Ein Business, ein Lebensinhalt, eine Ideologie der Reichen, mit Zustimmung der übrigen Bevölkerung
Prolog
Winter 1991: Ich bin schwanger, die Lebensmittelgeschäfte
sind leer und die Menschen in
Moskau stehen Schlange, um Brot zu kaufen.
Ich Glückliche, bekomme ein Päckchen von
meiner Großmutter aus Leningrad, darin eine
Packung Schmelzkäse Jantar, eine Packung Schokoschmelzkäse
und eine Dose mit gezuckerter
Kondensmilch. Ich trage eine modische Latzhose
für Schwangere, von meiner Nachbarin genäht,
nach einem Schnittmuster aus der Zeitschrift
Burda. Mein Universitäts-Professor schenkt mir
ein Tetrapack Orangensaft aus einem Paket mit
"humanitärer Hilfe", zum ersten Mal im Leben
probiere ich die grelle Flüssigkeit
von Julia Solovieva
Sommer 1999: Ich komme nach einer komplizierten Recherche-Reise in Südsibirien in Moskau an. Drei Tage mit dem Zug in einem einfachen Großraum-Wagen durch schöne Landschaften, durch das bedürftige Land liegen hinter mir. Ich lebe schon in Deutschland, bin nicht so oft in der russischen Hauptstadt, und meine Moskauer Freunde arrangieren für mich ein Fest. Ganz nebenbei kaufen sie in neuen teuren Geschäften schwarzen Kaviar und feine Fische, Fleisch, Käse und ausgewähltes Obst, dazu Cognac, Wein und Wodka. "Es reicht, es reicht", protestiere ich und ernte verständnislose Blicke. Es gehört sich so heute, heißt es. Am nächsten Tag spreche ich in einer Runde von Business-Ladies bei einem kostspieligen Dinner im Moskauer Literaturhaus über Frauenprobleme. "Ach, für eintausend US-Dollar kann man heute bei uns die beste Geburtshilfe bekommen", sagt eine bekannte Schriftstellerin und Kämpferin für Frauenrechte. Gewinnerinnen sind sie allesamt und ihr selbstzufriedenes Lächeln zeigt, dass sie sich dessen gewiss sind.
Herbst 2006: Ich sitze in einem Büro in der Moskauer City einem gut gekleideten sympathischen Enddreißiger gegenüber. Nikolai Uskow, Chef-Redakteur der Männer-Zeitschrift GQ erzählt vom Fürsten Potjomkin, der ein Favorit Katharinas der Großen war und sich für den Preis seiner Mantelknöpfe auch vierzigtausend Leibeigene hätte kaufen können. Putins Patek Philippe Uhren seien da schon günstiger zu bekommen gewesen, meint Uskow und präsentiert dazu gleich seine Theorie: Als neue nationale Idee Russlands lasse sich heute Glamour gut verkaufen! Kein Scherz. Nikolai Uskow war Mitorganisator der Veranstaltung "Glamour als nationale Idee Russlands" auf dem "Russischen Ökonomischen Forum" 2006 in London.
Kapitel I: Rubljowka
"Ich verdiene gut und schlafe auch gut", grinst Sergej. Der kräftige Mann mit dem undurchdringlichen Gesicht lehnt am Auto seines Chefs vor dem Globus-Gourmet-Supermarkt in der Rubljowo-Uspenskoje Chaussee. Mein erster Gesprächspartner in der Gegend. Er habe vor Jahren mit Freunden eine Sicherheitsfirma gegründet, erfahre ich. Dann grinst er wieder breit und fügt hinzu: "Ich habe eine normale Wohnung, eine gute Familie. Ich gehe ohne Sorgen spazieren und habe keine Angst, dass man mich umlegt, hoffe ich auf jeden Fall."
