So reizvoll wie Barbie, so männlich wie Marlboro
Die Zeiten, in denen die Menschen in Würde altern und noch als schön wahrgenommen werden, wenn ihr Haar silbern schimmert, sind auch in Asien vorbei. Alter ist nicht länger ein Wert als solcher. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung insbesondere in den südostasiatischen Ländern entstand eine kaufkräftige Mittelschicht, die westliche Konsummuster übernahm und das Alter als Vorbild der nachfolgenden Generationen verdrängt. Selten haben sich Verhaltensweisen, Wünsche und Werte innerhalb von zwei Generationen so radikal verändert.
von Rüdiger Siebert
Das Gesicht fällt auf. Über und über von Runzeln durchzogen. Der Mund eingefallen. Strähnig die grauen Haare. Hinter den Brillengläsern müde Augen, unsicher, zweifelnd. Es ist das Gesicht einer alten Frau, einer sehr alten Frau, den Blicken der Passanten dargeboten als ungeschminktes, schonungsloses Bild der Vergänglichkeit. Ich entdecke die Greisin im Marktgewühl der südindischen Stadt Tiruchirappalli. Es ist ein alltägliches Antlitz, ähnlich hundertfach zu sehen unter den Frauen, die da einkaufen oder als Händlerinnen ihre Waren anbieten. Aber nur dieses eine Porträt ragt heraus, ist übergroß und schaut von der Werbetafel eines Ladens für Backwaren und Hochzeitstorten in das geschäftige Treiben ringsum. Das zerfurchte Gesicht einer Hochbetagten, der ausgetrockneten Landschaft des Elends gleich, in solch einem, der Wirklichkeit entsprechenden Altersverfall als Reklamemotiv hochgehalten - das erstaunt in seiner Einmaligkeit. Ein ausgefallener Gag, mag sein. Völlig unüblich in Indien und anderen Ländern Asiens. Die meisten Bewohner haben sich längst auf die Konsumwelt westlicher Werte eingelassen, die Schönheitsideale aus der Retorte der Marktwirtschaft übernommen und das Alter als Leit- und Vorbild verdrängt. Der Prozess ist seit Jahren zu beobachten und wirkt stärker als alle Ideologien, Mentalitätsunterschiede und religiöse Traditionen, ja mehr noch: Die neue Art der Fremdbestimmung ebnet regionale und kulturelle Unterschiede ein.
Rückblick: Dem Alter wurde hoher Respekt zuteil, der Rat der Weisen geschätzt, die Verehrung der Eltern als Verpflichtung empfunden. Dies trifft ähnlich im indischen wie im chinesischen, japanischen und malaysischen Kulturkreis zu. In der Überlieferung der altindischen Schriften galt der Greis, der sich in die Einsamkeit der Wälder zurückzieht, als verehrungswürdig. Wegen seiner Lebenserfahrung suchte man ihn als Lehrer auf. Bildliche Darstellungen zeigen traditionsgemäß Rauschebart und andere Insignien des Alters als Zeichen von Würde und Ansehen. In den Ländern, die vom disziplinierenden Geist des chinesischen Philosophen Konfuzius geprägt worden waren, herrschten strenge Regeln im Umgang der Generationen. Eindeutig waren sie von oben nach unten ausgerichtet und wiesen mit Prestigegefälle und Rangordnung jedem seinen Platz im Gesellschaftsgefüge zu: der König stand über seinen Untertanen, der Vater über dem Sohn, der Ehemann über der Ehefrau, der Bruder über der Schwester, das Alter über der Jugend.
