Ein Schulprogramm auf den Philippinen trägt zur Entwicklung einer vernachlässigten Region bei
Die Kinder der Dibabawon in den Bergen Mindanaos mussten bis vor kurzem ohne staatliche Schule auskommen. Eine nichtstaatliche Organisation hat dort Schulen eingerichtet, die auch den Stolz auf die indigene Kultur vermitteln.
von Helge Bendl
Wenn der Nebel langsam die Hänge hinauf kriecht und sich der Vorhang der Nacht über dem Dorf Kimataan senkt, wenn der alte Mann im immer gleichen Rhythmus die Trommel schlägt und sich mit kehligen Lauten in Trance singt, wenn sich mehr als hundert Mädchen und Jungen im Schulhaus drängen, die Gesichter erleuchtet vom flackernden Licht der Petroleumlampen, dann – erst dann – kann das Ritual beginnen. Datu Mino Casigtuan, der Schamane des Dorfes, hat plötzlich glasige Augen und richtet den Blick in die Ferne. Der Hahn in seinen Händen piepst nicht einmal leise, als die Rasierklinge seinen Hals durchschneidet. Ein wenig Blut tropft in die Ritzen des Fußbodens und in die Hände der Lehrer, auf dass die Schule jetzt und in Zukunft vor allem Unheil bewahrt bleibe. Dann richtet sich der Schamane auf, der Raum atmet aus. Nun wird er tanzen, er alleine, bis er der Lehrerin den Schal umlegt, die weiter tanzen wird, bis die Trommel kurz aussetzt und der nächste an der Reihe ist. Das Dorf feiert Erntedank, den Auftakt zu zwei Tagen traditioneller Wettkämpfe.
Mit Pfeil und Bogen zielen die Kinder auf eine im Baum hängende Pomelo und mit dem Blasrohr auf Bananenblüten. Sie versuchen, einen rollenden Bambusreifen mit einem Speer aufzunehmen. Sie üben, ohne Streichhölzer Feuer zu machen, und testen, wie schnell Gemüse im Bambusrohr gart. Sie messen sich im Ringen, Armdrücken und Fingerhakeln, im Körbe flechten und Perlen aufziehen. Aus großen Schüsseln gibt es schließlich Reis und ein Stückchen Fleisch vom am Morgen geschlachteten Schwein und dann, als Preis für die erfolgreiche Teilnahme am Schulfest, nicht nur Bleistifte und liniertes Papier, sondern auch ein Bonbon. Die Kinder vom Stamm der Dibabawon feiern sich und ihre Kultur, und sie feiern an diesen beiden Tagen vor allem eines: dass es in ihren Dörfern Okapan und Kimataan inzwischen eine Schule gibt.
Im Morgengrauen sieht man die Kinder mit Schlaf in den Augen zum Fluss laufen, Wäsche und Wasserkanister in der Hand. Man hört sie Reis stampfen und unter den auf Pfählen gebauten Hütten die Schweine füttern, man sieht sie nach Süßkartoffeln graben und die Straße fegen. Doch wenn sie ihre Aufgaben erledigt haben, schlüpfen die Kinder des Dibabawon-Stammes in ihre Tracht. Nicht in die schlichte blau-weiße Uniform wie sonst in den Schulen auf den Philippinen: Die Jungen tragen schwarze Hosen mit rot gezackten Bändern und langärmelige Hemden, die Mädchen einen rotblau karierten Rock, eine rote Bluse und ab und an eine Blume im Haar. Die Kinder in Okapan und Kimataan haben ein Privileg, um das sie viele andere Ureinwohner- Kinder auf den Philippinen beneiden: Sie dürfen zur Schule gehen.
Der philippinische Staat hat die Siedlungsgebiete der Ureinwohner lange Zeit benachteiligt. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass er dort keine Schulen einrichtete. Weder die Kommunalverwaltung von Kapalong noch das zuständige Bildungsministerium interessierten sich für die Schulbildung der Dibabawon, die auch heute noch abgeschieden in den Bergen Mindanaos leben. Schulen entstanden nur, wo nichtstaatliche Organisationen (NGOs) mit internationaler Hilfe in die Bresche sprangen – so wie Sildap, ein Partner von "Brot für die Welt".
Die NGO will aber mehr als nur eine Grundbildung vermitteln: "Der Lehrplan der klassischen staatlichen Schulen zielt vor allem auf den persönlichen Erfolg des Einzelnen: Die Kinder sollen lesen und schreiben lernen, um später in irgendeiner Firma möglichst viel Geld zu verdienen oder vielleicht als Gastarbeiter im Ausland einen Job finden zu können", sagt Allan Delideli, der Direktor von Sildap. Er dagegen will, dass die ganze Dorfgemeinschaft von den Absolventen der Schule profitiert. "Wir bilden die Mädchen und Jungen nicht aus, damit sie in die Städte ziehen oder sich in Arabien als Haushaltshilfe oder Gärtner anstellen lassen. Ihre Fähigkeiten werden hier im Ort gebraucht: wenn mit den Händlern aus der Stadt, die Lebensmittel kaufen und verkaufen, faire Preise auszuhandeln sind, wenn der Wald vor illegalem Holzeinschlag geschützt oder die Rechte der Ureinwohner eingefordert werden müssen gegenüber dem Staat und ausländischen Konzernen, die Bodenschätze abbauen wollen."
Und es geht um den Stolz auf die traditionelle Kultur. "Lesen, schreiben und rechen zu lernen ist wichtig. Aber es ist trotzdem nur ein Teil des Curriculums", erklärt die 24-jährige Lehrerin Bernadette Laurente. Links vor ihr sitzen 20 Erstklässler auf den Holzbänken des luftigen Klassenzimmers, rechts noch einmal so viele Schüler der zweiten Klasse. Heute geht es um Pflanzen, die man essen kann. Der siebenjährige Arman Mariano aus der ersten Reihe hat einen Korb kamote mitgebracht, Süßkartoffeln mit rötlicher Haut, seine Nachbarin ein wenig buya, Pfefferblatt, und tubo, Zuckerrohr. Die Erstklässler zeichnen die Lebensmittel ab und üben mit krakeliger Schrift ein paar Mal den Anfangsbuchstaben, die Zweitklässler müssen das ganze Wort schreiben.
Das vielstimmige Gemurmel kann man bis nach draußen hören. Dort wartet eine alte Frau auf ihren Part: Sie zeigt den Kindern, wie traditionelle Heilpflanzen aussehen, erklärt, wie sie wirken, und erzählt von den Ritualen und Zeremonien, die man vollziehen muss, damit der Mais gedeiht und die Bananenstaude Früchte trägt. "Wir behandeln in unserer Grundschule alle Aspekte der Kultur der Dibabawon", sagt Bernadette Laurente. "Wir müssen den Schülern vermitteln, wie wertvoll ihre Kultur ist und dass dieses Wissen nicht verloren gehen darf."
Die Schulen, die Sildap in den letzten zwanzig Jahren in einigen Dörfern der philippinischen Insel Mindanao aufgebaut hat, leisten also weit mehr als Alphabetisierungsarbeit: Dorfbewohner werden hier zu mündigen Bürgern. Die indigenen Völker sind inzwischen wieder stolz auf ihre einzigartige Kultur. Zugleich hat sich auch ihre wirtschaftliche Situation ein wenig verbessert.
An dem steilen und glitschigen Hang kann man Tolentino Tonggado zwar noch nicht sehen, aber durch das grüne Dickicht erklingt regelmäßig ein dumpfes Klatschen. Immer wieder trifft seine Machete ein welkes Bananenblatt und zerteilt es schon beim Herunterfallen. Dann kommt seine Frau Leticia, den Rücken stets gebeugt, und legt es zusammen mit gejätetem Unkraut unter die Staude. Kompost ist ein guter Dünger, der nichts kostet. Ihn gezielt einzusetzen und so deutlich mehr zu ernten als früher, haben die beiden von einem Sildap-Mitarbeiter gelernt.
Der hat den beiden auch empfohlen, Mischkulturen anzulegen. "Früher haben wir fast nur Süßkartoffeln angebaut. Es gab immer genug davon, nur verkaufen ließen sie sich nicht, denn Süßkartoffeln hat ja jeder", erzählt der 43-jährige Tolentino Tonggado. Inzwischen hat die Familie auf ihrem Grundstück, einen halben Kilometer vom Dorf Okapan entfernt, Bananenstauden und Kokospalmen gepflanzt, Chili und Gemüse. "Viel Geld haben wir zwar immer noch nicht", lächelt Leticia Tonggado, eine Mutter von fünf Kindern. "Aber die Ernte lässt sich nun so gut verkaufen, dass wir eine Tochter und einen Sohn in die Schule schicken. Davon konnten wir früher nur träumen." Im Laufe der letzten Jahre habe sich bei vielen Familien die Einkommenssituation verbessert, meint Eloida Digaynon, die Lehrerin in Okapan. "Es ist schön, das zu sehen. So können wir sicher sein, dass auch weiter viele Kinder zumindest einige Jahre den Unterricht besuchen."
Manche dürfen sogar auf mehr hoffen. "Wie ist es denn so in der Stadt?", fragen die Mädchen. "Hast Du einen Freund?", kichern sie aufgeregt. Nur einmal im Monat sehen sie ihre Freundin, da gibt es viel auszutauschen. Doch wirklich wichtige Neuigkeiten für Teenager kann Annabelle Otao nicht bieten. "Verehrer ja, aber ich will mich jetzt aufs Studium konzentrieren", sagt die sympathische 18-Jährige. Von lockerem Studentinnenleben ist also nichts zu spüren: Das Mädchen vom Stamm der Dibabawon will sich nicht von ihrem Ziel abbringen lassen. Ein Stipendium von Sildap ermöglicht es ihr, als erstes Mädchen aus dem Dorf Kimataan am College zu studieren.
"Schon in der Grundschule habe ich mir vorgestellt, wie schön es wäre, wenn ich eines Tages als Lehrerin die Kinder meines Dorfes unterrichten könnte", erinnert sich Annabelle. Ihre Eltern unterstützten die Idee. Doch ihr Geld aus dem Verkauf von Bergreis und Süßkartoffeln reicht gerade, um sich selbst und die sechs Kinder zu ernähren. Die Gebühren für die Universität und die Unterkunft in der Stadt können sie nicht schultern; die deckt das Stipendium ab. Annabelle Otao verlässt sich aber nicht allein darauf und verdient ein wenig Geld dazu: Sie ist geschickt beim Flechten von Ketten, Ohrringen und Armbändern aus kleinen Plastikperlen. Für einen Ohrring braucht sie zwei Stunden; die 15 Pesos, die ihre Mitstudenten dafür zahlen, reichen für drei Bleistifte oder einen dicken Packen liniertes Papier. Viel Arbeit für ein großes Ziel: "Ich möchte eines Tages meinem Stamm etwas zurückgeben. Das kann ich am besten als Lehrerin – indem ich den Kindern beweise, dass man es mit Lernen zu etwas bringen kann."
"In der Stadt gibt es viele Versuchungen", sinniert Dante Davao, ein anderer Stipendiat von Sildap aus dem Nachbarort Okapan. Schicke Sportschuhe, das trendige T-Shirt, die angesagten Baseball-Kappen: Was seine Kommilitonen tragen, kann sich der Dibabawon nicht leisten. "Für mich sind solche Statussymbole aber auch gar nicht wichtig", sagt der 21-Jährige, der – würde es nicht so sehr auffallen – am liebsten in der traditionellen Tracht ins College ginge. Weil seine Eltern ihn auch nicht mit Geld für Essen und Kleidung unterstützen können – ihr ganzes verfügbares Einkommen geht für die beiden Schwestern und fünf Brüder drauf –, jobbt Dante Davao abends als Rikscha-Fahrer oder packt in seiner freien Zeit auf dem Markt der Stadt Kapalong Zuckersäcke ab und hilft an den Essensständen beim Abspülen.
Wer ihn fragt, wo er nach dem Ende seiner Ausbildung zum Grundschullehrer am liebsten leben und arbeiten möchte, bekommt sofort eine eindeutige Antwort: "Hier, als Lehrer in meinem Heimatdorf Okapan." Nicht in der Stadt, wo er seit zwei Jahren lebt, wo es immer Strom gibt und fließendes Wasser, wo man abends ausgehen kann und neue Leute kennen lernt? "In der Stadt vermisse ich meine Freunde, die abends die Trommel spielen. Ich vermisse auch die Stille der Nacht und die frische Luft. Ich weiß, wo ich hingehöre, und das ist mein Heimatdorf." Seine Eltern hatten ihm geraten, er solle kein Studium beginnen, sondern wie seine Schwestern und Brüder zu Hause bleiben und auf dem Feld arbeiten. Eigentlich muss man als Dibabawon tun, was einem die Älteren sagen. "Trotzdem sollte man manchmal überlegen und dann genau das nicht tun", sagt Dante Davao und lächelt verschmitzt. "Inzwischen sind meine Eltern sehr stolz auf mich und hoffen, dass ich bald als Lehrer in ihr Dorf zurückkomme."
Seit fast zwanzig Jahren unterhält Sildap nicht nur Schulen im Gebiet der Dibabawon, sondern erinnert auch die Behörden daran, dass dies eigentlich ihre Aufgabe ist. Nach langer Lobbyarbeit feiert die NGO nun einen großen Erfolg: "Die Regierung hat die Schulen von Okapan und Kimataan übernommen. Die Gehälter der Lehrer werden nun vom Staat finanziert", berichtet der Direktor von Sildap, Allan Delideli. Aber die Gemeinden behalten ihr Mitspracherecht und können so entscheiden, welche Lehrkräfte eingestellt werden sollen. Der Lehrplan mit dem Schwerpunkt der Vermittlung der indigenen Kultur bleibt bestehen. "Die Gemeinden fühlen sich für die Schulen verantwortlich. Die Eltern bezahlen Schulgeld, es gibt einen Förderverein, und die Familien packen mit an, wenn Reparaturen anstehen", sagt Allan Delideli. "Alle ziehen an einem Strang. Nur so kann man langfristig Erfolg haben."
aus: der überblick 01/2007, Seite 168
AUTOR(EN):
Helge Bendl
Helge Bendl ist Reporter der Agentur "Zeitenspiegel".
Er wurde im Herbst 2006 mit dem "CNN
Journalist Award" ausgezeichnet und verbringt
jedes Jahr mehrere Monate in Südostasien.