Die Parlamentswahl in Äthiopien und die Repression der Regierung
"Wir fühlen uns verraten von der Demokratie. Es scheint, als hätte die Regierung uns ermuntert, frei unsere Meinung zu sagen, um herauszufinden, wen sie im entscheidenden Moment festnehmen könnte." (äthiopischer Journalist, Dezember 2005)
von Jon Abbink
Seit Mai 2005 befindet sich die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien in einer tiefen politischen Krise. Dabei hatte alles so gut begonnen: Die Parlamentswahlen vom 15. Mai 2005 waren von dem (nicht ganz neutralen) Nationalen Wahlausschuss ordentlich organisiert worden. Selbst im staatlichen Fernsehen hatte es wichtige Debatten gegeben, es gab einen intensiveren und freieren Wahlkampf als je zuvor in Äthiopien. Getragen von Erwartungen auf weitere Demokratisierung und Veränderungen, gab es eine hohe Wahlbeteiligung, vielerorts lag sie bei 90 Prozent.
Das Wahlergebnis spiegelt etwas von dieser Aufbruchstimmung: Die Oppositionsparteien, vor allem die zwei großen Koalitionen United Ethiopian Democratic Forces (UEDF) und Coalition for Unity and Democracy (CUD), gewannen fast ein Drittel der 547 Sitze im Haus der Volksdeputierten (Parlament). Allerdings konnte die Regierungspartei Ethiopian Peoples' Revolutionary Democratic Front (EPRDF) eine Koalition verschiedener Parteien unter der Führung der Tigray People's Liberation Front (TPLF) immer noch die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen.
Doch das Ergebnis ist heftig umstritten: Schon am 17. Mai, zwei Tage nach der Wahl, als noch nicht einmal zehn Prozent der abgegebenen Stimmen ausgezählt worden waren, hatte Premierminister Meles Zenawi verkündet, die EPRDF habe die Wahl gewonnen. Diese Aussage kann als Zeichen der Angst vor möglichem Stimmenverlust gewertet werden, denn die Wähler hatten dort, wo sie sich öffentlich zu äußern wagten, überwiegend ihre Sympathie für die Opposition bekundet. Wahrscheinlich wurde deshalb unmittelbar nach dem Wahltag beschlossen, die Auszählung zu verzögern.
Premierminister Meles Zenawi verhängte zudem ein Demonstrationsverbot, eine Art Notstandsgesetz. Spezialtruppen der Armee und Milizen wurden in Bereitschaft versetzt, um öffentliche Proteste schnell mit allen Mitteln unterdrücken zu können. Am 4. Juni 2005 fand gleichwohl die erste Straßenschlacht zwischen Armee-Einheiten und demonstrierenden Studenten an der Universität in Addis Abeba statt. Mindestens 46 Menschen wurden dabei getötet und hunderte verletzt. Auch in anderen Städten gab es blutige Auseinandersetzungen.
Das Endergebnis wurde vom Nationalen Wahlausschuss erst am 5. September 2005, also mehr als drei Monate nach der Wahl veröffentlicht. Die Opposition beklagte sich über Wahlbetrug und eine Reihe von Abgeordneten, insbesondere der CUD, weigerte sich zunächst, ihre Sitze im Parlament anzunehmen. Die Wahlbeobachter der Europäischen Union (EU) äußerten sich in einem detaillierten Bericht kritisch, auch die aus den USA sprachen von Unregelmäßigkeiten. Die Kritik der Vertreter der Afrikanischen Union war dagegen außerordentlich mild, der Bericht oberflächlich. 30 lokalen äthiopischen Organisationen hatte die Regierung im April 2005 untersagt, die Wahl zu beobachten.
Eine zweite Runde von Demonstrationen und anderen Formen friedlichen Protests fand im Oktober und November 2005 statt und wurde wiederum mit harter Hand unterdrückt, wobei Dutzende von Menschen bei neuen Straßenunruhen in Addis Abeba von der Armee getötet wurden. Es gab viele Verletzte, und einige zehntausend Demonstranten zumeist Jugendliche wurden verhaftet und in weit von der Hauptstadt entfernte Gefängnisse und Lager verbracht.
Außerdem wurde eine Kampagne zur Unterdrückung und Zerstörung der Oppositionsparteien eingeleitet, unter anderem durch Infiltration von EPRDF-Sympatisanten in die UEDF. Die gesamte Führungsriege der Oppositionspartei CUD wurde im November 2005 verhaftet und verschiedener Gewalttaten und gar der Planung eines Genozids bezichtigt eine absurde Anklage ohne jegliche Beweisgrundlage. Trotz internationalen Drucks ließ die äthiopische Regierung unter Meles Zenawi keinen der Inhaftierten frei.
Wie viele von Entwicklungshilfe abhängige Regierungen hatte auch die äthiopische verbal den Wünschen der Geber nach mehr Demokratie, guter Regierungsführung und Transparenz entsprochen. Das hatte in der Bevölkerung Hoffnungen genährt. Warum reagierte sie dann so hart, als sich abzeichnete, dass die Oppositionsparteien starke Gewinne verbuchten und sich in den Städten fast überall durchgesetzt hatten?
Historisch betrachtet hat Äthiopien eine ziemlich autoritäre Tradition. Der über lange Zeit hinweg gewachsene politische Herrschaftsstil kennt ein großes Repertoire an Macht- und Autoritätssymbolik. Die politische Kultur in Äthiopien ist gekennzeichnet von hierarchisch-autoritärem Denken. Es wird von oben nach unten regiert, wenn nötig mit plötzlicher repressiver Gewalt. Die Exekutive hat die Macht über die Legislative und die Justiz. Die Elite meint zu wissen, was das Land braucht. Oppositionelle oder alternative Ansichten über die nationale Politik werden grundsätzlich ignoriert. Seit über 200 Jahren ist kein Machtwechsel in Äthiopien friedlich verlaufen. Politische Macht mit Opponenten zu teilen, wird als Bedrohung der eigenen Machtposition und Verlust der Würde betrachtet.
äthiopiens Staatsstruktur existiert schon seit dem vierten Jahrhundert n.Chr. Die Institutionen sind jedoch immer schwach gewesen und die wirkliche Macht blieb in den Händen des Kaisers, des Präsidenten oder des Regierungsführers und der herrschenden Eliten. Dies waren unter Kaiser Haile Selassie (1930-1974) die Aristokratie, die Großgrundbesitzer, Geschäftsleute und die Kirche, unter Mengistu Haile-Mariam (1974-1991) die Armee und ihre Führungselite sowie die marxistisch-sozialistische Einheitspartei (Workers' Party of Ethiopia) und seit 1991 unter Meles Zenawi schließlich die Ex-Guerrilla-Armee/Partei der TPLF/EPRDF, die neue Bürokratie und der Partei nahestehende Geschäftsleute.
Die seit Mai 1991 regierende Ethiopian Peoples' Revolutionary Democratic Front (EPRDF) unter Meles Zenawi hat nach dem Militärsieg über Mengistus Armee ein neues politisches System eingeführt, mit vielerlei Versprechungen wie Demokratie, freie Presse (vergl. "der überblick" 4/2003), respektierte Rechte für ethnische Minderheiten und Liberalisierung der Wirtschaft. Tatsächlich hat sich vieles geändert im Land, und neue Institutionen wurden gebildet, die den Weg zu Demokratie und Wirtschaftswachstum vorbereiten sollten. Meles Zenawi hat aber niemals Zweifel darüber aufkommen lassen, dass es eine Regierung ohne führende Rolle der EPRDF nicht geben werde einer ethnoregionalen, ursprünglich marxistisch-leninistischen Bewegung. Sie sollte Kern des neuen Regimes sein und bleiben.
In den letzten zehn bis 15 Jahren bildeten sich Oppositionsgruppierungen, die größtenteils aus dem Nichts geschaffen werden mussten, weil unter Mengistu alle unabhängige politische Aktivität verboten war. Derartige Gruppen wurden seit 1991 zwar von der EPRDF geduldet, aber auch sabotiert, wenn sie zu populär wurden (zum Beispiel die National Democratic Union in den Jahren 1991 bis 1993). Andere blieben illegal oder zogen den bewaffneten Kampf gegen das herrschende Regime politischem Engagement vor.
Das Wahlsystem in Äthiopien ist kompliziert und hat von Anfang an (seit 1991) einen ethnischen Charakter gehabt, wobei nationale, nicht-ethnische Parteien von der EPRDF-Regierung in ihren Rechten beschnitten und unterdrückt wurden. Jede Ethno-Region zum Beispiel Oromiya, Tigray, Amhara, Somali oder Afar durfte lediglich ethno-regionale Parteien zulassen. Die national orientierten Gruppierungen erhielten keine Chance, einen eigenen Wahlkampf in Gebieten zu führen, wo sie keine ethnische Mehrheit hatten. In den Wahlen von 1995 und 2000 und auch in den dazwischen liegenden Wahlen für Distrikte und Zonen war die EPRDF immer in der Lage, selbst oder mit Hilfe von Satellitenparteien zu siegen, da sie eine sehr starke Stellung in der Landbevölkerung hat. Diese will sie sich auch nicht nehmen lassen.
Vor den Wahlen im Mai 2005 hatten sich aber innerhalb kürzester Zeit einige nationale Oppositionsparteien bilden können, die erfolgreich mit aktiven Kampagnen, bedeutender Medienpräsenz und überzeugenden neuen Stars aus der städtischen Mittelklasse in der Führung eine Alternative anbieten konnten mit politischen Programmen, die sich weit von denen der EPRDF entfernt hatten. Ohne Zweifel spielten, neben der grundsätzlichen Aversion vieler Äthiopier der EPRDF-Regierung gegenüber, die neu errungene Pressefreiheit und auch die Fernsehdebatten in den Monaten vor der Wahl hierbei eine große Rolle.
Die CUD, eine im Jahr 2003 gegründete Koalition aus vier Parteien, verzeichnete bis zu den Wahlen 2005 und darüber hinaus einen starken Popularitäts- und Mitgliederzuwachs. Sie wird vor allem von der Mittelklasse wie Beamten, Lehrern und Händlern getragen. Ihr Erfolg beruhte vor allem auf dem nicht-ethnischen Charakter der Partei. Damit bot sie eine Alternative für die große Gruppe von Menschen unterschiedlicher Herkunft in den Städten, die im heutigen ethno-föderalen Modell keine offizielle Identität, oder wie man es in Äthiopien offiziell nennt, keine Nationalität, sprich ethnische Gruppenangehörigkeit, haben. In den Wahlen von 2005 konnte sie jedoch auch in ländlichen Gebieten (unter den Amhara, Gurage, und kleineren Minderheitsgruppen) Erfolge erzielen, die bislang eine Hochburg der EPRDF und ihrer Satellitenparteien waren.
Die UEDF ist die zweite interessante Oppositionspartei, die aber eher einen föderativen, ethnischen Charakter hat und außerdem einen sehr großen Anteil von Diasporagruppen beheimatet, die im Exekutivrat der Partei einen Sitz haben. Sie erhielt viele Stimmen unter den Oromo, Hadiya, Kambata, Sidama, Gamo, anderen kleineren Gruppen und einem Teil der städtischen Bevölkerung. Die politischen Ziele der UEDF sind weniger auf die nationale Einheit gerichtet, als vielmehr auf die Stärkung des Föderalismus, der den ethnischen Gruppen in den Regionen wirkliche Autonomie geben würde. Der Einfluss der Diasporagruppen ist jedoch manchmal störend und es gibt regelmäßig Streitigkeiten innerhalb der Führung, wenn sich die Gruppen aus dem Ausland zu stark einmischen.
Eine andere Überraschung bei den Wahlen von 2005 war das Abschneiden des Oromo Federal Democratic Movement (OFDM), einer nationalistischen Oromo-Partei, geleitet vom ehemaligen Weltbankmitarbeiter Bulcha Demeqsa, die erst ein Jahr vor den Wahlen gegründet worden war. Sie erhielt auf Anhieb elf Sitze im Parlament, ist allerdings in der Öffentlichkeit inzwischen kaum noch zu bemerken. Das Programm von OFDM ist auf eine weitere Föderalisierung Äthiopiens und die Anerkennung der amharischen und der Oromo-Sprache als die zwei offiziellen Sprachen des Landes ausgerichtet. Die Partei hat ihre Wähler hauptsächlich in Wollega, im Westen Äthiopiens.
Ist also inzwischen alles wieder normal, wie die Regierung seit Dezember 2005 immer wieder betont? Zwar manifestiert sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht mehr wie zuvor in öffentlichen Protesten, aber sie ist nach wie vor groß.
Seitens der Regierung gibt es keinerlei Anzeichen der Öffnung zur Opposition. Die Pressefreiheit bleibt stark beschränkt, die zivilgesellschaftlichen Organisationen werden behindert und die ländliche Bevölkerung wird autoritär in das EPRDF-System eingegliedert. Dialoge, die Regierungsvertreter und manchmal auch der Premierminister Meles Zenawi selbst mit Repräsentanten westlicher Geberländer veranstalten, haben bisher nichts an der Situation im Land geändert. Die Führung der CUD-Partei befindet sich noch immer im Gefängnis, wo viele unter den harten Haftbedingungen leiden, die ihre Gesundheit und ihr Leben gefährden. Auch Tausende von Demonstranten befinden sich noch in Haft. Gegen Dutzende von Politikern, Journalisten, Akademikern, Aktivisten und Mitarbeitern von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) wurden auf der Grundlage von zweifelhaften Anschuldigungen Verfahren eingeleitet. Aus den ländlichen Gebieten hört man immer wieder, dass die regierende Partei versucht, Sympathisanten der Opposition aufgrund ihrer "falschen" Wahlentscheidung zu verfolgen und zu bedrohen. Menschenrechte sind nicht garantiert.
