Tabu Tod
Und ein anderer unter den Jüngern sprach zu Jesus: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben.
Matthäus 8, 21-22
Sag es den Toten, sie ruhen im Meer, vergiss es nicht: Sie liebten Deutschland ja so sehr ...
(rechter Folksänger Frank Rennicke über gefallene deutsche Soldaten)
von Wilfried Steen
Die Toten werden in allen Kulturen dieses Erdballs - in Nord und Süd - nicht einfach verscharrt und vergessen. In allen Kulturen dieser Erde gibt es ehrenvolle Gedanken an die Ahnen, an die Verstorbenen.
La Curva in der Nähe von Moca in der Dominikanischen Republik ist ein Straßendorf wie viele andere mit selbstgebauten Wellblechhütten und Steinhäuschen, den kleinen Gärten, in denen Bananen und Cassava gezogen werden, und den Ziegen. Hier kommen normalerweise keine Touristen vorbei.
Doña Doris unterhält dort mit ihrer Familie einen Damensalon und einen kleinen Colmado, einen Krämerladen. Zur Familie gehört auch DoZa NiZa, eine Tante. Sie ist für den Haushalt zuständig, ansonsten wird von ihr mit bedeutungsvoller Stimme gesagt: "Sie betet für die Toten". Sie betet nicht nur, sie bügelt auch die Gewänder für die Ministranten. Vor allem zur Messe und zum Besuch kirchlicher Frauengruppen verlässt sie gut gekleidet das Haus.
Am Abend wird uns als Besuchern bekannt gegeben: Morgen früh ist Gottesdienst zum Gedenken an einen verstorbenen Angehörigen. Alle gehen hin in festlichen Gewändern. Wir gehen auch - allerdings in unserer Alltagskleidung. Die Kirche ist voll. Die geistlichen Lieder sind rhythmisch und modern. Die Predigt klingt etwas dogmatisch für meine geringen Spanischkenntnisse. Am Schluss weinen nicht nur die Angehörigen des Verstorbenen. Eigentlich ein tröstliches Bild, wie sich Menschen in den Armen liegen und miteinander trauern.
Auf dem Heimweg über die Dorfstraße geraten wir unvermittelt in eine heftige Diskussion. "Da könnt ihr sehen: 'Religion ist Opium fürs Volk'", sagt Claudia, die als Veterinäringenieurin und Entwicklungshelferin seit Jahren im Land tätig ist. "Die Menschen werden nur ruhig gestellt. Das Schlimme ist: Ich kann mich den Menschen hier nicht verständlich machen, wenn ich mich als Atheistin bezeichne." Annette, entwicklungspolitische Expertin aus Frankfurt am Main, weist dagegen darauf hin, dass Glaube sehr stark in der persönlichen Erfahrung gründe. Jeder müsse selbst entscheiden, woran er sich halte.
Ich aber bestreite schlicht die These vom Opium fürs Volk. Als Angehöriger, aber auch in meiner Tätigkeit als Gemeindepfarrer bin ich mit dem Tod konfrontiert worden, bei gläubigen und nichtgläubigen Menschen.
Was tröstet in solch einer Situation des endgültigen Abschieds? Der Gedanke an die großen Leistungen des Verstorbenen? Der Ruhm, dass er es zu einer Familie mit erfolgreichen Kindern und zu Besitz und Grundeigentum gebracht hat? Sein Heldentod in einem sinnlosen Krieg für einen wahnsinnigen Diktator?
Diktatoren und andere Alleinherrscher haben den Tod schon immer geliebt. Sie verherrlichen den Tod. Besonders den Heldentod ihrer Soldaten, weniger ihren eigenen. Viva la muerte - es lebe der Tod. So hieß es unter den Faschisten Spaniens. Auch die Nazis wurden nicht müde, den Tod fürs Vaterland zu preisen. Die Toten des Weltkriegs ruhen im Meer - wie der rechte Barde es singt: im jugendlichen Alter zu Tausenden im eiskalten Atlantik ertrunken.