Das waren Instrumente der Macht und zugleich des Machtmissbrauchs. Die Diskussion um asiatische Werte beschäftigte in den neunziger Jahren auch die Europäer, die verblüfft auf die wirtschaftlichen Erfolge der so genannten Tiger-Staaten Singapur, Taiwan, Hong Kong und Südkorea schauten und deren Geheimnis des Aufstieges ergründen wollten. Singapurs damaliger Regierungschef und Übervater Lee Kwan You wurde nicht müde, die reglementierenden Vorschriften zu loben, die zweifellos deshalb in der Staatsdoktrin wurzeln, weil sie von den Gedanken des Konfuzius inspiriert ist. Bedürfnislosigkeit und Unterordnung wurden als Tugenden erwartet, mit denen sich Völker, die sich dadurch auszeichneten, reibungslos regieren ließen. Wenn die Oberen predigten, dass Gemeinwohl vor dem Wohl des Einzelnen zu stehen habe, ließen sich mit dieser Begründung individuelle Menschenrechte abschwächen und verweigern. Jede Art von Kritik an den Mächtigen wurde als Anschlag auf die Allgemeinheit gewertet und dementsprechend bestraft.
Dass mit solchem Anspruch ökonomische Zuwachsraten erzielt wurden, beispielsweise in Singapur, Taiwan, Südkorea, Indonesien, dass Märkte in einem Land wie in Indien nicht länger abgeschottet werden konnten und sich ein Gigant wie China kapitalistischen Spielregeln zuwandte, hat wesentlich zu grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen beigetragen. Dies begründete den Aufstieg einer neuen Mittelschicht und veränderte Verhaltensweisen, Wünsche und Werte innerhalb von zwei, drei Generationen radikaler als es zuvor über Jahrhunderte der Fall war.
Lange Zeit wurde als eines der Entwicklungshemmnisse das Fehlen von Mittelschichten beklagt. Eine Handvoll Superreicher und die verarmte Masse: So stellte sich das Einkommensgefälle dar. In zahlreichen Ländern Asiens hat sich indes ein rascher Wandel vollzogen. In Südkorea, Taiwan, Malaysia, Thailand, Indonesien und den Philippinen, in Indien und China bildete sich eine kaufkräftige Mittelschicht heran, die zunehmend Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Kultur gewinnt. Die gesellschaftspolitische Veränderung ist zum Motor von Konsumverhalten und Ansätzen zur Demokratisierung geworden und hat einen tiefgreifenden Strukturwandel zur Folge.
Südkorea bietet eines der spektakulärsten Beispiele. Der Umschwung seit den sechziger Jahren von einem Land der Bauern zu einem industrialisierten Staat der Städter gehört mit zu den bemerkenswertesten Prozessen der Neuzeit. Innerhalb weniger Jahre hat sich das Lebensumfeld der Mehrheit der Bevölkerung völlig verändert. Wie in einem Brennglas scheinen sich die Turbulenzen zu bündeln, von denen auch andere Länder in vergleichbarer Situation erfasst sind. Die Enkel der Gründergeneration verlangen mehr Lohn und Mitsprache, wissen kürzere Arbeitszeiten zu schätzen, höhere Gehälter, vielfältigere Freizeitgestaltung. Diese Entwicklung ist mit einer Individualisierung verbunden und wird von den gestiegenen Bedürfnissen des Einzelnen bestimmt.
Ein weiterer Aspekt trägt wesentlich dazu bei, dass sich asiatische Gesellschaften von lang überlieferten Prinzipen verabschieden: die Veränderung der Alterspyramide. Mit der gestiegenen Lebensdauer gibt es eine immer größere Zahl alter Menschen als in früheren Zeiten, in denen die durchschnittliche Lebenswartung bei 30, vielleicht 40 Jahren lag. Im Vergleich dazu gibt es heute nahezu doppelt so viele alte Menschen. Mag sein, dass diese schiere Menge das Alter an sich in seiner Besonderheit entwertet. Spitzenreiter bei der Überalterung ist Japan. Darauf ist vor allem die städtische Lebensweise mit kleinen, teuren Wohnungen nicht eingerichtet. Die Zahl der urbanen Bevölkerung ist rasant angestiegen; immer mehr Menschen leben in Städten und Großstädten. Das Miteinander mehrerer Generationen unter einem Dach ist schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden. Dies führt auch in asiatischen Ländern zur Überforderung der jungen Familien und hat zum Ansehensverlust der Alten beigetragen. Die Großmutter, die nichts mehr zum Lebensunterhalt beisteuern kann, wird zur Bürde. Niemand sonst außer der eigenen Familie ist üblicherweise für die älteren Verwandten zuständig. Von einer Sozialpolitik, die den Greisen einen angemessenen, abgesicherten Lebensabend ermöglicht, kann in keinem asiatischen Land die Rede sein. Die Mehrheit der Senioren hat überhaupt keinen Anspruch auf eine Rente. Auf ihre alten Tage werden sie zu Bettlern, wenn die Verwandten nicht helfen wollen - oder nicht können.
