDS leiden oder starben, und rämen ihre Angst ein, selbst einen AIDS-Test zu machen oder teilen Überlegungen dazu mit.
Im Nachhinein formulieren viele Befragte, dass es zuvor keinen Sinn gemacht hatte, sich mit AIDS zu befassen. Den Aufklärungskampagnen zufolge starb man sowieso, wenn man es hatte. Nun jedoch war die Situation grundlegend verändert, jetzt gab es Hoffnung. Auch die Anhänger von Verschwörungstheorien, die zuvor aus den vagen Informationen, dass es in den Industrieländern Medikamente gegen die Krankheit gibt, geschlossen hatten, dass diese ihnen absichtlich als eine Art perverse Bevölkerungskontrolle vorenthalten werden, waren vorerst durch die Einführung von ARV in die Behandlungsangebote des öffentlichen Gesundheitssystems beschwichtigt.
Kabonyakabonya war der erste einheimische Name für AIDS, der in den Gesprächen auftauchte. Er heißt wörtlich übersetzt stückchenweise und beschreibt den körperlichen Vorgang der Gewichtsabnahme und des Verfalls: Stückchen für Stückchen nimmt die Lebenskraft der Erkrankten ab.
Zugleich tauchte der erste AIDS-Witz auf, in dem ein Mann, der sich wegen seiner Diagnose »positiv« das Leben nehmen will, und einen Strick an einen Ast knüpft aber dann, laut um Hilfe schreiend, vom Baum springt, als er dort einer hochgiftigen Baumschlange begegnet. Wenn man in der Lage ist, über einen Sachverhalt einen derart galligen Witz zu machen, kann man diesen auch besprechen.
Ein weiterer Name für die Krankheit ist phamokate, wörtlich übersetzt: »geschnappt und verscharrt« diese Bezeichnung beschreibt einen Vorgang des veränderten gesellschaftlichen Lebens: Die Krankheit packt einen und wirft einen unversehens ins Grab, in kürzester Zeit werden Leute schwerstkrank und sterben.
Zuletzt tauchte in den Gesprächen jobokaewang auf. Es bedeutet sinngemäß »etwas, worüber man einfach reden kann«. Damit stellt es die interessanteste Konstruktion im Prozess der Integration dar. Die ehemalige lekgoa-Krankheit ist jetzt »tswanisiert« und hat einen einheimischen Namen bekommen, der darauf hinweist, dass der Krankheit keine spirituelle oder transzendente Bedeutung zukommt, sondern dass sie lediglich ein gänzlich profanes Ereignis ist.
Die Entwicklung eigenständiger Tswana-Bezeichnungen für AIDS ist ein Hinweis auf einen kulturellen Integrationsprozess, der offensichtlich einem eigenen Zeitrhythmus unterliegt. Es muss dahingestellt bleiben, ob die Aneignung und Integration von AIDS in den kulturellen Kanon durch die starken sozialtechnischen und therapeutischen Invasionen eher gefördert oder behindert wurde, oder ob die Entwicklung, über AIDS sprechen zu können, ganz unabhängig vom Kampagnengedonner aus der Interpretation sich wiederholender Erfahrungen erwachsen ist.
Seit den Erkrankten nicht nur die Begleitung im staatlichen Gesundheitssystem, die Erlösungszeremonien der Heilungskirchen und die sozialmedizinische Behandlung der Heiler zur Auswahl stehen, sondern sie mit der ARV-Therapie auch Zugang zur modernsten lekgoa-Medizin in den Krankenhäusern haben, treten die Überlegungen der Kranken und ihrer Angehörigen zu den verschiedenen Umgangsweisen mit der Krankheit deutlicher zutage.
Eine große Gruppe von ihnen zieht es vor, sich nicht dem »verwalteten Kranksein« im staatlichen Gesundheitssystem zu übereignen, sondern besteht auf der Selbstbestimmung ihres Lebens im eigenen Umfeld. Sie wenden sich an Heiler, die ihnen Aufschluss über das »Warum« der Krankheit geben können, oder an die lokalen Heilungskirchen, die sie mit ihrem Unglück auf andere Weise wieder in die Gemeinschaft integrieren (vergl. »der überblick« 1/2005). Die Kranken kritisieren die medizinische Behandlung in den Kliniken: Die dort arbeitenden Ärzte lernen noch und müssen im Gegensatz zu den Heilern die Patienten danach fragen, was sie haben. Sie reden nicht mit den Patienten. Entweder beherrschen sie nicht die Landessprache oder sie wissen nicht was diese brauchen. In den Krankenhäusern werden Teile des Körpers oder Blut entnommen und woanders hingeschickt, ohne dass man weiß, was damit genau passiert. Die Ärzte und Pfleger scheinen nicht zu wissen, was in den Medikamenten ist, und die Medizin entstammt nicht einmal dem eigenen Land. Die Tabletten haben alle die gleiche Farbe und Form wie kann das wirksam sein? Vor allen Dingen weiß man am Ende immer noch nicht, warum einen die Krankheit getroffen hat.
Andere Kranke schließen sich den alten Missionskirchen an. Dort erfahren sie Gemeinschaft und einen klar geregelten Wochenablauf, sie erhalten Zugang zu Information und Beratung. Das Botswana Christian AIDS Intervention Programme (BOCAIP) lädt an vielen Orten zu einer Beratung ein, die soziale, sozialmedizinische und theologische Hilfestellungen gibt. In den vielen kleinen Heilungskirchen in den Wohngebieten und in den neuen evangelikalen Kirchen erfahren die Erkrankten ebenfalls Gemeinschaft und sie werden in eine Erlösungshoffung oder -erwartung eingebunden, die über ihre eigene Mühsal und ihr eigenes Leiden hinausweist.
Und nicht zuletzt nutzt ein Teil der Kranken Angebote des öffentlichen Gesundheitssystems. Sie gehen zum Testen (manche Leute schon bevor sie krank sind) und schreiben sich falls nötig in die ARV-Programme ein. Sie fällen bewusst Entscheidungen ohne Einbeziehung ihrer Familie. Wenn die Infektion bereits ein Zeichen für Individualismus, für nicht soziales Verhalten war, so treibt die ARV-Therapie dieses noch weiter voran. Jetzt ist es wichtig, die eigene Zukunft als Individuum zu planen. Das Leben muss sich ausschließlich auf das Jetzt und die Zukunftsoptionen konzentrieren. Man muss sich von den Wünschen und Forderungen der Ahnen und entsprechendem Druck der Großfamilie trennen. Manche schaffen das: Inzwischen sind mehr als 35.000 AIDS-Kranke in die ARV-Therapie eingebunden.
Was im Moment in Botsuana im Vordergrund steht, ist der Diskurs zwischen verschiedenen, zunächst inkompatibel erscheinenden Körper-, Krankheits- und Heilungskonzepten, die im Falle einer AIDS- Erkrankung nacheinander oder gleichzeitig zum Tragen kommen und die mit dem kulturellen Gewebe der Gesellschaft verwoben werden: AIDS ist im Alltagsgespräch zu etwas Einheimischem geworden.
Literatur:
aus: der überblick 02/2005, Seite 22
AUTOR(EN):
Georgia A. Rakelmann
Dr. Georgia A. Rakelmann ist Lehrbeauftragte im Fachbereich Ethnologie an der Justus Liebig-Universität Gießen. Grundlage dieses Artikels sind Befragungen im Rahmen eines Projektes der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« zu den sozialen und kulturellen Folgen von AIDS in Namibia und Botsuana, die zwischen 2001 und 2004 geführt wurden.