Die Wiederbelebung von Medikamenten gegen die Schlafkrankheit dank der Kosmetikindustrie
Weil die Produktion von Medikamenten gegen die Schlafkrankheit teuer und die Kaufkraft auf dem afrikanischen Markt zu gering ist, stellten Pharmaunternehmen deren Produktion in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein. Selbst die Weltgesundheitsorganisation konnte lange keine Firma finden, welche die Herstellung solcher Arzneimittel auf Dauer zusichern wollte. Erst als herauskam, dass Eflornithin, der Wirkstoff eines wichtigen Medikaments zur Therapie der tödlichen Schlafkrankheit, auch als Haarentferner verwendbar ist, zeigte die Industrie neues Interesse.
von August Stich
Die “unsichtbare Hand des Marktes”, so hat der klassische Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith einst postuliert, könne das Streben einzelner nach individuellem Vorteil in das Wohl aller verwandeln. Und - wie diese Geschichte zeigt - kann das Streben einzelner nach Schönheit, dank der Marktkräfte einen Kontinent von einer tödlichen Geißel befreien. Doch zunächst hatten die Marktkräfte dem schon zurückgedrängten Tod den Weg wieder frei gemacht. Aber fangen wir vor vorne an und dort, wo der Tod Nachbar ist: in den Tropen.
Die Tropen sind die Region der Erde mit der höchsten Belastung durch Infektionskrankheiten. Manche Erreger tropenmedizinischer Krankheitsbilder werden zwar intensiv erforscht, doch erbringen gerade hier die Grundlagenwissenschaften nur selten Ergebnisse, die zu spürbaren Verbesserungen in Diagnostik, Therapie und Kontrolle der Tropenkrankheiten führen. Das gilt insbesondere für die Schlafkrankheit, jene vergessene Seuche Afrikas, deren verheerende Epidemien in jüngster Zeit von der internationalen Fachwelt und Öffentlichkeit kaum mehr zur Kenntnis genommen wurden.
Die Schlafkrankheit (Afrikanische Trypanosomiasis) ist ausschließlich in den Ländern Afrikas südlich der Sahara verbreitet. Durch den Stich infizierter Tsetsefliegen wird sie auf den Menschen übertragen. Die Erreger breiten sich zunächst in der Blutbahn und im Lymphsystem aus und befallen nach einer Zeit von einigen Wochen bis Monaten das zentrale Nervensystem. Dort führen sie zu einer chronischen Gehirnentzündung. In der Folge kommt es zu schleichender Wesensveränderung und vielfältigen neurologischen Symptomen, deren vorherrschendes klinisches Zeichen eine auffällige Apathie und Schläfrigkeit ist. Eine Infektion verläuft immer tödlich, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird.
In der Vergangenheit hat die Schlafkrankheit in weiten Teilen des tropischen und subtropischen Afrikas den Aufbau einer intensiven Viehwirtschaft verhindert und menschliche Besiedlung nahezu unmöglich gemacht. Das bremste die Besitznahme des Kontinents durch die europäischen Mächte und mit ihr die Verbreitung des Christentums auf der einen sowie das Vordringen der Araber und die Verbreitung des Islam auf der anderen Seite erheblich. Die vordringenden Kolonialmächte konnten weder Weide- noch Plantagenwirtschaft betreiben, wo die Schlafkrankheit grassierte. Die Seuche war deshalb für die Wirtschaft ein bedeutender Faktor, der ins Kalkül gezogen werden musste. So wurde vor rund 100 Jahren die Entwicklung von Medikamenten gegen die menschliche und tierische Schlafkrankheit ein Schwerpunkt der pharmazeutischen Forschung, bei der sich auch deutsche Firmen erfolgreich hervorgetan haben. Robert Koch selbst regte durch seine Expeditionen ins Innere Ostafrikas eine zielgerichtete pharmazeutische Forschung zur Bekämpfung der Schlafkrankheit an. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren schließlich ein paar Wirkstoffe entwickelt, die für die Therapie der verschiedenen Stadien der Schlafkrankheit eingesetzt werden konnten.