Seit Ende 2005 baut die EPRDF eine neue Massenorganisation der Bauern auf, die sich noch immer in einer ziemlich abhängigen Position gegenüber dem Regime befinden. Die Bauern stellen noch immer etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Die Parteizeitung der EPRDF, Abiotawi Demokrasi, berichtete am 15. August 2006, dass drei Millionen Bauern schon als Parteimitglieder organisiert worden seien. Solch ein Parteimitglied soll über drei bis fünf Haushalte Bericht an die Parteileitung erstatten. Die große Kooptation und "Eingliederung" der äthiopischen Bevölkerung hat also wieder begonnen. Ziel der Regierungspartei ist es, eine Wiederholung des für sie katastrophalen Wahlergebnisses vom Mai 2005 zu verhindern, zum Beispiel bei den kommenden Distriktswahlen im Jahr 2007.
Wenn die Regierung also behauptet, dass die Ordnung auf den Straßen der Städte und auf dem Land wieder hergestellt sei und sich die Lage normalisiert habe, muss man betonen, dass das überwiegend mit Zwang und Gewalt erreicht wurde, nicht mit Überzeugungskraft.
Stabil ist die Lage nicht. In den letzten Monaten wird nämlich auch mehr Unruhe in der Armee sichtbar. Mitte August 2006 etwa desertierten verschiedene hohe Offiziere der Armee nach Eritrea, wie der Brigadegeneral Kemal Geltu mit 150 Soldaten. Ihnen folgten eine Woche später noch weitere Kommandanten. Viele dieser Überläufer sind Oromo, die das EPRDF-Regime wegen der vermeintlichen Diskriminierung anderer ethnischen Gruppen nicht mehr akzeptieren. Auch nimmt der bewaffnete Widerstand einiger Rebellengruppen wieder zu.
Wie kann angesichts dessen die Zukunft aussehen? Das Wirtschaftswachstum hält noch an und es wird weiter in Richtung Marktwirtschaft reformiert, auch wenn sich der Einfluss der EPRDF in der Wirtschaft verstärkt. Für die Weltbank und verschiedene Geberländer genügt das, um immer neue Kredite und Hilfen zu geben. Die Amerikaner sehen Meles Zenawi als strategischen Partner im Krieg gegen den Terror. In der Tat gibt es Terrordrohungen in der Region und die internationale Politik der äthiopischen Regierung im Hinblick darauf ist nicht immer falsch. Aber man kann sich fragen, ob ein Regime, das sich gegenüber der eigenen Bevölkerung immer feindlicher verhält, noch bedingungslos unterstützt werden kann.
Der Demokratisierungsprozess ist strukturell und ideologisch eingeschränkt. Er wird von der herrschenden Partei stark kontrolliert und gelenkt, die keine liberale, sondern eine "revolutionäre" Demokratie einführen will. Diese revolutionäre Demokratie setzt auf die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung durch die Partei. Sie besteht aus einer Mischung von marxistischer und einer ethno-nationalen Ideologie und wurde von oben durchgesetzt. Zu Zugeständnissen an die Opposition ist die EPRDF nicht bereit, weil sie der Meinung ist, selbst am besten zu wissen, was gut für das Land ist. Der Erfolg einer Demokratisierung, das zeigen Forschungsergebnisse aus vielen Ländern, ist immer auch abhängig von einer Mittelklasse, die ein Gegengewicht zur Regierung bildet. Genau das aber will die Regierung nicht zulassen, wie ihre Reaktion auf das Wahlergebnis in den Städten zeigt.
Mit der wachsenden Bedrohung durch die Somalia-Krise, die diversen Widerstandsbewegungen und die ethnischen Spannungen im Lande, zieht die EPRDF-Regierung den Erhalt ihrer Macht demokratischen Reformen und einer nationalen Verständigung vor. So scheint Äthiopien leider ein weiteres Beispiel für fehlgeschlagene Demokratisierungsprozesse in Afrika zu werden. Für die äthiopischen Oppositionsparteien ist es eine Enttäuschung, dass westliche Geberländer sie nach anfänglicher Ermutigung in den entscheidenden Momenten im Stich gelassen haben. Sie haben sich nicht einmal an die politischen Minimalbedingungen gehalten, die sie selbst für die Vergabe von Entwicklungshilfe aufgestellt haben.
aus: der überblick 03/2006, Seite 46
AUTOR(EN):
Jon Abbink
Jon Abbink
ist Ethnologe und Afrika-Forscher am "Afrika-Studiecentrum" in Leiden und Professor an der Freien Universität Amsterdam, Niederlande.