Die zweispurige Wald-Straße ist 30 km lang und nur 6 Meter breit und für Lastwagen gesperrt. Die Rubljowo-Uspenskoje Chaussee ist die Lebensader der Rubljowka, des bekanntesten Villenvororts von Moskau. Viele, die hier leben, lassen sich von Zuhause direkt in den Kreml fahren. In dieser Gegend, in seiner "nahen" Datscha, verbrachte Stalin viel Zeit. Seine Staatsmänner zogen nach. Auch Chruschtschow und Breschnew hatten ihre Datschen hier; Gorbatschow veranstaltete in seiner Datscha seine bekannten politischen Treffen, und Ex-Präsident Jelzin bewohnte bis zu seinem Tod seine Residenz Gorki-9. Seit 2000 empfängt auch Präsident Putin auf seiner Staats-Datscha Nowo-Ogarjowo seine Gäste dort: vom deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder bis zum brasilianischen Schriftsteller Paolo Coelho. In der Rubljowka leben die Mächtigen und die Reichen, die Oligarchen. Manche von ihnen sind zur Zeit anderswo gemeldet, zum Beispiel in London oder in Sibirien, wie der inhaftierte Öl-Magnat Michail Chodorkowskij.
"Wissen Sie was, lassen Sie uns ohne Namen auskommen", meint Dmitrij Kanewskij, der Chef-Koch des berühmten Rubljowka-Restaurants "Zaren Jagd", während er mich durch seine riesige Küche führt. "Sie wissen selbst, wer hierher kommt und wie es hier ist. Unser Restaurant befindet sich doch in der Rubljowo-Uspenskoje Chaussee, das spricht für sich selbst." 1900 Rubel, also etwa 55 Euro kostet das Brunch Buffet, ohne Hauptgericht und Getränke. 2300 Rubel, also 68 Euro mit Hauptgericht. Besondere Delikatessen wie Bärenfleisch mit Himbeerblättern gedünstet oder auch Rücken vom Edelhirsch, Wachtelweibchen und Sterlet sind nicht unter 80 Euro zu haben. Chateau Margaux (weltberühmter Rotwein) und Hennessy Richard (Cognac) stehen auf der Getränkekarte.
Dem Publikum ist der Reichtum anzumerken. Teure Jeans, guter Kaschmir (zum Beispiel Loro Piana) und Hermes-Täschchen Mehrere Paare mit Kindern sitzen gemütlich unter den Galerien. Das ist das so genannte Alibi-Mittagessen: Am Sonntag mittag müssen die viel beschäftigten Ehemänner sich der Familie widmen und sich einmal in ihrer Gesellschaft blicken lassen.
"Ein normaler Mensch kommt heute nicht mehr ans Ufer der Moskwa", sagt Wladimir, der in grüner Uniform im Vorgarten des Restaurants etwas repariert. "Überall sind Zäune, Zäune, Zäune." Und hinter jedem Zaun ist ein anderer Traum zu Stein geworden: Was dem einen seine römische Villa ist, ist dem anderen eine Einfamilien-Festung, von diversen Kreml-Variationen gar nicht zu reden. Auch eine Art Al-Aqsa Moschee fehlt nicht.
Im Jahre 2006 leben in der Gegend schon 25 Milliardäre und zahlreiche Millionäre, die im Volksmund "Oligarchen light" genannt werden. 33 russische Staatsbürger mit einem Gesamtvermögen von 172,1 Milliarden US-Dollar sind 2006 auf der Reichen-Liste der amerikanischen Zeitschrift Forbes zu finden. Und um den Reichen die Möglichkeit zu geben, alles, was teuer ist, vor Ort zu kaufen, wurde das Barvicha Luxury Village kreiert. "Das Dorf der Zukunft" eine 600 Meter lange und absolut leere Straße mit schicken Läden links und rechts. Die Fassaden sind aus kanadischer Zeder.
"Das Dorf ist richtig gelungen, da haben sehr gute Architekten gearbeitet, sie haben modische, ökologische Materialien verwendet, Holz und Glas. Im Westen habe ich etwas ähnliches nicht gesehen", kommentiert Eduard Doroschkin, der junge und energische Chef-Redakteur der Wochenzeitung Auf der Rubljowka. "Eines fehlt noch im Village, eine offene Fläche wie eine Eisbahn im Winter, wo sich die Menschen treffen können. Wenn es um den Kauf solcher besonders teuren Marken geht wie hier, darf man kein schnelles Shopping versprechen. Es geht um Lebensstil. Du kannst morgens zum Kaffee kommen und dann in ein Geschäft gehen und dann in ein anderes, und dann zum Mittagessen, ins Schönheitsstudio und ins Spa."
Seine Zeitung findet man an jeder Rubljowka-Ecke auf dem Tresen beim Autoservice oder im Foyer des Restaurants "Zaren Jagd" gratis. Die Auflage der Zeitung 15.000 bis 18.000 Exemplare pro Woche sei ihr Schwachpunkt, gibt mir der Chefredakteur zu verstehen. Sie werde aber von etwa 30.000 bis 35.000 Menschen gelesen, den reichsten und einflussreichsten Russlands. Erbauliche Geschichten, Immobilienangebote, Interviews mit Stars, Anzeigen jeder Art und schöne Fotos von Palästen für Haustiere mit Heizungs- und Lüftungsanlagen, aus besten Materialien, mit Patina nach Bedarf, sind darin zu finden. Bevor Eduard Doroschkin zur Auf der Rubljowka kam, hat er bei anderen Zeitungen als Gesellschafts- und Sozialreporter gearbeitet. "Krankenhäuser und Bahnhöfe, Leichenhallen und Heime für Obdachlose waren irgendwann meine Welt", seufzt er schicksalsergeben. "Was wäre die Bedingung, um dem Glamour den Rücken zu kehren?" möchte ich wissen. - "Wenn man im sozialen Journalismus genauso viel Geld verdienen könnte, wie im ,a-sozialen' Journalismus."
Kapitel II: "Wir sind ein Land der Angeber"
"Wir sind das Land der Angeber. Gleichzeitig sind wir ein Land, das immer noch hungrig nach einem normalen, komfortablen Leben ist", konstatiert GQ-Chef-Redakteur Nikolai Uskow und führt die Unterhaltung mit einem Schweizer Bekannten ins Feld: "Ich habe ihn gefragt, was er mit einer Million Euro machen würde. Er sagte: 'ein Drittel als Rate für mein Haus, ein zweites Drittel für das Haus meiner Schwester und den Rest zur Rente'. Und dann habe ich gesagt, deshalb ist alles so langweilig bei Euch in der Schweiz! Und bei uns in Russland so lustig. Denn ich würde mir erstmal selbstverständlich einen Ferrari kaufen und noch vieles andere mehr. Ein Russe lebt für das Heute! Und das ist ein erhebendes Gefühl!"
Uskows Lebensweg ist bemerkenswert. Der Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel und Spezialist für das Klosterleben im Mittelalter war Professor für Geschichte an der Moskauer Lomonossow Universität. Irgendwann wurde ihm das zu einseitig und weltfremd, und er beschloss, sein Leben zu ändern, stürzte sich in den Internetjournalismus und landete schließlich dort, wo er jetzt ist. Als Intellektueller entwickelt er eine Theorie, die das schamlose Benehmen der russischen Elite rechtfertigt. Die Gewinner der postsowjetischen Ära dürften nun zum ersten Mal unbescheiden sein, die Verlierer müssten sich schämen, weil sie die Chance ihres Lebens endgültig verpasst haben: "Man muss sich vom Schuldgefühl gegenüber dem Volk befreien. Warum hat dieses Volk selbst keine Schuldgefühle? Es will nicht studieren, nicht arbeiten, sondern lieber trinken."
Uskow bläst Rauchringe in Richtung Fenster: "Natürlich sind die Bedingungen wichtig, aber viel ist von den Menschen selbst abhängig. Die heutige politische Elite kommt doch von unten. Die ihr angehören, haben es geschafft, zu Macht und zu Geld kommen, Karriere zu machen, die anderen nicht. Warum müssen die Erfolgreichen Schuldgefühle haben und sie nicht? Wir leben doch in einer Zeit vieler Möglichkeiten. Deshalb möchte ich die Elite nicht nur kritisieren. Sie hat verdient, was sie besitzt, sie hat geschuftet und hat es geschafft. Klar, nicht ganz ohne kriminelle Energie." Und zum Höhepunkt einer neuerlichen Ansprache des Gesundheitsministers, der sagte, "Der Preis meiner Socken ist höher als ihre Rente", zuckt Uskow mit den Schultern und meint: "Das ist dumm, aber wenn die Leute erfahren hätten, wie viel seine Schuhe kosten, hätten sie das bestimmt nicht ertragen können."
Dann untermauert er eine schöne Theorie von Glamour als neue Ideologie: "Seit 2003 wird am Modell des so genannten Staatskapitalismus gebaut, alle strategischen Bereiche der Wirtschaft unterstehen der Präsidialverwaltung. Die Mitglieder sind entweder Chefs von Unternehmen oder gehören zu deren Aufsichtsrat. Der Präsident wird zum Chief Executive of the Corporation Russia, also zum Chef des Unternehmens Russland. Aber dahinter steckt keine Ideologie. Das Konsumieren, das Leben nach der eigenen Façon, die Demonstration des eigenen Erfolges, die Idee, dass 'ich im Leben erfolgreich bin', das alles ist sehr wichtig für die Inhaber der Macht, für die Elite. Ihr Reichtum zeigt: Wir sind erfolgreich, wir haben einen wichtigen Platz in diesem Unternehmen gefunden."
Glamour werde zu einer universalen Sprache und zu einer bequemen Form der Organisation der Elite, die ihre Message nach außen bringe: "Wir sind modisch, aktuell, wir sind wettbewerbsfähig, wir sind keine Langweiler mit Schuppen auf dem Kragen, wir sind europäische Politiker in einem europäischen Land." Präsident Putin gebe den Ton an, er sei selbstverständlich eine Glamour-Figur, sagt Uskow und liefert Beweise: "Der Präsident beginnt seinen Tag mit einer Reitstunde, er ist schlank, er ist kalt und er hat Macht. Außerdem liebt er die Hauptfarbe des Glamour, schwarz: in der alltäglichen und in der offiziellen Bekleidung. Er trägt sehr teure Uhren von Patek Philipp, manchmal Breguet." über Putins Schuhe ist Uskow nicht informiert, aber es sollen wohl Berluti sein.
Kapitel III: Glamour ist mein Business
Zwei Männer mustern mich prüfend am Eingang des Restaurants Vesna in der Nowyj Arbat, in Moskau-City: "Bestellt?" "Oksana Robski erwartet mich." "Gut", sagt einer respektvoll und begleitet mich nach oben. Noch im Jahre 2005 ließ Robski das breite Publikum hinter die Kulissen der Rubljowka schauen, mit ihrem ersten Buch Casual. Casual meint den Alltag der Millionäre zwischen Mordanschlägen, Erpressungen, Liebesaffären, Kokainorgien und Ärger mit dem Personal. Und seitdem sonnt sich die Glamour-Autorin im Erfolg einer Gesamtauflage von mehr als einer Million. Casual ist in Deutschland unter dem Titel "Babuschkas Töchter" verlegt.
Eine deutsche Journalistin beendet ihr Interview mit der Frage nach Oksanas seltenem Parfüm und bittet dann um ein Autogramm, das Oksana mit einer deutschen Widmung zu schreiben versucht. Oksanas dritter Mann war Deutscher, erfahre ich. Mit ihm habe sie einige langweilige Jahre in Köln verbracht. Eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik besitzt die Autorin immer noch. Wir sitzen zu dritt an einem kleinen, fein gedeckten Tisch, grüner Tee wird serviert. "Ich bin keine Glamour-Figur. Sie finden mich nicht in der Glamour-Chronik. Gestern war ich nicht einmal bei der Cavalli-Show", sagt sie bescheiden. Foie gras, schwarzer Kaviar und Champagne Bollinger wurden gestern in Moskau für zweihundert Auserwählte serviert. Die Mode-Show des in Russland beliebtesten italienischen Modemachers Roberto Cavalli ist Ereignis Nummer eins für die Moskauer Glamour-Szene. "Ich hätte sowieso nicht richtig mit Cavalli sprechen können", sagt Oksana weiter, "und alles andere, dieser Dresscode und die ganze Atmosphäre bei solchen Partys sind doch unerträglich".
Sie sitzt da ganz in schwarz, trägt dezentes Make-up. Sie habe sich gerade im Parkhaus geschminkt, lacht sie, sie habe heute wirklich keine Zeit dafür gehabt. Aber sonst lasse sie sich gerne verwöhnen, im Fitnessstudio, im Spa oder bei der Kosmetikerin. In erster Linie behauptet sich Oksana als eine sehr hart arbeitende Frau. Sie hat bei der Zeitung und beim Fernsehen gearbeitet, war eine Weile bei Gericht als Anwaltsgehilfin tätig, eröffnete später eine Interieurgalerie und gründete die Sicherheitsfirma Nikita, mit ausschließlich weiblichen Bodyguards.
Auch Glamour hat sie als eine Goldmine entdeckt und eine sehr nüchterne Beziehung zum Thema aufgebaut. "Glamour ist nicht mein Lebensstil und nicht meine Ideologie, Glamour ist mein Business. In Wirklichkeit wurde Glamour ausgedacht, um Geld zu verdienen, und ich mache das. Lass andere denken, dass der Glamour der Inhalt meines Lebens sei." Sie weiß die Schwächen und die Bedürfnisse des Massenpublikums auszunutzen: Zusammen mit dem Glamour-Girl Xenia Sobtschak, der russischen Variante von Paris Hilton, hat Oksana eine eigene Parfümmarke "Millionär heiraten" entwickelt.
Das Parfüm wurde passend zu ihren bissigen und zynischen Ratgebern "Wie heiratet man einen Millionär" auf den Markt gebracht. "Man muss realistisch denken: Keine schönen Lippen, kein Silikon und kein künstlicher Po helfen, wenn jeden Tag Züge mit sechzehnjährigen Schönheiten aus der Provinz nach Moskau kommen", rechnet Oksana mit den Ehefrauen der Oligarchen ab und wendet sich dann an die Mädels, zu deren Verblödung sie gerne beiträgt: "Die bekommen noch im Fernsehen erzählt, dass Oligarchen massenweise auf dem Bahnsteig auf sie warten. Nein, nur der Rubljowka-Zuhälter steht prüfend da, wartend auf das 'lockige Gold', das er den gelangweilten Oligarchen unterlegen kann." Für das etwas ältere Publikum bereitet sie etwas weniger Giftiges vor: "Oksana Robskis Kochbuch" mit Rezepten aus der Rubljowka.
Am nächsten Tag treffe ich mich mit dem Kontrahenten von Oksana, dem Geschäftsmann und Autor Sergej Minajew, der einen Anti-Glamour-Roman geschrieben hat. Mit seinem Duchless, was sich mit "Geistlos" Übersetzen lässt, legt er die Hand in die Wunden der Glamour-Gesellschaft. Mit phänomenalem Erfolg. Denn alles, was mit Glamour zu tun hat, bringt Gewinn im heutigen Russland den Glamour verehren, kritisieren oder zu Grabe tragen.
Wir sitzen im berühmten Pavillon auf den Patriarschie Prudy, mit Blick auf die neue Baustelle am Teich. Dieser Ort ist für immer mit der russischen Literatur verbunden: Hier begann die Geschichte von Bulgakows "Meister und Margarita". Sergej bestellt einen feinen Krabbensalat und danach eine besondere weiße Suppe, die im Innern eines halben Schwarzbrotes serviert wird. Der Gourmet und Freund von Frederic Beigbeder erzählt leicht und gerne über seine gemeinsamen Projekte mit dem französischen Schriftsteller, über seine große neue Wohnung und auch über die deutschsprachige Literatur.
