Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum
Für das politische und kulturelle Selbstverständnis von Litauen, Lettland und Estland, Weißrussland und der Ukraine, tendenziell auch der transkaukasischen und mittelasiatischen Republiken spielt die Entwicklung einer je eigenen Version nationaler Vergangenheit eine Schlüsselrolle. Seit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 treten die Bruchlinien zwischen den verschiedenartigen Erinnerungskulturen der Nachfolgestaaten immer deutlicher zu Tage.
von Wolfgang Stephan Kissel
In jüngster Zeit hat ein bizarrer Denkmalsstreit das Verhältnis zwischen Estland und der Russländischen* Föderation belastet. Am 19. Januar 2007 hat das estnische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Weg für die eventuelle Beseitigung eines Denkmals zu Ehren sowjetischer Soldaten im Zentrum der Hauptstadt Tallinn freimachen sollte. Bürger Tallinns nahmen Anstoß an diesem Monument, das sie an den Einmarsch sowjetischer Truppen im Jahr 1944 erinnerte. Russländische Regierungsvertreter bis zum Präsidenten Putin äußerten hingegen scharfe Kritik am Vorhaben einer eventuellen Denkmalsdemontage, sprachen von "Verhöhnung" der sowjetischen Soldaten, die Estland vom Faschismus befreit hätten, und drohten gar mit Wirtschaftssanktionen. Solche unterschiedlichen Erinnerungskulturen führen immer wieder zu politischen Konflikten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Der Dreh- und Angelpunkt dieser Konflikte im Westen der ehemaligen Sowjetunion ist offensichtlich eine unterschiedliche Deutung des Zweiten Weltkrieges: Aus sowjetischer und russländischer Sicht begann der "Große Vaterländische Krieg" am 22. Juni 1941 mit dem Überfall deutscher Truppen und endete nach Moskauer Ortszeit in den frühen Morgenstunden des 9. Mai 1945, als die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands eintraf. In der Russländischen Föderation wird dieser 9. Mai in jedem Jahr nach wie vor als "Tag des Sieges" gefeiert und als Brücke in eine ruhmreiche militärische Vergangenheit wahrgenommen, die nach heutiger Konzeption bis in das Moskauer Zarentum zurückreicht und somit eine Klammer über alle historischen Zäsuren hinweg bildet.
Litauer, Letten und Esten verbinden hingegen mit diesem Tag den Verlust ihrer staatlichen Unabhängigkeit, auf den Jahrzehnte der politischen Repression und der ökonomischen Ausbeutung folgten. Wie die Präsidentin Lettlands, Vaira Vike-Freiberga zum 60. Jahrestag 2005 erklärte, ist der 9. Mai für ihr Land kein Tag des Triumphes, sondern der Trauer oder zumindest des stillen Gedenkens an zahllose Opfer, Menschen, die während der sowjetischen Okkupation erschossen oder verschleppt und im Gulag als Arbeitssklaven zu Tode geschunden wurden. Die lettische Präsidentin bezeichnete den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 - die Einigung der beiden totalitären Regime auf Kosten Polens und der baltischen Staaten - ausdrücklich als Vorbedingung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der für Lettland folglich mit dem Überfall der Sowjetunion auf Lettland am 15. Juni 1940 begann. Eine offizielle Anerkennung der Okkupation steht von russländischer Regierungsseite noch aus, was als schwere Hypothek auf den Beziehungen lastet.
Die Erinnerungskluft, welche die Russländische Föderation von ihren baltischen Nachbarn trennt, spaltet die unabhängige Ukraine nach der "orangenen Revolution" im Inneren, wo sich Kommunisten und Nationalisten vielfach unversöhnlich gegen überstehen. Für den westlichen Teil der heutigen Ukraine begann der Zweite Weltkrieg am 17. September 1939, als sowjetische Truppen in das damalige Ostpolen einmarschierten und diese Territorien als "Westukraine" in die Sowjetunion eingliederten.
Kernpunkt des heutigen Streits ist die Bewertung der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung beziehungsweise der 1942 gegründeten "Ukrainischen Aufständischen Armee" (UPA). Für die ukrainischen Nationalisten sind die UPA-Mitglieder Helden und Vorkämpfer eines unabhängigen Nationalstaates, ihren Veteranen gebührt von diesem Standpunkt aus eine Gleichbehandlung mit den ehemaligen Rotarmisten. Für die Kommunisten sind sie jedoch nur faschistische Kollaborateure, welche Zehntausende Polen in der Westukraine ermordeten. Die Gegner der UPA sehen die Rotarmisten, die die Ukraine zurückeroberten, als Befreier, die Anhänger als Besatzer. Abermals sind es Denkmäler, die diesen Streit symbolisieren: in Lemberg, im äußersten Westen des Landes, eines für die "Division Galizien", im russophonen Donezk eines für die "Ritter der Pflicht", die sowjetischen Geheimdienstoffiziere.
Im Artikel 11 der ukrainischen Verfassung hat sich der Staat verpflichtet, "das historische Bewusstsein, Traditionen und Kultur der ukrainischen Nation" zu fördern. Daher beschloss die ukrainische Regierung im Mai und Juli 2006, ein "Zentrales Archiv des nationalen Gedenkens" aufzubauen, das auch der Bürgerinformation, zum Beispiel der Einsichtnahme in Geheimdienstakten dienen soll.
Der Streit um die Vergangenheit wird allseits auch als Streit über die zukünftige politische Orientierung der Ukraine geführt, konkret über die Frage, wie das Land sich endgültig von jahrhundertelanger russischer beziehungsweise sowjetischer Dominanz befreien und Anschluss an Europa, etwa in Form eines Beitritts in der Europäischen Union (EU) gewinnen könne. Offen ist dabei, ob die Erinnerung an den Holodomor, die große Hungersnot der Jahre 1932/33, zu einem Kristallisationspunkt einer die gesamte ukrainische Nation umfassenden Erinnerungskultur werden kann. Denn die Deutungen der historisch unbestreitbaren Geschehnisse, die sechs bis sieben Millionen Menschen das Leben kosteten, schwankt zwischen systematischem, ethnisch motiviertem Genozid an Ukrainern und einem "Soziozid" beziehungsweise "Politizid" an unbotmäßigen Bauern, die sich der erzwungenen Kollektivierung widersetzten.
Während sich diese und andere Bruchlinien manifestieren, arbeitet die offizielle russländische Vergangenheitspolitik unverdrossen an einem möglichst monolithisch geschlossenen Geschichtsbild, in dessen Zentrum der Mythos vom "Großen Vaterländischen Krieg" steht. Er wurde Mitte der sechziger Jahre unter Leonid Breschnew zur Stabilisierung des sowjetischen Vielvölkerreichs geschaffen und erzählte von einem heroischen Abwehrkampf aller Bürger der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Invasoren, aus dem die staatliche Einheit 1945 gestärkt hervorging. Den Republiken der Sowjetunion wies man einen je eigenen Platz innerhalb der mythischen Geschichtserzählung zu, so auch der Ukraine, deren Hauptstadt Kiew 1961 zur Heldenstadt befördert wurde - wie zuvor Leningrad, Sewastopol, Wolgograd-Stalingrad und Odessa. In den folgenden Jahrzehnten bildete die Erinnerung an diese Selbstbehauptung eine der Legitimationsquellen für die Fortexistenz der Sowjetunion. Während bei jeder Gelegenheit der Opfer des siegreichen Abwehrkampfes gedacht werden musste, wurden die Opfer des Stalinismus dem Vergessen anheim gegeben. Die Perestroika setzte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zwar eine umfassende Aufklärung über die Gewaltexzesse und Verbrechen unter Lenin und Stalin in Gang, doch trotz großer Anstrengungen von Seiten der Organisation Memorial und intensiver Geschichtsdebatten bildete sich im postsowjetischen Russland kein gesamtgesellschaftlicher Konsens über Ausmaß und Bedeutung der stalinistischen Verbrechen heraus. Die Aufklärungsarbeit ging von einem elitären Kreis aus und blieb in ihren Tiefenwirkungen letztlich beschränkt. In der Russländischen Föderation verlor die alte Intelligenz im Laufe der neunziger Jahre zudem rasch an Bedeutung.
In großen Teilen der Bevölkerung riss der Strang einer russozentrischen beziehungsweise imperial betonten Erinnerungskultur niemals völlig ab: Viele Mitglieder der "Allrussischen Gesellschaft zum Schutz der Geschichts- und Kulturdenkmäler", die 1965 gegründet wurde und bis 1982 auf 15 Millionen Mitglieder anwuchs, pflegten ein nostalgisch verklärendes Geschichtsbild. Im Laufe der achtziger Jahre entstanden am rechten Rand der Gesellschaft weitere Splittergruppen, die meist unter dem Sammelbegriff Pamjat' (Gedächtnis, Erinnerung) zusammengefasst wurden, obwohl sie weder ein einheitliches Programm noch eine politische Organisationsform zustande brachten und schließlich in verschiedene selbständige Vereinigungen zerfielen. Im Laufe der Zeit nahmen einzelne Pamjat'-Gruppen immer deutlicher nationalistische oder slawophile und antisemitische Züge an: Ihre Mitglieder verklärten das alte Russland unter den Zaren, die Oktoberrevolution war aus ihrer Sicht das Werk von Juden und Freimaurern - eine fatale Geschichtsklitterung, die bis heute ihre Anhängerschaft hat.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und unter dem Eindruck einer chronischen Wirtschaftskrise ließ der Enthusiasmus von Bevölkerung und Medien für die öffentliche Trauerarbeit spürbar nach. In den folgenden Jahren wurde eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Gewaltexzessen des Stalinismus von der Regierung unter Boris Jelzin nicht mehr gefördert, sondern allmählich ein Kurswechsel in Richtung auf eine patriotische Sicht der russischen Vergangenheit vorgenommen. Eine Reihe bedeutender Jahrestage bot in den neunziger Jahren Anlass zu pompösen Gedenkfeierlichkeiten, mit denen sich die Sehnsucht nach dem untergegangenen Imperium nähren ließ. Zum 850. Jahrestag der Stadtgründung präsentierte sich Moskau 1997 als Bühne eines gewaltigen Historienspektakels. Bürgermeister Juri Luschkow, der sich selbst als einen unideologischen Pragmatiker darstellt, nutzte jede Gelegenheit der Stadt seinen Stempel aufzudrücken und ihr eine möglichst patriotisch korrekte Physiognomie zu geben.
Die Instrumentalisierung von Stadtgründungsjubiläen sollte sich 2003 bei der Dreihundertjahrfeier von St. Petersburg wiederholen. Die Feiern standen in der lokal-regionalen und gesamtrussischen Presse im Zeichen des Stadtgründers Zar Peter, in dessen Nachfolge Herrschergestalten wie Katherina II. oder Alexander I. und mehr oder weniger diskret der Präsident Wladimir Putin gewürdigt wurden. Die Feierlichkeiten verschafften Putin aber auch eine einzigartige Gelegenheit, vor der internationalen Öffentlichkeit die russische Außenpolitik als Friedenspolitik, Russland als verlässlichen Partner der Vereinigten Staaten, als europäische Macht im ständigen Dialog mit einer erweiterten Europäischen Union zu präsentieren.
Bei diesen imperialen Schauspielen wie bei zahlreichen öffentlichen Auftritten führender Repräsentanten der Russischen Föderation fiel der Russisch Orthodoxen Kirche die Rolle einer "Stifterin nationaler Identität" zu. Die Rekonstruktion der 1931 unter Stalin gesprengten Christi Erlöserkathedrale gehört zu den finanziell aufwendigsten Unternehmungen, die das Moskauer Stadtbild in postsowjetischer Zeit geprägt haben. Insgesamt hat die Russische Orthodoxe Kirche zweifellos an Einfluss und Gewicht gewonnen, manche Beobachter sehen sie erneut auf dem Weg zur Staatskirche.
Der Generationswechsel an der politischen Spitze von Boris Jelzin zu Wladimir Putin hat diese Tendenzen staatlicher Erinnerungspolitik weiter verstärkt. Unter Putin wurde der "patriotische Konsens" mit allen Mitteln forciert und ein Geschichtsbild propagiert, in dessen Zentrum das "Vaterland", also vor allem die Erinnerung an die imperiale Größe Russlands, seine staatliche Einheit und seine militärischen Leistungen stehen. An die Stelle eines potenziellen Erinnerungskonsenses über den Stalinismus trat die gelenkte Vergangenheitspolitik der "souveränen russischen Demokratie", wie sie Wladislaw Surkow, der neue Chefideologe Putins unlängst definiert hat.
Zu den Charakteristika dieses Demokratieverständnisses gehört auch das selektive Erinnern und Vergessen, das zur Stabilisierung von Herrschaft eingesetzt wird. So entsteht eine synkretistische, aus sowjetischen und vorrevolutionären Elementen zusammengesetzte Erinnerungskultur. In diese Richtung wies beispielsweise schon Putins Gesetzentwurf über die Staatssymbolik, den die Duma im Dezember 2000 gebilligt hat, und der als Wappen den Doppeladler, als Flagge die weiß-blau-rote Trikolore und als Hymne die wohlvertrauten, freilich mit neuem Text ausgestatteten sowjetischen Klänge vorsieht. In den postsowjetischen Festkalender wurde 2005 ein "Tag der nationalen Einheit" eingefügt, der jeweils am 4. November die Befreiung des Moskauer Kreml von polnischen Eindringlingen im Jahr 1612 feiern und den alten Revolutionstag am 7. November ersetzen soll. So künstlich der neue Festtag wirkt und so wenig Begeisterung er bisher auch hervorruft, er liegt doch auf einer Linie mit dem "Vaterländischen Krieg" gegen Napoleon und dem "Großen Vaterländischen Krieg" gegen Hitler: Die Erinnerung an Siege über Angreifer aller Art, seien es Polen, Franzosen oder Deutsche, islamistische Fundamentalisten oder tschetschenische Terroristen soll die Russen von heute zusammenschweißen.
