Was Sozialwissenschaftler von Journalisten mit ethischen Haltelinien lernen können
Journalisten, Theologen und Wissenschaftler sind idealiter Konstrukteure von "Welt", – von für "wahr" gehaltener Welt ebenso wie von weltlicher Wahrheit. Sie müssen überzeugen können und als Handwerker glaubwürdig sein. Aber sie können auch blenden und hinter spannend servierten Fakten oder Episoden unbequeme Wahrheiten eher nebulös verhüllen als transparent machen, zum Beispiel wenn es um parteipolitische Beurteilungen geht.
von Rainer Tetzlaff
So ist es ziemlich kläglich, wie eine angesehene und spannend gemachte Hamburger Tageszeitung immer dann schwächelt, wenn es um die Beurteilung von politischen Parteien und ihrer lokalen Leitfiguren geht. Moralische Parteinahme in einer strittigen Sache ist o. k., aber Fakten verfälschende Parteilichkeit bei der Schilderung von politisch relevanten Sachverhalten ist weniger amüsant. Es beleidigt den aufmerksamen Zeitgenossen, wenn er dahinter kommt, dass er durch Weglassen von inopportun gehaltenen Informationen manipuliert werden sollte.
Ich konnte nicht entdecken, dass die Journalisten, die für den "überblick" arbeiteten, jemals manipulativ ans Werk gegangen wären. Sie alle waren und sind Parteigänger, – aber solche nach dem Motto, im Zweifelsfalle für die Unterdrückten, für die an den Rand gestoßenen. Machen wir sichtbar, was andere lieber unter den Teppich kehren. Das war der Fall seit Eberhard le Coutre die Redaktion übernommen hatte, viel ist bis zum Ende so geblieben.
Sozialwissenschaftler haben oftmals Mühe, komplizierte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Ein Punkt ist ein Ort, in dem zwei oder mehrere Linien aus verschiedenen Richtungen oder Weltregionen zusammenkommen und so eine Ortsbestimmung ermöglichen. Und sich verorten in einer vielseitig vernetzten Welt globaler Zusammenhänge ist Tag für Tag nötig, um nicht angesichts der Fülle der Phänomene schwindlig zu werden und orientierungslos durch die Welt zu stolpern.
Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Journalisten auf Grund ihrer fast grenzenlosen Mobilität und Allgegenwart zu dem geworden, was früher Reisebuchautoren, Abenteurer und zeitgemäße Philosophen waren: Überbringer von Nachrichten und erfahrene Deuter von nahen und fernen Ereignissen, möglichst in Echtzeit. Es ist die Profession, von deren Wissen vor allem auch Dozenten und Studenten der Politischen Wissenschaft profitieren, die meist nicht die Möglichkeit haben, so nah an die Brennpunkte der Welt und ihre Akteure heranzukommen wie das couragierte Journalisten der großen Tageszeitungen und renommierter Medienbetriebe können.
Gute Journalistinnen und Journalisten haben gelernt, in diesem Sinne zu agieren und so zu punkten. Es ist eine hohe Kunst, denn sie setzt die Fähigkeit voraus, sich auf Wesentliches zu beschränken, Abstand zu nehmen vom Objekt der Betrachtung und mutig auch dann ein Urteil abzugeben, wenn die Gefühlslage eine andere Aussage vorziehen würde. Zum Beispiel würden wohl alle, denen Afrikas Menschen am Herzen liegen, am liebsten nur Erfreuliches vermelden, denn man weiß ja, dass es das interessierte Publikum – vor allem die engagierte Fan-Gemeinde – am meisten schätzt, wen News und Events ihnen alte, vertraute Urteile und Vorurteile bestätigten.
Die Inkarnation der Verweigerung solcher Versuchungen zur Schönfärberei ist für mich immer Chefredakteurin Renate Wilke-Launer und ihr Team gewesen, die die von Eberhard le Coutre begründete Tradition der diskursiven Wahrheitssuche mit Herz und Verstand fortgesetzt haben und deren Leitartikel und Kommentare ich seit Jahrzehnten mit Gewinn lese. So haben sich die "überblick"-Journalisten zum Beispiel nicht gescheut, die jüngsten Fehlentwicklungen in Südafrika unter einer allzu selbstherrlich amtierenden ANC-Regierung – die Skandale um deren Aids-Politik, die zunehmende Gewalt, die wachsende soziale Armut und die abnehmende Toleranz – anzuprangern (siehe "Verrat an Mandelas Erbe", in: "Wohin geht Afrika?" 3/2006; eine der für mich interessantesten Ausgaben vom "überblick").
Punktgenau der Kommentar der Chefredakteurin: "Die Regenbogennation Nelson Mandelas kämpft mit einer moralischen Krise: Gewalt, einer von Richtungs- und Machtkämpfen geschüttelten Regierungsallianz, einer als gemeingefährlich angesehenen Gesundheitsministerin, einer im Konsumrausch lebenden black spending class, die nicht mit einer für die Demokratie und die Wirtschaft so wichtigen Mittelklasse verwechselt werden sollte" (der überblick Heft 3/2006). Ein passendes analytisches Urteil sine ira et studio.
Couragiert und zu Recht haben sich die "überblicker", einschließlich ihrer einsatzfreudigen Hospitantinnen, oftmals über die Schweiger und Verschweiger unbequemer Wahrheiten aufgeregt – in Afrika wie hierzulande. Beim heiklen Thema Südafrika – denn wenn Südafrika strauchelt, dann stirbt eine große Hoffnung! – haben sie wieder einmal als Seismographen kommenden Unheils die Stimme erhoben, und das, nachdem sie jahrzehntelang den südafrikanischen Staat der Apartheid mit aller gebotenen Schärfe als rassistisch analysiert und als gegen die christliche Botschaft und menschlichen Anstand verstoßend an den Pranger gestellt hatten. So eine Kehrwendung tut wahrscheinlich weh, aber das journalistische Selbstverständnis als Advokaten der Unterdrückten, die nur Gott und ihrem Gewissen (und manchmal der prekären Haushaltslage der Kirchen) verantwortlich sind, lässt oftmals keine andere Wahl. Wer, wenn nicht wir?
Den ästhetisch ansprechenden, trotz des vorherrschenden Schwarz-Weiß bunten "überblick" durchzublättern und hier und da neugierig etwas in Erfahrung zu bringen, hat mir immer viel Spaß gemacht. Er war und ist ein Kunst- und Medienprodukt sui generis. Speziell wenn ich mich rasch in strittigen oder neuen Themen der Weltgesellschaft informieren oder justieren wollte, habe ich gerne den "überblick" zur Hand genommen. Nomen ist omen – selten wurde man auf der Suche nach geistigen Haltepunkten über aktuelle Entwicklungen in den Nord-Süd-Beziehungen enttäuscht.
Denn erstens wartete die Hamburger "Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit" stets mit sorgfältig ausgewählten, interessanten Themen auf, und zweitens konnte man sich darauf verlassen, dass nie einseitige Darstellungen, etwa ohne Reflektion von manchmal unbequemen oder gar anstößigen Gegenpositionen, ins Blatt kamen. Profitiert habe ich von den vielen facettenreich dargebotenen informativen Berichten über Menschenrechtsverletzungen und Gewaltaktionen, über Armut und Verschuldung, über entwicklungspolitische und ökologische Themen, die tiefgründigen Analysen zum Elitenphänomen der Korruption in Afrika, über Befreiungstheologie und Pfingstkirchen, über Kirchentage und Diakonie, – um nur einige wenige anzudeuten.
Und ohne sprachliche Verrenkungen wurde dem sonst wo vernachlässigten Gender-Aspekt eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Auch die Buchbesprechungen haben mir wichtige Anregungen gegeben: Wer zehn Bücher gleichzeitig lesen müsste, weil er möchte oder muss, braucht vertrauenswürdige Vorleser!
Als Hochschullehrer an der Universität Hamburg und am Europa-Kolleg Hamburg habe ich des Öfteren den Studierenden den Schwerpunktteil des "überblick" – zur Entwicklung in Afrika, zu Korruption, zu Religionsfragen, zu demokratischen Wahlen etc. – als Pflichtlektüre genannt. Auch einzelne Länder – China, Süd-Korea, Brasilien, Israel oder Tansania, Kenia und – eine Überraschung für mich – Madagaskar – wurden öfters ins Visier der politischen Landvermesser genommen.
"der überblick" hatte auch deshalb eine singuläre Bedeutung für den interessierten Dritte-Welt-Sympathisanten, weil hier in einem Heft jeweils ein Schwerpunktthema mit diversen Beiträgen unterschiedlicher Art zu einem Brennpunkt der Nord-Süd-Beziehungen präsentiert wurde. Dabei kam ein didaktisches Konzept zum Tragen, das die "überblick"-Hefte zu idealen Materialien für den Schul- und Universitätsunterricht machten: Es wurde nicht doktrinär die reine Lehre verkündet, sondern in postmoderner Manie war die "Wahrheit" vom Leser selbst durch Vergleich und Konfrontation diverser Meinungen herauszuarbeiten. Aufklärung durch Vernunftgebrauch und Einübung in Empathie, so lautete die stille Aufforderung an den Leser.