Sein erstes Buch ist der Generation gewidmet, die zwischen 1970 und 1976 geboren wurde, die "so vielversprechend" war und "deren Leben so sinnlos verpufft". Diese Menschen hat Sergej Minajew in seinem Buch "Menschen innerhalb des Moskauer Gartenrings" genannt. Sadowoje Kol`zo, der Gartenring, ist der bekannteste Straßenring der Moskauer City. Dort arbeiten diejenigen, die behaupten, der Moskauer Gartenring sei Russland, und alles, was außerhalb liegt, sei nicht vorhanden. Aber wie ist es für den Autor selbst, nimmt er die Themen außerhalb des Gartenrings wahr? Die Politik? Die Menschenrechte? Den Kaukasus? "Von mir ist das weit entfernt. Das ist alles ein Medien-Fluss", antwortet er hochnäsig und wird gallig. Und Anna Politkowskaja (die berühmte russische Journalistin, die vermutlich wegen ihrer Artikel über Tschetschenien im Oktober 2006 ermordet wurde), Alexander Litwinenko (der Ex-KGB-Agent und späterer Putin-Kritiker, der im Dezember 2006 an Vergiftung in London gestorben ist)? Oh, Minejew macht ein böses Gesicht, das ist wirklich eine unpassende Frage, merke ich. "Ich versuche mich nicht für die Politik zu interessieren. Die Politik ist eine banale schmutzige Sache."
Kapitel IV: Die zerrissene Seele Russlands
Was passiert mit den Menschen außerhalb des Gartenrings im Zeichen des Glamours? Warum klatschen sie zum Tanz um das goldene Kalb? Warum protestieren sie nicht, warum wehren sie sich nicht gegen diese Politik, die die Menschen verachtet und die Satten noch satter macht? Warum interessieren sich die Menschen überhaupt nicht für die Politik, für das, was im Land tatsächlich passiert? "Weil die Krumen von Kuchen doch alle bekommen," meint der politische Journalist Valerij Panjuschkin. Die Menschen sehen in Putin und in seiner Politik ein Symbol für die Stabilität des Landes. Diese Menschen verstehen wohl alles, aber "vor allem verstehen sie, dass das Öl immer teurer wird. Sie wissen, wenn die Preise so hoch sind, können sie leben wie jetzt, und 'nach uns die Sinnflut'".
"Der moderne Mensch ist ein zynischer Mensch", meint Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Meinungsforschungsinstituts, das sich als unabhängig und nichtkommerziell bezeichnet, sich selbst trägt und als sehr seriös gilt. "Die Machtelite unterscheidet sich vom Niveau der Masse nicht, sie artikuliert deren Vorstellungen, und die Masse erkennt die Reaktionen der Machtelite als ihre eigenen", sagt Professor Gudkow. Seit achtzehn Jahren betreibt das Lewada-Meinungsforschungsinstitut eine Untersuchung zum Thema "Der sowjetische Mensch". Lew Gudkow bewertet die Ergebnisse. Er sagt, der "postsowjetische Mensch" gleiche dem "sowjetischen Menschen". Der an der Hierarchie orientierte, pessimistische Mensch, der "zwiedenkende" Mensch, Doublethink wie bei Orwell existiere immer noch. Dieser Mensch unterscheidet sich demnach kaum von seinem Vorgänger und dient brav dem immer gleichen Ziel, der Konservierung bestehender Verhältnisse.
"Der Mensch wurde nicht befreit, wie man Anfang der 1990er Jahre erhofft hatte. Nur neue Idole hatten die alten abgelöst", meint Boris Judin, Philosoph, Universitätsprofessor und Chef-Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift Tschelowek ("Der Mensch"). "Die alten sahen ziemlich anständig aus im Vergleich zu den neuen; die neuen sind viel zynischer. An erster Stelle steht heute das Geld!"
"Alle haben gewusst, wie man mit der Macht umgehen muss, ich spreche von Menschen, die denken können", sagt die Dichterin und Publizistin Olga Sedakowa. "Aber die Menschen wussten nicht, wie sie mit dem Geld, dem Handel und dem Markt umgehen sollten." Olga Sedakowa ist kein Medienstar. Ihre Gedichte wurden zur Sowjetzeit nur im Samisdat veröffentlicht, also privat vervielfältigt und in Umlauf gebracht. Heute ist sie mit ihren Büchern nicht nur in der Russischen Föderation, sondern auch in Westeuropa in den intellektuellen Kreisen bekannt. "Die Menschen begannen zu glauben, wenn du nicht viel Geld verdienen kannst, läuft etwas falsch. Dabei meine ich nicht die jungen Leute, sondern erwachsene Menschen, die früher absolut uneigennützig waren. Sie argumentieren heute: 'Man wird aber dafür bezahlt!' Also das, wofür man Geld erhält, wird im Voraus gerechtfertigt!"
In intellektuellen Kreisen behilft man sich am moralisch-ethischen Stammtisch mit einem Zitat des russisch-US-amerikanischen Dichters und Literatur- Nobelpreisträgers Joseph Brodsky: "Ein Dieb ist mir lieber als ein Blutsauger." Für Olga Sedakowa ist es nicht statthaft, zwischen zwei Qualitäten des Bösen zu wählen. Das Böse sei absolut, sagt sie, und bleibe, egal ob größer oder kleiner, ob Diebstahl oder Ausbeutung, immer das Böse: "Diese Zeile von Brodsky ist ironisch gemeint, er wollte natürlich nicht sagen, der Dieb sei gut. Aber das ist zu einer Entschuldigung der alltäglichen unmoralischen Taten geworden: Im Vergleich zur Ideologie ist alles andere doch nicht so schlimm."
In einer Gesellschaft, in der die Fähigkeit zu lügen und zu betrügen als Wettbewerbsvorteil und Teil des Glamour-Lifestyles gilt, wird Olga Sedakowa zur Exotin. 2003 hatte die Dichterin den renommierten Solschenizyn-Preis erhalten, der für literarische oder wissenschaftliche Leistungen vergeben wird, unter einer Bedingung: Der Preisträgerin oder dem Preisträger muss der Ruf vorauseilen, eine integre, ehrliche Persönlichkeit zu sein. Olga Sedakowa sieht die Gründe für den heutigen Zustand der Gesellschaft auch in der schlecht verarbeiteten Sowjet-Vergangenheit: "Die unterdrückte Vergangenheit führt zu Neurosen oder, wenn man an Platon erinnert, zu einer 'zerrissenen Seele'. Die zerrissene Seele ist der heutige Zustand Russlands."
Epilog
Sommer 2007: Die russische Presse feiert die Geburt einer neuen nationalen Idee, die als logische Fortsetzung der Glamour-Idee zu verstehen ist und ebenso mit der Demonstration des eigenen Erfolgs zu tun hat. Olympische Spiele in Sotschi im Jahre 2014. 30 Millionen US-Dollar wurden in die Werbung für die Stadt Sotschi als Standort für die Olympischen Winterspiele 2014 investiert. Wie der Sender Echo Moskau berichtet, könnten alle an Leukämie erkrankten Kinder der Russischen Föderation mit diesem Geld gerettet werden die dafür notwendigen Operationen würden nicht einmal die gesamte Summe verschlingen. Der Antrag zur Rettung der Kinder wurde von der Regierung abgelehnt.
aus: der überblick 03/2007, Seite 42
AUTOR(EN):
Julia Solovieva
Julia Solovieva ist geboren in Kursk, aufgewachsen in Moskau und lebt in Hamburg. Sie reist oft und
gern in ihre Heimat und arbeitet als Hörfunkautorin für NDR, Deutschlandradio und
SWR; ihr Hörfunkfeature "Glamour Eine Reise auf der Suche nach neuen russischen
Perspektiven" (NDR 2007) wurde für den Prix Europa 2007 nominiert.