Diese Entwicklung erklärt, warum der Anblick der alten, unglücklich wirkenden Frau als Werbeträgerin auf dem südindischen Markt so verblüfft. Ein solches Gesicht ist die Ausnahme und wird verdrängt, sowohl in der öffentlichen Zurschaustellung als auch in der individuellen Wahrnehmung. Die Werbung und die Massenmedien als Schaufenster der Orientierung werden auch in Asien von den Gesichtern der Jugend geprägt. Wenn überhaupt Alte auftreten, dann in ihrer Eigenschaft als zahlungskräftige Kunden, beispielsweise, um ihnen ein Medikament, eine Lebensversicherung oder ein Bankkonto anzupreisen. Bezeichnend ist die Art, wie sie dargestellt werden. Die Reklame-Senioren werden eben nicht in ihrem körperlichen Verfall gezeigt, sondern treten als unternehmungslustig dreinschauende Grauköpfe auf, die fit sind und Stärke und Mobilität ausstrahlen. Damit wird der älteren Generation das Bild übergestülpt, das auf Postern, Bildschirmen und Verpackungen die Jungen abgeben.
Wer in asiatischen Ländern Fernsehprogramme verfolgt, Soap Operas sieht, die Werbung betrachtet, mit jungen Menschen spricht, der bekommt diese propagierte Jugendlichkeit und das jugendliche Selbstbewusstsein, das sich daraus speist, allerorten zu spüren. Das Rollenverständnis hat sich gewandelt. Englischkenntnisse und Fingerfertigkeit wie geistige Beweglichkeit im Gebrauch von Computern sind zum Kriterium für Modernität geworden. Im IT-Geschäft können vor allem junge Leute schnell Karriere und Geld machen. Da geraten die Älteren und die Alten ins Abseits, was den Job, aber auch, was ihre Wertschätzung betrifft. Lebenserfahrung ist nicht mehr gefragt. Mit dem rasanten Wandel des Alltags und der Anforderungen im Beruf ist sie vielmehr schnell überholt und veraltet. Was zählt, ist die clevere Anpassung an Lebensbedingungen, die sich auch und gerade in Asien rasch verändern.
Ursächlich haben diese grundlegenden Veränderungen etwas mit dem weltweit propagierten American Way of Life zu tun. Von McDonald’s, Coca Cola und Unterhaltung made in Hollywood gehen die Impulse aus und beeinflussen das Verhalten vor allem junger Leute in einer Zeit, da die Werte der Vorfahren brüchig geworden sind. Widersprüchliches ist zu beobachten. Da schimpfen die Leute auf die USA, kritisieren deren militantes Auftreten und die arrogante Art, dem Rest der Welt ihre Lebens- und Denkart aufzudrängen, und lassen sich doch einfangen von den amerikanisierten Leitbildern. Massendemonstrationen und Kommentare auch in der asiatischen Presse, die den völkerrechtswidrigen Irak- Krieg anprangerten, haben ihn weder verhindern können noch die Regierung in Washington in irgendeiner Weise beeindruckt. Was dort wirklich hellhörig werden ließe, wäre ein Boykott der amerikanischen Fastfood-Filialen, ein Käuferstreik bei Getränken wie Pepsi und Coca Cola, die Verweigerung, die Massenware amerikanischer Filme anzuschauen. Das lässt sich nicht durchsetzen. Die Popularität all dieser Produkte ist bis in die Unterschichten hinein ungetrübt. Und wenn man Arbeitslose fragt, wohin sie am liebsten auswandern würden, rangieren die USA nach wie vor ganz oben auf der Wunschliste.
Die Barbie-Puppe ist zu einem beliebten Spielzeug geworden. Sexy, rank und schlank, modebewusst und konsumfreudig. Das ist Barbies Image. Kleine und große Mädchen sind auch in asiatischen Ländern davon angetan. Barbie prägt moderne Schönheitsideale. Dass sich Frauen gern schmücken, ist wohl seit Evas Auftritt im Paradiese so. Dass aber die Art der Zierde vom Werbelächeln der Filmschönheiten und den solcherart offerierten Konsumartikeln bestimmt wird, kennzeichnet die allumfassende Welt des Käuflichen. Produkte, für die am häufigsten geworben wird, sind Kosmetika, Seife, Haarwaschmittel, also Chemikalien industrieller Fertigung. Eng verwoben mit der Präsentation der Produkte und dem Hinweis, niemand könne auf sie verzichten, werden Mädchengesichter eingeblendet oder auf den Anzeigenseiten der Magazine abgelichtet, die langhaarig, mit Make-up ihrer Persönlichkeit beraubt, einen internationalen Typus von Schönheit repräsentieren. Für Männer gilt dies ebenso. Zigaretten, alkoholische Getränke, Autos werden nicht als Gegenstände oder Genussmittel angeboten, sondern als Bestandteile eines begehrenswerten Lebens und Lebensgefühls. Marlboro ist gleich Männlichkeit.
Das alles ist dem europäischen Beobachter aus eigener Anschauung nicht neu, aber es bestätigt im asiatischen Alltag das weltweite Vordringen solcher Gebrauchsmuster. Wer anerkannt werden will, wer Erfolg anstrebt, wer den altmodischen Kram der Eltern satt hat, braucht nur das Richtige anzuziehen, zu trinken, zu kaufen. So einfach und so vertrackt zugleich ist die verführerische Botschaft in der schönen heilen Welt der totalen Kommerzialisierung aller Lebensbereiche.
Es war sicher zu allen Zeiten von vielerlei Faktoren abhängig, wie Schönheit definiert wurde. Kleidung und gesellschaftlicher Rang waren ein Kriterium, Einkommen und Bildung spielten eine Rolle. Mode war an Klima und lokale Lebensbedingungen angepasst. Die Kleiderordnung der Obrigkeit konnte Schule machen. Mal galt Wohlbeleibtheit als Ideal, mal die schlanke Proportion. Stets war dies mit der eigenen Kultur eng verflochten. Sogar die kämpferisch auf den Sockel der Parteipropaganda gestellte Vietkong-Patriotin im Vietnam der Kriegszeiten verkörperte ein gewisses Schönheitsideal, jedenfalls eines, wie die Oberen in Hanoi es sehen wollten. Und die Dayak-Frau im Inneren von Borneo, die sich in schmerzhafter Operation die Ohrläppchen lang ziehen ließ und mit Schmuckstücken behängte, folgte Tradition und Sitte, nach denen dies als schön galt. Das Bild der Ahnen, würdig und betagt, zierte private Innenräume und gab eine Vorstellung von Schönheit weit über das ästhetische Äußere hinaus, weil sie eine tiefere, spirituelle Dimension hatte. Das alles gehört zur Vergangenheit.
Damit soll nicht gesagt sein, dass in asiatischen Ländern alle Werte von gestern über Bord geworfen wurden und werden. Wandlungen vollziehen sich nicht überall gleich schnell und gleich intensiv, eines jedoch gilt allerorten: Die Maßstäbe, nach denen Menschen sich ausrichten, anziehen, schminken, essen und eben auch Schönheit definieren, verschieben sich mehr und mehr von der bodenständigen Überlieferung hin zu grenzüberschreitenden Vorbildern westlicher Herkunft. Die alte Frau auf dem südindischen Markt jedenfalls gehört nicht dazu.
aus: der überblick 04/2004, Seite 14
AUTOR(EN):
Rüdiger Siebert:
Rüdiger Siebert ist Autor zahlreicher Bücher zu Süd- und Südostasien und war lange Jahre Leiter
des indonesischen Programms der "Deutschen Welle".