An einem Beispiel möchte ich die so konstruierte Wahrheit und den daraus gezogenen Gewinn für mich illustrieren. Immer wieder habe ich gestaunt und mich gefreut, dass es den Machern und Macherinnen des "überblick" wieder einmal gelungen war, namhafte Autoren (oftmals in Übersetzung) ins Boot zu holen. Bekanntlich ist im April 1994 in Ruanda ein Genozid (an den Tutsi) sowie ein Massaker an politischen Gegnern der herrschenden Hutu-Clique in Kigali inszeniert worden, der alles an Grausamkeit in den Schatten stellte, was man bis dahin im postkolonialen Afrika erlebt hatte. Im März 1996 – als längst andere Themen der Weltpresse Schlagzeilen machten – erschien "der überblick" mit einer tiefgründigen Analyse der Massaker und des Versagens der Kirchen und der UN-Sicherheitsratsmitglieder.
Unter dem Titel "Ruanda – Alptraum ohne Ende" kamen sowohl renommierte Sozialwissenschaftler und Afrikakenner wie der Franzose Gérard Prunier, der Kanadier Frank Chalk ("ein Verbrechen des Gehorsams") und der Belgier Filip Reyntjens zu Wort, als auch Politiker wie Harald Ganns, der sich als Afrikabeauftragter des Auswärtigen Amtes nachdrücklich für die Unterstützung des militärisch siegreichen Tutsi-Regimes unter Führung von Paul Kagame einsetzte, und Vertreter von amnesty international oder Human Rights Watch/Africa unter anderen.
Unter dem Appell "Was wir den Opfern schuldig sind" hat die Chefredakteurin auch alle unangenehmen, ja peinlichen Aspekte dieser Menschenrechtskatastrophe aufgetischt – etwa die fahrlässige Rolle der christlichen Kirchen, die bornierte Haltung der französischen Regierung wie des UN-Sicherheitsrats oder die geringe Hilfsbereitschaft der Bonner Ministerien bei der Überwindung der "Unkultur der Straflosigkeit", als es darum ging, Finanzmittel und juristisches Fachpersonal für den UN-Strafgerichtshof für Ruanda in hinreichendem Maße zur Verfügung zu stellen.
In der für sie typischen Art, stets auch Parallelen für in Afrika sich ereignende Dramen auch anderswo in der Welt in Augenschein zu nehmen und so das menschliche Drama als globales Spektakel sichtbar zu machen, plädierte Renate Wilke-Launer für eine klare Ortsbestimmung: "Wie die Europäer im Falle des ehemaligen Jugoslawien, so müssen die Afrikaner im Falle Ruandas begreifen, dass es ohne Wahrheit und Gerechtigkeit keinen dauerhaften Frieden geben kann".
Leider haben es noch nicht alle politisch Verantwortlichen in Afrika begriffen, dass das Bemühen um informationelle Wahrheit (durch Bildung von Wahrheitskommissionen) und um soziale Gerechtigkeit als Voraussetzungen für die Heilung der vielen innergesellschaftlichen Wunden, die Genozide, Bürgerkriege und ethnische Konflikte geschlagen haben, anzusehen ist. Die düstere Ahnung, dass sich in Ruanda eine neue Diktatur entwickeln könnte ("Abgleiten in eine neue Diktatur?" 1/1996) hat sich ja leider bewahrheitet (siehe auch den Artikel von Gerd Hankel im Heft 1+2/2007).
Dabei war es dem Team "der überblick"-Redaktion immer ein besonderes Anliegen, nicht nur über die Ursachen und den Verlauf der auf afrikanischem Boden sich abspielenden Krisen zu berichten, sondern auch im Diskurs der Engagierten nach friedlichen Lösungen zu suchen und für diese zu werben. Dafür hat es sich kaum je gescheut, auch die unschönen Seiten der afrikanischen Realität – interethnische Grausamkeiten, politische Morde, Folter, Vergewaltigung, Korruption – anzusprechen und Hintergründe aufzuzeigen, ohne dabei Fehlhandlungen ethisch zu entschuldigen. In den Berichten und Interviews zur aktuellen Darfur-Tragödie hat "der überblick" das Genozid-Thema wieder aufgegriffen: "Man hat aus Ruanda nichts gelernt, unsere medienorientierte Öffentlichkeit ist schwer ansprechbar für vorbeugende Maßnahmen. Erst die Toten mobilisieren" (Gerhard Baum im Interview mit Renate Wilke-Launer und Christoph Wilkens, 2/2006). Zwischen dem journalistischen Landvermesser, der ehrlich um Selbstverortung bemüht ist und beklemmende Grenzerfahrungen inkauf nimmt, und dem uniformierten wissenschaftlich drapierten Verkehrpolizisten, der immer weiß wo es lang geht, besteht bei manchen Gemeinsamkeiten auch ein großer Unterschied: Journalisten müssen rasch durch intelligente Recherche zu Urteilen gelangen, ein Sozialwissenschaftler hat weniger aktuelles Datenmaterial, aber mehr Zeit zum Reflektieren und zum Ergründen von Hintergründen. Beide können von einander profitieren – ihre Arbeitsweisen ergänzen sich.
In den letzten Monaten war mir als Universitätslehrer und Bildungsreferent bei Vorträgen ein weiteres "überblick"-Heft von großem Nutzen war: die aus dem vollen Leben genommenen Beispiele zum alten Übel "Korruption: Die Kunst des Stehlens" (2/2006). In dieser üblen "Kunst" haben es nicht nur, aber auch Repräsentanten der afrikanischen Staatsklasse zu einer egomanischen Meisterschaft gebracht. In diesem schaurig interessanten Heft wird dargestellt, wie nach dem Kalten Krieg aus einer Frage der persönlichen Moral eine höchst brisante politische Angelegenheit geworden ist, die ganze Gesellschaften und Volkswirtschaften in den Abwärtsstrudel reißt. Wer wusste schon, dass es in Sofia/Bulgarien und in Budapest/Ungarn Wissenschaftler wie Ivan Krastev gibt, die politische Korruption als globales Phänomen beobachten und deren hohe wirtschaftliche und soziale Kosten transparent machen?
Einst war das "K-Wort" auch bei der Weltbank tabu (wie der ehemalige Weltbank-Präsident James Wolfensohn später bekannte; auch er selbst durfte anfangs "Korruption" nicht in den Mund nehmen), aber dann kamen die Interessen der US-amerikanischen Firmen (die sich über die Korruption der europäischen Konkurrenzfirmen ärgerten, denen die "nützlichen Abgaben" zur Erheischung von Aufträgen im Ausland steuerrechtlich noch erlaubt waren) und die Bestrebungen der Weltmacht nach einer fairen chancengleichen Marktwirtschaft zusammen, so dass es zu einem regelrechten Kreuzzug gegen die Korruption kam. Seitdem hat Peter Eigen, der Gründer von Transparency International und einstiger Mitarbeiter der Weltbank, neue Hoffnung schöpfen können, diesem Krebsübel der globalisierten Marktwirtschaft durch gemeinsame Anstrengungen auf den Leib zu rücken.
Erschütternde, aber aufschlussreiche Korruptionsanalysen aus Russland und China, aus Mexiko und Nigeria, aus Kenia und der Demokratischen Republik Kongo und aus vielen anderen Teilen der Welt ergeben insgesamt das Bild eines globalen Netzwerkes menschlicher Schwächen, von persönlicher Gier und volkswirtschaftlicher Schäden auf Kosten der Armen, wie man es sonst nirgends in der deutschen Medienlandschaft finden kann. Die "geschmierten Demokratien" in Kenia und Malawi (so Frauke Manninga und Birte Krüger in ihrer Diplomarbeit, beide haben beim "überblick" gearbeitet) sind Beweis einer tiefen kulturellen Entfremdung zwischen der vom Ausland gehätschelten afrikanischen Staatsklasse und einer verzweifelten Bevölkerung, die in die Verarmung und in die Emigration getrieben wird. Die Sichtbarmachung von sozialen Verhaltensweisen im Weltmaßstab wie politische Korruption oder – um andere Beispiele anzuführen – von jugendlicher Gewalt oder religiöser Suche nach Heil und Geborgenheit – vernetzt im Bewusstsein des aufmerksamen Lesers die politische Welt der 192 Staaten zu einer interdependenten Weltgesellschaft, zur "einen Welt" der sechs Milliarden Erdenbürger.
Mit dem als Fusion bemäntelten Ende des "überblick" geht ein Stück medienkulturellen Reichtums den Bach herunter und dem Leser drängt sich die alte Fontane-Frage auf: Ob das alles so hat kommen müssen.
aus: der überblick 04/2007, Seite 73
AUTOR(EN):
Rainer Tetzlaff
Prof. emeritus Rainer Tetzlaff ist Dozent am Europa-Kolleg und Mitglied des "Centrums für Globalisierung und Governance" (CGG) der Universität Hamburg.