Seither hat sich das Spektrum dieser Medikamente nicht mehr wesentlich verändert. Im Zentrum steht auch heute noch Melarsoprol, ein hochgiftiges Arsenpräparat, dessen Anwendung schmerzhaft und gefährlich ist. Vier bis zwölf Prozent aller Patienten, die mit dem Medikament behandelt werden müssen, überleben die Therapie nicht. Außerdem mehren sich inzwischen Berichte, dass die Therapie von Anfang an nicht wirkt, weil Erregerstämme gegen den Wirkstoff resistent geworden sind. Alternative Medikamente mit einer höheren Effektivität und geringeren Toxizität werden deshalb dringend benötigt.
Die Schlafkrankheit hat sich in den letzten drei Jahrzehnten im Inneren des afrikanischen Kontinents epidemisch ausgebreitet. Obwohl in den sechziger Jahren fast besiegt, hat der Erreger heute nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wieder etwa 500.000 Menschen in Zentral- und Westafrika infiziert. Sie gehen einem sicheren und qualvollen Tod entgegen, wenn sie nicht rechtzeitig fachgerecht behandelt werden.
Im Jahr 1980 erschien für kurze Zeit ein Silberstreif am Horizont: Forscher im Merrell International Research Centre in Straßburg stellten eine Substanz namens Eflornithin vor, die ursprünglich zur Therapie von Brustkrebs entwickelt worden war. Die erstaunliche Wirksamkeit von Eflornithin gegen Trypanosomen, die Erreger der Schlafkrankheit, wurde rasch bei Labortieren und schließlich Mitte der achtziger Jahre auch in klinischen Studien im Sudan, Kongo und in Uganda bestätigt. Im Vergleich zur konventionellen Melarsoprol-Therapie vertragen die Patienten Eflornithin wesentlich besser. Die therapiebedingten Todesfälle sanken auf unter vier Prozent. Eflornithin zeigte sogar bei Patienten, die bereits im Koma lagen, heilende Wirkung und ließ sie wieder aufwachen. Das trug dem Wirkstoff den Namen “Auferstehungs-Medikament” ein. 40 Jahre nach der Entwicklung von Melarsoprol schien endlich ein neuer Hoffnungsträger im Kampf gegen die Schlafkrankheit zur Verfügung zu stehen.
Doch was dann folgte, ist ein dunkles Kapitel der viel gepriesenen Kräfte des Marktes und war ein Schlag ins Gesicht derer, die an eine humanitäre Verantwortung der Industrie glaubten. Das Unternehmen Merrell, dem das Entwicklungslabor für Eflornithin zugeordnet war, fusionierte 1981 zu Merrell Dow und 1989 zu Marion Merrell Dow (MMD). Diese Fusionen führten dazu, dass verschiedene Forschungs- und Produktionseinrichtungen der Mutterfirmen geschlossen wurden, und zum Produktionsstopp von Medikamenten, die in den Firmenbilanzen als unrentabel erschienen. Dazu gehörte auch Eflornithin, das weder die Chance noch das Ziel hatte, profitabel zu sein. Auch in der Reisemedizin spielt die Schlafkrankheit keine Rolle, da nur vereinzelte Fälle bei Afrikatouristen auftraten. Somit existierte kein attraktiver Markt. Die Entscheidungsträger in den Chefetagen der Konzerne verloren das Interesse. Als 1995 MMD in dem Konzern Hoechst Marion Roussel aufging, war es beschlossene Sache, die Produktion von Eflornithin einzustellen.
Das Patent mit sämtlichen Rechten wurde der WHO angeboten, die damit auch die Aufgabe übernehmen sollte, einen neuen Produzenten für Eflornithin zu finden. Das internationale Pharmaunternehmen Aventis, das schließlich aus all diesen Fusionen hervorgegangen war, übernahm zwar noch einmal die Weiterverarbeitung eines Restpostens der Rohsubstanz. Die bis dahin letzten 10.000 Ampullen von Eflornithin entstanden 1999. Mit diesem Schritt aber zog sich das Unternehmen erst einmal aus der Verantwortung zurück. Während die Medikamentenvorräte in Afrika zur Neige gingen, bemühte sich die WHO bereits seit 1990, eine neue Produktionsstätte für Eflornithin zu finden. Dabei führte die Suche über die großen Unternehmen schließlich nach Texas, Ägypten und Indien, überall erfolglos. Die aufgrund der Fluorchemie relativ schwierige Synthese des Rohstoffs von Eflornithin erwies sich als aufwendig, kostspielig und damit unrentabel. Vorläufige Kalkulationen erreichten die Höhe von knapp 1000 US-Dollar pro Behandlungszyklus von 14 Tagen, ein Preis, der für den afrikanischen Markt auf unerreichbar hohem Niveau lag.
Zu Beginn des neuen Millenniums war schließlich eine Situation eingetreten, in der sich die Schlafkrankheit vielerorts erneut als nicht mehr therapierbar entpuppte. Die Lage ähnelte der im Jahr 1906, als Robert Koch bei seiner Expedition vor Hunderten sterbender Patienten stand - mit dem Unterschied allerdings, dass inzwischen bereits verfügbare Medikamente aus Rentabilitätsgründen wieder vom Markt genommen worden waren. Die Situation in den Projekten in Angola, Sudan, Uganda beispielsweise, welche die Schlafkrankheit kontrollieren, ließ die Ärzte verzweifeln.
Doch dann begann vor wenigen Jahren eine erstaunliche Entwicklung: Am 3. Mai 2001 unterzeichneten die WHO und der Pharmakonzern Aventis ein Abkommen, das die Herstellung von Arzneimitteln zur Behandlung der afrikanischen Schlafkrankheit langfristig sichern soll. Aventis wird neben den Medikamenten Pentamidin und Melarsoprol vor allem auch ausreichende Mengen des Wirkstoffs Eflornithin zur Verfügung stellen und damit den Bedarf an Medikamenten gegen die Schlafkrankheit zumindest bis zum Jahr 2006 decken. Darüber hinaus signalisierte das Unternehmen Bereitschaft, zukünftigen Herstellern Technologie und Know-how zur Verfügung zu stellen, um langfristig die Produktion dieser Medikamente zu gewährleisten. Bereits im November 2000 hatte die deutsche Bayer AG bekannt gegeben, entgegen vorherigen Plänen die Schlafkrankheitsmedikamente Suramin und Nifurtimox weiterhin herstellen zu wollen.
Was sind Geschichte und Hintergründe dieser Entscheidungen? Wer dem nachgeht, stößt auf die faszinierende neue Karriere des in Deutschland noch weitgehend unbekannten Wirkstoffes Eflornithin.
Die internationale Hilfsorganisation “Ärzte ohne Grenzen” (Médecins Sans FrontiPres - MSF), deren humanitäre Arbeit 1999 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt wurde, begann im gleichen Jahr eine Kampagne, die sich für fairen Zugang zu Medikamenten gegen einige wichtige Infektionskrankheiten einsetzt. Die Schlafkrankheit gehörte zu den Schwerpunkten dieser Kampagne. Ziel war es, eine Wiederaufnahme der Produktion von Eflornithin in ausreichender Menge und zu einem erschwinglichen Preis zu erreichen. Auch damals scheiterten die Verhandlungen mit mehreren Pharmaunternehmen, die als potenzielle Produzenten für Eflornithin infrage gekommen wären. Man konnte nur noch auf ein Wunder hoffen.
Dann überraschte Ende des Jahres 2000 das Pharmaunternehmen Bristol-Myers Squibb (BMS) mit einer Neuigkeit: Zusammen mit Gillette war das Externum Vaniqa als Enthaarungscreme für Frauen entwickelt worden, ein verschreibungspflichtiges Kosmetikum, das vor allem zur Beseitigung von Damenbart angewendet wird. Vaniqa enthält als Wirkstoff einen alten Bekannten: Eflornithin zu 13,9 Prozent. Das Präparat hatte noch im Jahr 2000 das Genehmigungsverfahren der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) durchlaufen. In Fernsehspots und Illustriertenanzeigen in den USA wird die Creme in den höchsten Tönen angepriesen. Bei einer Zielgruppe von 20 Millionen Amerikanerinnen und monatlichen Behandlungskosten von mehr als 50 US-Dollar sind Werbeausgaben in Millionenhöhe offenbar gut durchkalkuliert. In Deutschland ist Vaniqa seit Oktober 2004 als verschreibungspflichtige Creme erhältlich.
Dass unbemerkt eine neue Produktionsstätte für Eflornithin aufgebaut worden war, nach der die WHO und MSF seit Jahren verzweifelt gesucht hatten, überraschte die Fachwelt der Schlafkrankheitsexperten völlig. Die daraufhin aufgenommenen Verhandlungen mit BMS, die angelaufene Vaniqa-Produktion auch für die Herstellung von Eflornithin zur Schlafkrankheitstherapie zu nutzen, waren jedoch nicht erfolgreich. Sie scheiterten an der Finanzierung der wenigen weiteren Schritte, die zur Aufreinigung des Medikaments noch notwendig gewesen wären, damit es intravenös verabreicht werden kann.
Dadurch war eine wahrlich groteske Lage entstanden: Der gleiche Wirkstoff, der in Industrienationen als Kosmetikum teuer angepriesen und verkauft wird, hätte in Afrika Leben retten können, wurde dafür aber nicht vertrieben. Wäre es dabei geblieben, hätte nicht nur die Pharmaindustrie jede Glaubwürdigkeit verloren, ernsthaft an humanitären Diensten interessiert zu sein. Umso erfreulicher ist daher die Vereinbarung zwischen Aventis und der WHO, die die Produktion der notwendigen Therapeutika gegen die Schlafkrankheit vorerst sicherstellt. Der Vaniqa-Hersteller BMS ist an diesem Abkommen nur zu einem kleinen Teil beteiligt: Es ko-finanzierte die Bereitstellung des Arzneimittels im ersten Jahr. Diese Entwicklung ist begrüßenswert und ihre Bedeutung für eine erfolgreiche Fortführung der Kontrollprogramme zur Eindämmung der Schlafkrankheit im Inneren Afrikas unschätzbar. Ob sie allerdings Ausdruck ethischer Verantwortung forschender Arzneimittelhersteller ist oder Folge jahrelangen internationalen Drucks, darüber darf gerätselt werden. Und die Lösung der Frage, ob diese Public-Private-Partnership, wie das gemeinsame Engagement von Pharmaindustrie, Weltgesundheitsorganisation und “Ärzte ohne Grenzen” genannt wird, die nächsten fünf Jahre überdauern wird, entwickelt sich wieder zu einer Zitterpartie. Aventis ist 2004 mit Sanofi zu einem neuen Pharmariesen verschmolzen, der wieder neue Maßstäbe setzt. Und die Bayer AG leckt noch die Wunden des “Lipobay-Skandals”, der das Unternehmen fast ruiniert hätte. Der Kampf für einen gerechten Zugang zu Medikamenten für Menschen in den ärmsten Ländern dieser Erde geht also weiter.
aus: der überblick 04/2004, Seite 76
AUTOR(EN):
August Stich:
Dr. August Stich ist Chefarzt der Tropenmedizinischen Abteilung der Missionsärztlichen Klinik
in Würzburg. Dieser Text ist eine aktualisierte und bearbeitete Fassung eines Artikels, den der
Autor für eine medizinische Leserschaft in der Zeitschrift "Deutsches Ärzteblatt", Ausgabe vom
29. Juni 2001, veröffentlicht hat. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der
Redaktion.