Der Aktionsradius und die Aufklärungsmöglichkeiten der Organisation Memorial wurden hingegen in den letzten Jahren stark beschnitten. Mehr denn je beeinflussen staatliche Institutionen den Geschichtsunterricht an russischen Schulen im patriotischen Sinn, Schulbücher werden umgeschrieben beziehungsweise korrigiert. Diese Veränderungen der letzten Jahre haben eine zumindest ambivalente Einstellung zur Person Stalins und zu seiner Ära erneut akzeptabel werden lassen und damit eine Grauzone geschaffen, in der einzelne Personen immer wieder Vorstöße in Richtung einer Rehabilitierung nicht etwa vergessener Opfer, sondern prominenter Täter unternehmen können. So haben Verwandte von Lawrenti Beria beim Obersten Gericht Russlands beantragt, der ehemalige Chef des Geheimdienstes NKWD möge postum als Terroropfer rehabilitiert werden, sein Sohn Sergo Beria legte eine Apologie vor, die den Vater zum Vorläufer der Perestroika verklärt.
In Zeiten eines neuen Selbstbewusstseins, das im wesentlichen auf dem Öl- und Gasboom der Wirtschaft beruht, entspricht der patriotische Geschichtskonsens den Bedürfnissen nicht nur der herrschenden Eliten, sondern großer Teile der Bevölkerung. Aus der Sicht des Vizepremiers und Verteidigungsministers Sergei Iwanow erscheint beispielsweise die Russländische Föderation heute "als ein Staat, der sich selbst genügt. Als Staat mit einer wachsenden Wirtschaft, der historisch sowohl in Europa als auch in Asien liegt".
Diese Position einer tendenziellen russländischen Autarkie oder zumindest eines legitimen Sonderwegs inmitten globaler Interdependenzen nimmt Elemente des Denkens der Eurasier auf, insbesondere die Zwischenlage zwischen den beiden Kontinenten, und kombiniert sie mit der erhöhten Bedeutung Russlands als Energielieferant. Aus der räumlich bestimmten Perspektive der "souveränen Demokratie" sollen die Katastrophen und Zivilisationsbrüche der Stalin-Zeit wie die bedrohlichen Defizite der Gegenwart in den Hintergrund treten. Russlands territoriale Ausdehnung, seine Zwischenstellung zwischen Asien und Europa, sein Ressourcenreichtum, seine Verteidigungsbereitschaft gegen Invasoren und nicht zuletzt die stolze Erinnerung an seine imperiale Vergangenheit hingegen sollen die Grundlagen zukünftiger Politik bilden. Dieser imperialen Logik entsprechen in jüngster Zeit auch die selbstbewussten Auftritte Putins auf internationaler Bühne.
Konnte man um 1990 noch die Vorhersage wagen, dass ein ehrendes öffentliches Gedenken für die Opfer des Stalinismus zu den Grundwerten einer künftigen russländischen Demokratie zählen würde, so muss man heute Stagnation oder Rückschritte auf diesem Feld konstatieren. Vielleicht ist die historische Chance bereits verstrichen, als Fundament für eine neue Erinnerungskultur die staatliche Vergangenheitspolitik tiefgreifend zu revidieren und den Stalinismus zu verurteilen. Damit aber werden künftige Erinnerungskonflikte mit den Staaten an der ehemaligen westlichen Peripherie der Sowjetunion mehr als wahrscheinlich, denn dort trifft das monolithische Geschichtsbild des Kreml auf den härtesten Widerstand.
* "Russländische" Föderation ist die eigentlich angemessene Übersetzung von rossijskij anstatt des üblicherweise verwendeten Begriffs "Russische" Föderation. Dieser Begriff wird hier vom Autor bewusst verwendet, um deutlich zu machen, dass es sich bei Russland um einen multiethnischen Staat handelt, zu dessen Bürgern auch zahlreiche Nicht-Russen gehören.
aus: der überblick 01/2007, Seite 112
AUTOR(EN):
Wolfgang Stephan Kissel
Wolfgang Stephan Kissel ist Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen.