Mittelschicht in Russland
von Alexey Levinson
Vor einigen Jahren wurde in der russischen Sozialwissenschaft und später in der Presse über die Existenz einer Mittelschicht diskutiert. Darüber, dass sie existiert, bestand Einigkeit. Über die Kriterien ihrer Definition wurde jedoch kein Konsens erreicht. Russische Soziologen haben für ihre Untersuchungen der Mittelschicht verschiedene Kriterien zugrunde gelegt: Beschäftigung (Unternehmer, Fachleute, Angestellte reicher Unternehmen, Beamte), Einkommensniveau (über eintausend US-Dollar pro Familie pro Monat), Besitz bestimmter Güter (Auto, Datscha, Wohnung), Konsumstandard (Waren gehobener Qualität) und Selbstcharakterisierung. Am Ende schälte sich ein Komplex von Sozialmerkmalen heraus, mit denen wir die "Mittelschicht" beschreiben.
Die verbleibende Unsicherheit wird dadurch verursacht, dass das Untersuchungsobjekt selbst noch nicht definiert ist und keine klaren Konturen hat. Die Größe der Mittelschicht variiert in den Schätzungen verschiedener Forscher um das zwei- bis dreifache. Und wenn man die Selbsteinschätzungen typischer Vertreter der Mittelschicht als Grundlage nimmt, dann reicht das Spektrum von anderthalb bis fünfzehn Millionen.
Die Spannweite erklärt sich dadurch, dass es für einige wichtig ist, auf ihre Zugehörigkeit zu einer Minderheit (ein Prozent der Bevölkerung) hinzuweisen, während die anderen betonen wollen, dass ihre Schicht wächst ("Wir sind schon über ein Zehntel der Bevölkerung"). Das Gemeinsame dieser Einschätzungen ist, dass die Mittelschicht sich als eine Minderheit in Russland versteht. Sie kann zwar eine Führungsposition in der Gesellschaft für sich beanspruchen, sieht sich gegenwärtig und in Zukunft jedoch nicht in der Mehrheit. Dadurch unterscheidet sich die Situation von der in den Ländern, aus denen dieser soziale Begriff nach Russland kam.
Obwohl es sich bei der Mittelschicht eindeutig um eine Minderheit handelt, wählt doch die Mehrheit der Russen diesen Begriff, um ihr Selbstverständnis auszudrücken. Die Betonung liegt dabei nicht auf den Begriff "Schicht", sondern auf "mittel". Die Semantik dieses Begriffs eignet sich für all die, die sich verstecken wollen, indem sie sich zur Mehrheit zählen: "Ich bin wie alle!" Wer diesen Begriff zu rhetorischen Zwecken in Bezug auf sich anwendet "Ich bin ein Durchschnittsmensch!" kann sich seiner auch bedienen, um auf Armut, soziale Schutzlosigkeit und unbefriedigende Arbeits- und Lebensbedingungen zu verweisen. Diese Lebensumstände trennen sie von der eigentlichen Mittelschicht, die sich zu Gute hält, dass sie im Unterschied zur Mehrheit der Russen ihre Lebensziele erreicht und erträgliche oder sogar gute Lebensbedingungen hat.
Die Größe der Mittelschicht ist also kaum feststellbar, selbst Schätzungen sind schwierig. Gehen wir einfach davon aus, dass sie mehrere Millionen Menschen umfasst. In der Landbevölkerung ist sie kaum präsent von einzelnen wenigen Bauern abgesehen. Eine beachtliche Anzahl ist dagegen in den Vorortquartieren großer Städte zu finden. In Kleinstädten Russlands trifft man nur auf wenige Vertreter der Mittelschicht einige Personen in jeder Stadt. Das sind in der Regel die höchsten Beamten in der lokalen Verwaltung und die Inhaber örtlicher Unternehmen. Meistens handelt es sich ohnehin um ein und dieselben Personen. In jeder Stadt sind das mehr oder weniger die gleichen Personen. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen, die Dutzende von Mitgliedern zählen. Sie stehen zueinander in Berufs- Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen. In den großen Städten zählen Tausende zur Mittelschicht. Im Unterschied zur Situation in Mittelstädten bilden die Beziehungen innerhalb der Mittelschicht in Großstädten Netzwerke.
Im Moment bildet sich eine Gruppe heraus, die sich als Mittelschicht versteht und auch so benennen lässt. Viele ihrer Mitglieder sind der Meinung, dass "unsere Mittelschicht nicht die gleiche ist wie in der westlichen Welt", dass "sich die Mittelschicht bei uns noch nicht herausgebildet hat". Sie sind größtenteils überzeugt, dass sie in Moskau und noch in zwei bis drei Metropolen Russlands stark vertreten, im restlichen Teil des Landes jedoch unterrepräsentiert sind.
In der marxistischen Altsprache heißt es, diese Gemeinschaft hätte sich als "eine Klasse an sich", nicht jedoch als "eine Klasse für sich" herausgebildet. Die Gruppenidentität fehlt noch, aber eine Vorstellung vom eigenen Menschentyp hat sich bereits herauskristallisiert. Das sind Menschen, die bestimmte Ziele verfolgen und erreichen. Wesentlich ist, dass sie ihre Lebensweise nicht als aufgezwungen empfinden. Sie leben so, wie sie es für nötig halten und wie sie wollen. Man kann in diesem Fall über ein Klassenethos und über Leitwerte sprechen. Solche Menschen sind es gewohnt, Umstände selbst zu bestimmen und die nähere Umgebung selbst zu gestalten. Ihren Platz im Leben verdanken sie eigener Anstrengung und nicht dem Zufall. Diese Menschen halten sich für "normal" und in ihrer Nähe wird einem selbst bewusst, dass man an eine andere Lebensnorm gewohnt ist, dass viele andere Menschen, mit denen man als Soziologe zusammenarbeitet, nur wenig Selbstwertgefühl entwickelt haben.
Die Mittelschicht unterscheidet sich von der Unterschicht dadurch, dass sie es durch eigene Leistungen zu etwas gebracht hat. Die Mittelschichtvertreter bezeichnen sich als "erfolgreich", "aktiv", "die, die etwas erreicht haben". Diejenigen, die nichts erreicht haben" werden von ihnen in zwei Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe sind die "würdigen Armen": Rentner, Ärzte, alle die, die ehrlich gearbeitet haben, aber ein niedriges Einkommen haben. Der Staat und die allgemeine Situation sind Schuld daran, dass es ihnen so schlecht geht. Die zweite Gruppe sind die "unwürdigen Armen": Alkoholiker, Faulenzer, alle die, die arbeiten können, aber nicht wollen. Sie sind selbst für ihre Armut verantwortlich.
Die Träger einer solchen Ideologie unterscheiden sich darin, wie sie die Mehrheit der Bevölkerung einordnen: als benachteiligte fleißige Arbeiter oder als Schmarotzer, die nichts besseres verdient haben. Die Mittelschicht hat einen festen Glauben: Heutzutage kann jeder, der gut leben will, das mit eigener Kraft erreichen. Das ist ihr Lebensprinzip, Ausnahmen werden nur für Alte, Kranke und vergleichbare Personen gemacht. Und anders als der Oberschicht, den "Oligarchen", haben sie sich ihren Wohlstand selbst erarbeitet und nicht "umsonst" durch die Privatisierung bekommen.
Die Mittelschicht ist durch einen einheitlichen Konsumstandard gekennzeichnet. Er wurde wohl nicht neu definiert, sondern höchstwahrscheinlich von denen übernommen, die man in den frühen neunziger Jahren "Neue Russen" (neue Reichen) nannte. Sie wollten zu Beginn den Standard der sowjetischen Parteispitze erreichen. Noch in der kommunistischen Zeit wurde er durch die Triade "Wohnung-Auto-Datscha" bestimmt. Die bekamen Volkskommissare während der Dienstzeit zur Nutzung; Preisträger, Akademiker und staatsverdiente Künstler konnten sie kaufen.
Nach der Eroberung dieser Höhe der Konsumpyramide wandten sich die neuen Reichen dem westlichen Wohlstand zu. Vor dem Hintergrund der Armut erschien ihr Konsum als der Höhepunkt eines wahnsinnigen Luxus. Sie machten sich den Konsumstandard der westlichen Mittelschicht zu eigen: Autos, Villen und Urlaub in Italien.
Das alles übernahm die heutige Mittelschicht. Gerade sie ist auf den Straßen der Großstädte zu sehen. Die wirklich Reichen, die bei Weitem keine Mittelschicht mehr sind, bleiben mit einigen Ausnahmen unsichtbar. Aus diesem Grund kann man sie nicht als Verursacher zukünftiger sozialer Erschütterungen hassen, zu denen die Kluft zwischen Arm und Reich nach leninistischstalinistischer Ideologie führen wird. Die Mittelschicht versucht diese Kluft zu füllen. Und die, die Öffentlich sichtbar sind, deren Autos Staus auf den Straßen der Großstädte bilden, rufen sie Hass hervor? Ich glaube schon. Aber nur innerhalb derselben Mittelschicht, die in diesen Staus steht.
Nachdem die Mittelschicht zuerst das Konsummuster der neuen Reichen übernommen hat, gelten heute andere Normen, die ausgereifter und flexibler sind als einfache Forderungen nach einer bestimmten Uhrenmarke oder einem bestimmten Uhrenpreis. Die "neuen Russen". wie jede neue Gruppe zu Beginn, waren harten Modegesetzen unterworfen wenn Versace gerade "in" war, dann mussten alle Versace tragen, was von der öffentlichkeit verlacht wurde.
Da die Konsumgüter und der Konsumstil auffallend sind und einen sozialen Status signalisieren, sticht die Mittelschicht in der Gesellschaft auch dadurch hervor. Das ist für die Soziologie keine Neuigkeit. Äußerliche Attribute werden nicht nur zur Abgrenzung einer Schicht nach außen, sondern innerhalb der Schicht selbst zur Abgrenzung von anderen benutzt.
Im Russland der 1990er Jahre fiel die Mittelschicht durch den Besitz eines eigenen Autos auf. Später stachen die Besitzer ausländischer Marken aus der Reihe der Ziguli (Lada)-Fahrer hervor. Danach kam die Unterscheidung zwischen ausländischen neuen und gebrauchten Autos selbstverständlich auch Autopreis und -klasse. Die Einfuhr gebrauchter europäischer, amerikanischer, japanischer und koreanischer Autos über die östliche und westliche Grenze der Russischen Föderation war ein klares Zeichen für die Entwicklung der russischen Mittelschicht. Heute spielt die Einfuhr neuer Autos gleicher Marken und der Zuwachs an im Land montierten Wagen diese Rolle.
In der soziologischen Tradition betrachtet man Kleidung, Accessoires, Haushaltsware und -technik als Mittel der sozialen Symbolik, das heißt als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit und der Standardansprüche innerhalb dieser Gruppe. In diesem Zusammenhang konnte man in den 1990er Jahren eine interessante Gesetzmäßigkeit beobachten. Es existieren zwei Vertriebsmöglichkeiten dieser Waren: eine über Geschäfte und eine über den Markt. Auf der semantischen Ebene unterscheiden sich diese zwei Möglichkeiten als "teurer" und "billiger", beziehungsweise als mehr oder als weniger angesehen.
"Neue Russen" kauften in Boutiquen Kleidung und Haushaltsgeräte, die Mittelschicht gab sich mit den billigeren Kopien vom Markt zufrieden. Nachdem die "neuen Russen" die Bühne verlassen haben und der Wohlstand der Mittelschicht gewachsen ist, hat Letztere auch ein Interesse für Boutiquen entwickelt. Als Norm galt danach, dass man nicht auf dem Markt kaufen dürfe, da das nun unanständig sei. In der Praxis gab es keine scharfen Qualitätsunterschiede zwischen Geschäften und Märkten: Es gab auch billige Geschäfte und teure Märkte. Eine Ware konnte auf dem Markt auch teurer sein als im Geschäft. Die Anfangsgegenüberstellung der echten Markenwaren im Geschäft und den billigen Kopien auf dem Markt hat mit der fortschreitenden Modernisierung der Nachahmungskunst ihre Schärfe verloren. Dazu kommt, dass einige Konsumenten aus der Prominenz, an denen sich die Mittelschicht orientiert, mit folgenden Äußerungen prahlen: "Ich lasse mir den Spaß nicht entgehen, auf dem Markt vorbeizukommen, da kann man manchmal ausgezeichnete Sachen finden."
Im Unterschied zu den Standards in der materiellen Kultur hat die Mittelschicht noch kein Bewusstsein für die geistige Kultur entwickelt. Die Mittelschicht hat gewisse Ähnlichkeit mit den sowjetischen Intellektuellen manche Theoretiker schlugen vor, die Intellektuellen als eine sowjetische Variante der Mittelschicht zu bezeichnen. Die Mittelschicht füllt die Konzertsäle in den Großstädten Russlands, aber sie hat keine eigenen Geschmackskriterien entwickelt. Aus diesem Grund kann man nicht von einer spezifischen Kunst oder spezifischen Kultur der Mittelschicht sprechen. Ihre Vertreter reisen viel. Wenn man die Angebote der Weltreiseunternehmer als Kulturgüter betrachtet, dann kann man diesen Bereich für die Kultur der russischen Mittelschicht halten.
Als Hauptmerkmal der Mittelschicht muss man das Bemühen um eine gute Bildung für die Kinder, einer besseren als die der Eltern, bezeichnen. Dieses Bestreben ergreift momentan die ganze Gesellschaft, und die Mittelschicht als der finanzkräftige Teil der Bevölkerung kann für ihre Kinder eine bessere Bildung finanzieren. Größtenteils ist die Schul- und Hochschulbildung in russischen Eliteschulen im Vergleich mit den Weltstandards sehr gut. Die dort ausgebildeten jungen Leute werden eine eigene Nachfrage nach Kultur und Kunst herausbilden.
Die Mittelschicht befindet sich erst in der Phase der Ausarbeitung ihrer moralischen Kriterien und sozialen Normen. Die befragten Vertreter der Mittelschicht berufen sich oft auf die Erfahrungen in anderen Gesellschaften. Sie verweisen darauf, dass die Mittelschicht überall auf der Welt Gleichgewicht und Harmonie sehr hoch schätzt. Sie selbst sorgen nach ihren eigenen Aussagen für die Aufrechterhaltung und Gewährleistung der Stabilität in der Gesellschaft. Und sie erwarten von der Regierung, dass sie genau dies leistet.
Fragt man ab, welche Werte ihnen wichtig sind, wird "Gerechtigkeit" nur sehr selten gewählt, die gleichmäßige Güterverteilung gar abgelehnt. Offensichtlich wurde unter Gerechtigkeit oft ein egalitäres Ausgleichsideal verstanden, mit dem sie nicht einverstanden sind. Viele haben über den Begriff "Freiheit" gesprochen. Für einen Teil der Mittelschicht ist es ein selbstverständlicher Leitwert. Sie haben das Gefühl mit der traditionellen (sowjetischen, kollektiven, staatlich bevormundeten) Lebensweise gebrochen zu haben. Aber viele reagieren auch negativ auf das Wort. Während sie grundsätzlich die Freiheitsprinzipien annehmen, lehnen sie das Wort selbst ab. Die Begriffe "individuelle Verantwortung", "Wahl" und "Freiheit" wurden oft als Synonyme wahrgenommen. Recht" gehört auch zu den hoch geachteten Werten. Manchmal wurden "Recht" und "Gerechtigkeit" für synonym gehalten.
Fragt man nach ihrer Beziehung zur Macht, so beharren sie darauf, dass "sie sie nicht behindert". Aber diese Überzeugung ist nicht mehr so stark, wie sie es bei den Geschäftsleuten der 1990er Jahre war. Die Mittelschicht kann sich auch vorstellen, dass man ihr helfen könne, zum Beispiel durch gute Gesetze.
Vor dem Hintergrund der ethnischen Probleme in der Gesellschaft ist die Gleichgültigkeit der Mittelschicht in dieser Frage bemerkenswert. Sie entscheiden selbst, zu welchem Volk sie gehören. Oft sind das "die Russen", auch dann, wenn in ihren Adern das Blut anderer Völker fließt. Die nationale Zugehörigkeit hat aufgehört, eine stetige Gegebenheit zu sein. Sie ist jetzt wie ein Glaube, den man als Erwachsener wählt. Die Mittelschichtvertreter sind Patrioten und Kosmopoliten zugleich. Sie sind ihrer Aussage nach bereit, die Heimat mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, aber werden selbst einschätzen, ob eine Bedrohung besteht. Manche vertreten, dass die Bürgerpflicht eher darin besteht, die Gesetze zu achten und Steuern zu zahlen.
Ausreisestimmungen gab es bisher nicht es ist interessant, dass die ökonomische Krise nicht immer als ein Anlass für die Ausreise gesehen wird. Die Mittelschichtvertreter schließen nicht aus, dass sich das Regime theoretisch zu einem Zustand entwickeln könnte, der für sie unerträglich werden könnte. Über einen realen Fall wird allerdings gesprochen: "Wenn dem Sohn der Wehrdienst droht", dann müsste man ihn ins Ausland schicken oder mit der ganzen Familie ausreisen. Aber eigentlich werden die Kinder der Mittelschicht nach der Einschätzung ihrer Eltern in Russland leben. Dabei möchten fast alle in den Hauptstädten und viele in den Regionen ihre Kinder als "Weltbürger" sehen. Das widerspricht ihrer Meinung nach keinesfalls der Heimatliebe. Die Kinder haben die Möglichkeit wegzufahren und zurückzukehren, was ihren Eltern nicht möglich war. Man kann in einem anderen Land wohnen, zum Beispiel um zu studieren und dann anschließend zurückkehren.
Die Mehrzahl der befragten Mittelschichtvertreter hält sich für gläubige Menschen. Viele von ihnen haben den orthodoxen oder moslemischen Glauben als Erwachsene angenommen. Aber ihrer Aussage nach sind sie keine eifrigen Kirchengänger und kennen sich in den Fragen der Glaubenslehre schlecht aus. Ihr Glaube beschränkt sich hauptsächlich auf die Existenz einer höheren Gewalt, eines Gottes, der mit Güte, Gerechtigkeit, Lebenssinn und dergleichen gleichgesetzt wird. Populär ist die Behauptung, dass alle Religionen nur Variationen des Glaubens an einen Gott sind. Die Aussage "ich bin Atheist" kommt selten vor. Alle Atheisten betonen zudem ihre Achtung für den Glauben und die Gläubigen.
Die Religionszugehörigkeit der Geschäftspartner spielt bei der Zusammenarbeit keine Rolle. Die Religion ist keine Grundlage für das Vertrauen oder Misstrauen im Geschäftsleben eher die Nationalität oder Stammzugehörigkeit für manche Diaspora- Gruppen. Die Mittelschicht unterstützt das Prinzip der Trennung zwischen Staat und Kirche. Dem entsprechend ist es für sie ausgeschlossen, dass religiöse Normen zu Staatsgesetzen werden. Viele haben nichts gegen die Einführung des Schulfachs "Religionsgrundlagen", aber die Idee der Verbreitung einer bestimmten Religion in der Schule findet bei ihnen keine Unterstützung.
Diese Menschen unterscheiden zwischen der "allgemeinen" Macht und der Macht, mit der sie sich im Alltag auseinandersetzen. Die "allgemeine" Macht ist der Präsident oder in den Regionen ein Gouverneur. Die Alltagsmacht üben lokale Entscheidungs- und Kontrollorganisationen aus. In Bezug auf die höhere Macht entwickeln die Befragten keine besonderen Gefühle. Im Großen und Ganzen muss man sie für loyale Bürger halten. Gleichzeitig wartet die Mittelschicht darauf, dass die Macht durch das Gesetz beschränkt wird.
Die Beziehungen zu den unteren Verwaltungsebenen werden nach den Aussagen der Befragten durch die sich in den letzten Jahren entwickelten "Spielregeln" bestimmt. Diese Regeln werden von beiden Seiten eingehalten. Sie beziehen Gesetzesverstöße, Bestechungen und so weiter mit ein, aber in "vernünftigen Grenzen". Es gibt nur sehr wenige Beschwerden über die Korruption im Verwaltungsapparat. Allmählich herrscht die Meinung, dass Macht eine Art Geschäft mit eigenen Regeln sei. Mit der Erweiterung des eigenen Geschäfts beginnt man über eine Beteiligung in den Machtstrukturen nachzudenken. Man erwägt den Kauf eines entsprechenden Postens in Behörden oder denkt über Bestechung bei strittigen Fragen nach. Wer sich das leisten kann, gehört schon nicht mehr zur Mittelschicht. Sich als Schicht zu organisieren und die eigenen Interessen zu vertreten, davon gibt es noch keine rechte Vorstellung.
Es gibt noch kein klar geäußertes und bewusstes Bedürfnis, politisch Stellung zu beziehen. Eigene politische Interessen fehlen. Wenn die Mittelschichtvertreter Position beziehen, dann als Staatsbürger, nicht als Mitglieder einer Gemeinschaft oder einer Schicht. Es gibt ein Gerücht über die Herkunft des Präsidenten aus der Mittelschicht, aber sie träumen nicht von "ihrem" Präsidenten und erwarten nicht, dass er ihre Interessen vertritt. Es gibt auch keine Partei, die so etwas vertritt.
Immerhin wird seit einiger Zeit von der Notwendigkeit einer "Partei der Mittelschicht" gesprochen. Aus der Erfahrung der politischen Entwicklung vieler Länder im 19. und 20. Jahrhundert wird die Mittelschicht sich jedoch bald politisch organisieren. Man muss aber bedenken, dass das politische Leben in Russland nicht den klassischen Mustern folgt. Man kann russische Parteien nur im geringen Maße als Werkzeuge der Interessenäußerung verschiedener Schichten betrachten.
aus: der überblick 03/2007, Seite 48
AUTOR(EN):
Alexey Levinson
Alexey Levinson ist Soziologe und arbeitet seit 1988 am Allrussischen Institut
für Meinungsforschung, jetzt Levada-Zentrum,
Moskau.