Unser aktuelles Verhältnis zum Tod ist zwiespältig. Wir begegnen ihm tausendfach: in Krimis, in den Nachrichten. Und doch hat der Tod keinen Platz in unserer Gesellschaft. Wir glauben, er sei weit weg von uns, gehe uns im Grunde nichts an. Die Welt unseres eigenen Sterbens wird konsequent verdrängt. Doch der Tod ist uns näher als wir vermuten. Aber er ist eine stumpfe Waffe im Kampf der Ideologien. Eingefleischte Atheisten werden durch den Gedanken an den Tod nicht zu Gläubigen. Unser eigenes Sterbenmüssen ist eine tiefe Infragestellung unserer Existenz, aber kein Aufruf zum Glauben. Wenn Gott meinen Tod zulässt, warum soll ich dann auf ihn als Gott der Auferstehung vertrauen?
Die Debatte auf der Dorfstraße von La Curva in der Dominikanischen Republik, die vor einigen Monaten zwischen den Gästen im Friseursalon von DoZa Doris stattfand, hat einigen Seltenheitswert. Denn normalerweise ist der Tod kein Thema unter uns.
Nach einiger Zeit sagte Claudia: "Weißt du, diese Debatte hat in mir einiges ausgelöst. Ich bin in der DDR aufgewachsen ohne Beziehungen zu Christentum und Kirche. Ich glaube auch nichts zu vermissen. Aber mit den Fragen, da hast du Recht. Manchmal frage ich mich, wozu dies alles? Dann denke ich, es wäre schön, so einen Glauben zu haben. Aber leider ist der ganze "Laden Kirche" ziemlich widersprüchlich. Das stößt mich ab."
Ich habe darauf erwidert, dass für mich nicht nur der Glaube an Gott, nicht nur die Kirche, sondern die Bibel insgesamt widersprüchlich ist. So widersprüchlich, wie wir Menschen sind. Wenn es an uns Menschen läge, einen vertrauenswürdigen Glauben an Gott zu haben, müssten wir scheitern. Gott glaubt an mich, deshalb kann ich an ihn glauben und wissen, dass ich nicht nur Staubkorn in der Unendlichkeit des Weltalls bin.
Alle Menschen sind Verdrängungskünstler. Was den Tod angeht. Überall auf dieser Welt. In Nord und Süd. Auch die Familie von DoZa Doris in La Curva in der Dominikanischen Republik. Selbst DoZa NiZa, die immer Ministrantengewänder für den Gottesdienst bügelt.
Die Toten leben. Nicht nur im Gedächtnis ihrer Angehörigen. In Afrika geben die Ärmsten oft das letzte Hemd für die Bezahlung der Trauerfeier - wie überall in der Welt. Denn der Abschied vom Toten muss feierlich sein. Möglichst mit allen Angehörigen. Und wer doch im Grunde seines Herzens Angst und Sorge hat, dass die Toten Geiz und sparsame Bestattung übel nehmen, der greift tief in die Tasche.
Wie heillos, wie trostlos ist die Wirklichkeit, der wir standzuhalten haben. Wir Menschen sterben einen vielfachen Tod: den grauenhaften Tod in dieser Welt, den wir krampfhaft verdrängen, den Tod im Müll der Slums und Townships dieser Welt, aber auch den Tod der von Granaten oder von unheilbar Krankheiten Zerrissenen, der Tod der Vergessenen.
Mitten in dieser Welt aber hören wir den Ruf dessen, der sagt: "Lass die Toten ihre Toten begraben". Das heißt nicht, grausam und herzlos mit denen umzugehen, die von uns scheiden. Das heißt nichts anderes, als dass wir gemeinsam lernen, das Leben so zu lieben, dass es nicht vom Tod erdrückt wird.
Wenn Zeremonien alles bestimmen, dann wird die Wirklichkeit zu schnell verdrängt, dann gewinnen die pompösen und so unsäglich verquasten Worte die Oberhand. Die Worte vom Heldentod, die Worte von den Kämpfern, die nicht umsonst starben. Nirgends wird so viel gelogen wie in Traueransprachen, sagt der Volksmund.
Nein - die Toten wirklich zu ehren, heißt für mich: Ich bin mir meines Lebens bewusst, meines begrenzten, kleinen Lebens in einer unendlich weiten Welt, die voller Leben ist, aber auch voller Tod.
Gott, so wie ich ihn in der Bibel wahrnehme, will unser Verhältnis zum Tod grundlegend verändern. Darum sagt Jesus zu einem Fragenden: "Lass die Toten die Toten begraben, du aber folge mir nach". Das ist keine Missachtung des Andenkens Verstorbener. Im Gegenteil. Ich werde auf das Leben gewiesen, nicht auf einen Kult mit den Toten. Die Auferstehungshoffnung, diese uralte Hoffnung der Christinnen und Christen aber weist mich hinaus weit über die Grenzen des Todes. "Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell", so beschreibt ein Osterlied von Paul Gerhardt Jesus Christus, den Auferstandenen. Eine Hoffnung voller Freude und ernstem Jubel. Davon können wir lernen - wir, die wir uns oft der Illusion hingeben, als sei unser Leben ewig, aber in Wirklichkeit täglich an der Grenze des Todes stehen.
Als wir kürzlich den Friedhof aufsuchten, auf dem unsere Eltern ihr Grab haben, kamen wir an einem frischen Grab vorbei: Blumen und Kränze waren darauf aufgeschichtet. Davor aber stand eine Schale mit Bananen und Früchte. Wegzehrung für die letzte Reise - auch bei uns breiten sich Kultureinflüsse aus anderen Regionen unserer Erde aus. In Japan, einem Land, das dem Synkretismus durchaus aufgeschlossen ist, heißt es: Am feierlichsten ist die Hochzeit in einer christlichen Kirche, die Beerdigung aber nach buddhistischem Ritus.
Wie wäre es, das Leben ohne Tod? Marie Luise Kaschnitz schreibt in "Kurze Prosa. Ohne Tod.": "Wenn einer sich vornähme, das Wort Tod nicht mehr zu benützen, auch kein anderes, das mit dem Tode zusammenhängt, mit dem Menschentod oder mit dem Sterben in der Natur. Ein ganzes Buch würde er schreiben, ein Buch ohne Tod, ohne Angst vor dem Sterben, ohne Vermissen der Toten, die natürlich auch nicht vorkommen dürften, ebenso wenig wie Friedhöfe, sterbende Häuser, tödliche Waffen, Autounfälle, Mord. Er hätte es nicht leicht, dieser Schreibende, jeden Augenblick müsste er sich zur Ordnung rufen, etwas, das sich eingeschlichen hat, wieder ausmerzen, schon der Sonnenuntergang wäre gefährlich, schon ein Abschied. Und das braune Blatt, das herabweht, erschrocken streicht er das braune Blatt. Nur wachsende Tage, nur Kinder, junge Leute, nur rasche Schritte, Hoffnung und Zukunft, ein schönes Buch, ein paradiesisches Buch."
Der Text von Marie Luise Kaschnitz mutet auf den ersten Blick widersprüchlich an. Zeitungen und Fernsehsendungen, Kriminalromane sind doch voll vom Tod in seiner vielfältigen Gestalt. Und doch stimmt die Botschaft: Wir verdrängen den Tod. Immer trifft uns die Frage des Todes unverhofft. Die Frage nach meinem Tod. Vielleicht der Hinweis eines Arztes auf den Verdacht auf Krebs. Vielleicht der Tod eines nahen Angehörigen, eines Bekannten bei einem Verkehrsunfall von einem Tag auf den anderen. Es gibt kein Leben ohne den Tod.
Literatur
Marie Luise Kaschnitz: Kurze Prosa. Ohne Tod. In: Ensemble Lyrik - Prosa - Essay. München 1969.
aus: der überblick 02/2003, Seite 101
AUTOR(EN):
Wilfried Steen:
Wilfried Steen ist Mitglied des Vorstandes und Leiter des Inlandsressorts des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED).