Zu hohe Erwartungen können den Wiederaufbau Afghanistans nur gefährden
Internationale Hilfe soll Afghanistan in einen demokratischen Rechtsstaat verwandeln. Doch das ist unmöglich, wenn man das Land nicht jahrelang besetzen und von außen lenken will, und dazu ist niemand bereit. Ein starker Zentralstaat wird daher so bald nicht entstehen. Die Staatengemeinschaft sollte folglich auch mit örtlichen Potentaten zusammenarbeiten und sich realistische Ziele setzen: größere Kämpfe vermeiden, die Handelswege im Land sichern und die Hauptstadt zur neutralen Zone machen.
von Marina Ottaway
Afghanistan könnte nach dem Sturz der Taliban leicht zu einer Falle für die internationale Gemeinschaft werden; unangemessene internationale Strategien könnten die Probleme sowohl für Afghanistan als auch für die übrige Welt verschlimmern. Mit einem übertrieben ehrgeizigen Wiederaufbauprogramm zu beginnen, birgt ganz besonders das Risiko, dass schwere Enttäuschungen zum Rückzug der internationalen Unterstützung führen und das Land in einem neuen Teufelskreis aus Bürgerkrieg und religiösem Fanatismus versinkt.
In der Tat werden ehrgeizige Pläne vorgeschlagen, um dieses kriegsgeprüfte, wirtschaftlich verwüstete, zutiefst gespaltene Land in einen modernen, demokratischen Staat zu verwandeln. Diese Pläne sind sogar in die Bonner Übereinkunft der afghanischen Führer vom 5. Dezember 2001 eingegangen. Aber niemand plädiert bisher für die umfassende und langfristige militärische Besetzung, die unverzichtbar wäre, um eine solche Transformation Afghanistans überhaupt zu versuchen. Ein Grund dafür liegt darin, dass frühere Besetzungen - ob durch die Briten oder die Sowjets - stets in einem völligen Desaster geendet haben. Die internationale Gemeinschaft erwägt äußerstenfalls, relativ leicht bewaffnete Kräfte in Kabul und bestimmten anderen Zentren einzusetzen.
Die Chancen, Afghanistan erfolgreich die Strukturen einer modernen Demokratie aufzupflanzen, sind somit äußerst gering. Selbst unter Einsatz von starken Militärkräften hatte der Westen bereits bei der Transformation des vergleichsweise winzigen Bosnien große Probleme. Afghanistan mit einer Bevölkerung von 26 Millionen Einwohnern ist zwölfmal so groß wie Bosnien, sein Naturraum macht es zum äußerst schwierigen Terrain, seine Gesellschaft ist in Ethnien, Clans und Religionen gespalten, und das furchterregende Aufgebot kampferprobter Warlords dort sieht keinen Grund, die Macht abzugeben.
Gleichwohl kann es sich die Welt nicht leisten, Afghanistan wie in der Vergangenheit frustriert sich selbst zu überlassen, wenn das Land nicht neuerlich zum Zufluchtsort für Terroristen und zur Bedrohung für andere Staaten werden soll. Afghanistan braucht daher ein bescheidenes, auf die Realität des Landes zugeschnittenes Wiederaufbauprogramm, das keine ausgedehnte militärische Besetzung erfordert.
Der afghanische Staat ist jung und teilweise eine Schöpfung der Kolonialmächte. Er konnte niemals auf die uneingeschränkte Loyalität seiner Bürger zählen. Auch heute noch fühlen sich viele - wenn nicht sogar die meisten - Afghanen in erster Linie lokalen Führern, ethnischen Gruppen und Clans verpflichtet.
Afghanistan entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts. Alle seine Grenzen wurden vom britischen Empire festgelegt und richteten sich nach dessen Kalkül, nicht nach historischen oder ethnischen Verhältnissen: Die Nordgrenze Afghanistans markierte die südlichste Linie, bis zu der Großbritannien das Vordringen des russischen Reichs zu dulden bereit war. Die Grenzen im Süden und Osten richteten sich danach, bis wo das britisch-indische Weltreich es maximal als notwendig und sicher erachtete sich auszudehnen. Zwischen diesen Grenzen schuf das Zusammenspiel britischer geopolitischer Interessen mit der skrupellosen Regierung von König Abdur Rahman, dem so genannten Eisernen Emir, einen afghanischen Staat mit modernen Insignien. Der König, der von 1880 bis 1901 regierte, war ein äußerst kompetenter Herrscher. Mit einigermaßen brutalen Methoden und großen Subsidien in Geld und Waffen von den Briten legte er die - wenn auch begrenzte - Basis für einen zentralisierten afghanischen Staat.
Abdur Rahmans Herrschaft markierte den Anfang der Staatswerdung Afghanistans. In Europa hatte dieser Prozess bereits im frühen Mittelalter eingesetzt, mehrere Jahrhunderte gedauert, zahlreiche katastrophale Rückschläge erlitten und war mit immenser Grausamkeit, Widerstand und Zerstörung einher gegangen. Dass der kurze Prozess der Staatswerdung Afghanistans auf heftigen Widerstand traf und letztlich scheiterte, verwundert daher nicht, zumal zahlreiche afghanische Völker von kriegerischen, unabhängigen und anarchischen Traditionen geprägt waren, darunter die größte Volksgruppe der Paschtunen.
Abdur Rahman bereitete nicht nur den Boden für die Zentralisierung und Modernisierung des afghanischen Staates, sondern auch für die Entfremdung der die Gesellschaft bestimmenden religiösen und ethnischen Gruppen und Clans von diesem Staat. Diese Entfremdung trug dazu bei, dass die konstitutionelle Monarchie Afghanistans in den sechziger und siebziger Jahren scheiterte, und sie zerriss das Land in den Jahrzehnten danach.
Wäre es dem modernen afghanischen Staat gelungen, das Land zu entwickeln und der Masse der Bevölkerung sichtbare Vorteile zu bringen, dann wäre die Feindseligkeit gegen den Staat wohl nach und nach gewichen. Aber wie in vielen anderen Teilen der Welt gelang das nicht, und das einzige Gebiet, auf dem der Staat zumindest Teilerfolge erzielte, trug zur Besiegelung seines eigenen Schicksals bei: Das moderne Bildungssystem war zwar nur einem kleinen Teil der Bevölkerung (und natürlich einem noch kleineren Teil der Frauen) zugänglich, aber es brachte in großer Zahl gebildete Hochschulabsolventen, junge Bürokraten und Offiziere hervor, denen weder der verarmte Privatsektor noch der Staat gut bezahlte Tätigkeiten bieten konnten. Ihre bittere Enttäuschung mündete in die kommunistische Revolution von 1978, die im Wesentlichen ein Versuch war, unter ultra-radikalen Vorzeichen das staatliche Modernisierungsprogramm wieder aufzunehmen und zu Abdur Rahmans drakonischen Methoden zurückzukehren.
Die Kommunisten hingen wie Abdur Rahman entscheidend von Geld- und Waffenhilfe einer äußeren Schutzmacht ab - in diesem Falle der Sowjetunion. Und wie zu Zeiten des Eisernen Emirs war diese Unterstützung aus dem Ausland ein Auslöser des heftigen Widerstandes verschiedener religiöser und ethnischer Gruppen und Clans. Der Widerstand führte zwischen 1978 und 1992 den Sturz des kommunistischen Regimes und schließlich des afghanischen Staates selber herbei - zunächst in den Bergregionen, dann in weiten Teilen des Landes und zuletzt in Kabul und den anderen größeren Städten. Es ist tragisch, aber nicht überraschend, dass die Widerstandsbewegung gänzlich unfähig war, an die Stelle des gestürzten Staates eine eigene, geeinte Regierung zu setzen. Das gelang nach einer Periode der Gewalt und des Chaos nur in Form des pathologischen Zwischenspiels der Taliban.
Die Schwierigkeit, einen afghanischen Staat auf anderer Grundlage als reinem Zwang zu errichten, wird durch die ethnische Zusammensetzung der Region noch immens vergrößert. Die Paschtunen, die ursprünglichen Träger der Staatsbildung, machen weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Der Rest setzt sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Nationalitäten zusammen. Tadschiken, Usbeken und Hazara (das sind Schiiten mongolischer Abstammung) sind die größten Gruppen, aber etliche kleinere Nationalitäten spielen Schlüsselrollen in ihren jeweiligen Gebieten.
Zudem haben die Paschtunen in der Geschichte des modernen afghanischen Staates stets eine höchst ambivalente Rolle gespielt. Afghanistan ist ihre Schöpfung, und bis zum heutigen Tag bilden Paschtunen den Kern des Staates. Aber die paschtunische Stammesgesellschaft ist in hohem Maße unterteilt in nebeneinander bestehende eigenständige Einheiten und damit als Grundlage für die Errichtung eines zentralisierten Staates ungeeignet. Revolten der Paschtunen und anderer Ethnien - häufig von lokalen religiösen Führungspersönlichkeiten angeführt - gegen die Modernisierungspolitik des Staates machten allen afghanischen Herrschern zu schaffen. Sie spielten auch eine Schlüsselrolle beim Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft und der darauf folgenden Reaktion gegen die westliche Moderne und die modernen staatlichen Institutionen.
Die internationale Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten drei verschiedene Ansätze zum Umgang mit Ländern verfolgt, die im Chaos versinken: Entweder sie unterstützte "starke Führer", die in der Lage waren, die Ordnung gewaltsam wiederherzustellen. Oder sie zog sich zurück und überließ es dem betreffenden Land, seine Probleme allein zu lösen, so gut es konnte. Und in jüngster Zeit verfolgt die Staatengemeinschaft ehrgeizige Projekte zum Wiederaufbau betroffener Länder nach dem Vorbild einer modernen, säkularen, multiethnischen Demokratie. Keiner dieser Ansätze sollte in Afghanistan verfolgt werden, aber aus allen kann man Lehren ziehen.
Ein Mittelweg muss sowohl die Geschichte Afghanistans als auch seine gegenwärtige Lage zur Kenntnis nehmen, statt sich auf das Bild von einem modernen Staat zu gründen, den der Westen sich in Afghanistan wünscht. Die Staatengemeinschaft darf nicht die Augen davor verschließen, dass in der nördlichen Landeshälfte die Nordallianz wohl nicht mehr lange zusammenhalten wird, nachdem ihre Existenzberechtigung - der Widerstand gegen die Taliban - weggefallen ist, und dass in den paschtunischen Gebieten ein heilloses Durcheinander herrscht. Kurz, es wird ausgesprochen schwierig sein, irgendwelche verbindenden politischen Strukturen zu schaffen.
Schwer bewaffnete Stammesgruppen werden ihre Waffen und ihre örtliche Macht nur abgeben, wenn sie von einer nationalen Regierung mit einer eigenen starken Armee oder von übermächtigen Kräften von außen dazu gezwungen werden. Da die Staatengemeinschaft aber nicht bereit ist, Besatzungstruppen im gleichen Verhältnis zur Bevölkerung - in absoluten Zahlen also viele Male so groß - wie in Bosnien und im Kosovo aufzustellen, kann das Modell demokratischer Wiederaufbau nicht umgesetzt werden. Der Versuch wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sogar dann zum Scheitern verurteilt, wenn eine solche Truppe eingesetzt würde. Eine weniger tief eingreifende Strategie ist also nötig.
Das inzwischen in Misskredit geratene Modell des "starken Führers" war in der Geschichte die bevorzugte Methode zur Stabilisierung eines Landes in der Krise. Die Vereinigten Staaten haben es im Kalten Krieg ebenso ungehindert praktiziert wie Frankreich im Rahmen seiner neokolonialen Strategie in Afrika. Das Modell ist ethisch wenig ansprechend, aber es ist billig, kann eine Weile stabilisierend wirken und fordert den internationalen Akteuren kaum Anstrengungen ab: Sie überlassen es Führern vor Ort, für Ordnung zu sorgen. Für Afghanistan als Ganzes ist keine Lösung durch starke Männer oder Organisationen vorstellbar. Allerdings sind einige Regionen des Landes bereits fest im Griff starker Männer. Sie werden Teil der politischen Szene bleiben, und der Staatengemeinschaft wird kaum etwas anderes übrig bleiben, als sie einzubeziehen - so wie ihre Vorgänger in der Vergangenheit.
Der heutige als korrekt geltende Ansatz zur Wiederherstellung von Staaten ist zwar weit demokratischer, aber auch viel kostspieliger und mit tieferen Eingriffen verbunden, jedoch nicht besonders erfolgreich. In den vergangenen zehn Jahren war das erklärte Ziel der internationalen Gemeinschaft, Staaten in der Krise zu Demokratien mit freier Marktwirtschaft umzubauen, denn nur solche Staaten, so heißt es, nützen ihrer Bevölkerung und werden dem internationalen Bedürfnis nach Stabilität langfristig gerecht. Dieser vom Westen bestimmte Ansatz des "sozialen und politischen Umbaus nach Plan" (socio-political engineering) wird immer komplexer und kostspieliger, weil die Erfahrung zeigt, dass in immer neue Gebiete der Gesellschaft eingegriffen werden muss.
Die Komponenten des Modells sind: Die Konfliktparteien müssen sich auf ein neues, dauerhaftes politisches System einigen. So bald wie möglich müssen Wahlen stattfinden. Der neue Staat muss multi-ethnisch, säkular und demokratisch sein - gleich ob dies lokalen Traditionen entspricht oder ob die einheimische Bevölkerung das will. Während die Vereinbarung umgesetzt wird, sichern eine internationale Schutztruppe und eine Vielzahl von UN-Verwaltern den Frieden und die Ordnung im Lande. Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Weltwährungsfonds (IWF) nehmen die Neuordnung der Wirtschaft des Landes in die Hand. Internationale nichtstaatliche Organisationen (NGOs) erhalten Geld für die Arbeit in ihren jeweiligen Fachgebieten - von humanitärer Hilfe bis zur Organisation von Wahlen.
In den Vorschlägen, was in Afghanistan zu tun sei, erkennt man bereits Elemente dieses Modells. Die von afghanischen Interessengruppen in Bonn getroffene Übereinkunft sieht im Zeitraum von sechs Monaten die Errichtung einer Übergangsregierung auf breiter Basis vor, in der sämtliche ethnischen Gruppen sowie Frauen vertreten sein sollen. Zwei Jahre später soll es Wahlen geben. Praktisch alle internationalen Organisationen und NGOs fordern durchgreifende Maßnahmen zur Förderung der Rechte der Frau. Die Weltbank ruft dazu auf, Afghanistan bei der Errichtung einer starken Zentralbank und eines Finanzministeriums zu helfen und die Fähigkeiten aller wirtschaftlichen Institutionen zu stärken. Andere Organisationen richten den Fokus auf die Stärkung der Zivilgesellschaft.
Das meiste davon ist im gegenwärtigen Afghanistan völlig unmöglich. Mehr noch, vieles entspricht den Wünschen einer kleinen Minderheit westlich geprägter Großstädter in Afghanistan, von denen viele zudem Jahrzehnte im westlichen Ausland gelebt und den Kontakt zu ihrer eigenen Gesellschaft verloren haben. Das Modell müsste jedoch widersetzlichen Stammesführern und Warlords ebenso wie religiösen Amtsträgern und vermutlich auch den meisten einfachen Afghanen aufgezwungen werden. Es setzt deshalb den Einsatz starker Truppen und vieler Zivilpersonen voraus, was das Bild eines muslimischen Landes unter fremder Besetzung vermitteln würde. Wie in Somalia wäre das Ergebnis fast sicher ein Konflikt zwischen den internationalen Truppen und einflussreichen lokalen Gruppen.
Das würde höchstwahrscheinlich früher oder später zu einem Umschwung in die Gegenrichtung führen: Richtung Abzug und Vernachlässigung - so geschehen in Somalia und in Afghanistan vor zehn Jahren. Der Grund war in beiden Fällen derselbe. Die Länder schienen nicht bedeutend genug, um den Aufwand zur Schaffung von Ordnung zu rechtfertigen. Die Folgen der Vernachlässigung waren gravierend. Afghanistan wurde zur Zufluchtsstätte der al-Qaeda. In Somalia entstanden nicht nur harmlose islamistische Gruppen auf Basis der Clans, sondern auch die Al-Itihaad Al-Islamija, eine der al-Qaeda nahe stehende Gruppierung, die an den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im Jahre 1998 beteiligt war.
In Somalia hatte die Vernachlässigung indes auch günstige Folgen. Da es nun weder ein Machtzentrum gab, das gehalten werden musste, noch ausländische Hilfe, die es zu ergattern galt, gingen die Kämpfe zurück, und es entstanden Mechanismen, um das Fehlen eines Staates auszugleichen. Das bedeutete nicht zwangsläufig den Rückfall in ein "primitives" Leben in Dörfern und Clans. Vielmehr entstand beispielsweise eine neue Klasse international agierender Händler, die inzwischen komplexe Geschäfte finanzieren, weltweite Zahlungen leisten und Märkte entwickeln können.
Für die Erfahrung in Somalia gibt es historische Vorläufer. Die "geordnete Anarchie" im Frankreich, Deutschland oder Italien des Mittelalters, die von einer Vielzahl bewaffneter Mächte mit sich überschneidenden Hoheitsansprüchen gekennzeichnet war, verhinderte weder die Schaffung stabiler, weit reichender Fernhandelswege und Geschäfts- und Finanznetze noch ein beachtliches Wirtschaftswachstum und bedeutende kulturelle Errungenschaften. Langfristig wurde dadurch der Boden für das Entstehen der modernen Rechtsordnung bereitet, die ihrerseits eine unerlässliche Grundlage für die industrielle Revolution und den modernen Staat war.
Das unmittelbare Ziel der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan sollte deshalb nicht das Wunschbild einer demokratischen und kompetenten Regierung sein, sondern vielmehr die Bildung eines losen nationalen Vermittlungsausschusses. Er sollte nicht nur sechs Monate, sondern unbefristet tätig sein und sich nicht etwa vornehmen, den gesamten Apparat eines modernen Staatswesens zu schaffen, sondern sich zunächst auf die Schaffung der Mindestvoraussetzungen für eine "mittelalterliche" Zivilisation beschränken: die Vermeidung größerer bewaffneter Konflikte, die Sicherung der wichtigsten Handelswege und die Sicherheit und Neutralität der Hauptstadt. Diese Bedingungen sollten nicht von einer eigenen afghanischen Armee gesichert werden - das ist in Anbetracht der derzeitigen Lage ein weiteres Hirngespinst -, sondern von einer multinationalen Truppe unter UN-Mandat, im Notfall unterstützt von Einsätzen der amerikanischen Luftwaffe.
Der Hauptteil der westlichen Hilfe sollte deshalb nicht über die afghanische Regierung vergeben werden - selbst wenn diese den Anschein einer von einer breiten Mehrheit gestützten nationalen Regierung aufrechterhalten kann -, sondern direkt den Regionen zufließen. Außerdem sollte sie nüchtern und streng als Mittel der Friedenssicherung eingesetzt werden - als Anreiz für die lokalen Kriegsherren und Armeen, auf Kriegshandlungen zu verzichten. Das wäre eine Art Bestechung und könnte den Anschein erwecken, es würde die Macht der Kriegsfürsten aufrechterhalten. Doch wie Somalia und andere Beispiele aus Afrika verdeutlichen, wäre es weitaus riskanter, die Zentralregierung zum Hauptverteiler der internationalen Hilfe zu machen. Denn dadurch würde die Kontrolle über diese Regierung und die Stadt Kabul zum entscheidenden Kriegsziel der diversen Truppen im Land. Die Hilfe würde zu einer Quelle künftiger Kriege.
Natürlich sollte Hilfe auch direkt an Dörfer und Organisationen vor Ort fließen. Die Staatengemeinschaft sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, dass man auf diese Weise die Warlords und Stammesführer ganz umgehen könnte. Die Erfahrungen von Hilfsorganisationen in zahlreichen Ländern zeigen, dass bewaffnete Gruppen und mächtige Einzelne auf die Verwendung der Hilfen in ihren Gebieten stets Einfluss nehmen.
Die internationale Strategie für Afghanistan sollte deshalb den folgenden Leitsätzen folgen:
Erstens: Verwirf Überlegungen, was Afghanistan hilft, eine moderne Demokratie zu werden. An ihre Stelle sollte eine nüchterne Einschätzung der Mindestaufgaben treten, die die Zentralregierung erfüllen muss, um ein gewisses Maß an normalem Leben, Wirtschaftstätigkeit und vor allem Handel zu ermöglichen.
Zweitens: Arbeite direkt mit regionalen Führern zusammen, deren Macht gefestigt ist. Dafür sollten Verbindungsleute bestimmt werden, die das Verhalten der betreffenden Führer - insbesondere ihren Umgang mit lokalen ethnischen Minderheiten und ihre Beziehungen zu anderen Regionen und Volksgruppen - beobachten und die sicherstellen sollen, dass solche lokale Potentaten Terrorgruppen keinen Unterschlupf bieten. Drittens: Diese Verbindungsleute sollten mit internationalen und einheimischen NGOs zusammenarbeiten; zum einen, damit diese ungehindert arbeiten können, und zum anderen, damit sie sich nicht in die Lokalpolitik verstricken.
Viertens: Schaffe einen Stamm internationaler Beamter, die als solche Verbindungsleute arbeiten und Afghanistan anderweitig unterstützen. Für ihre Verpflichtung, sich längere Zeit dieser schwierigen und gefährlichen Aufgabe zu widmen, und für den Aufwand, sich mit den lokalen Sprachen, der Geschichte und den Landesbräuchen vertraut zu machen, sollten sie großzügig entlohnt werden. Ihre Position und ihr Prestige sind in jeder möglichen Weise zu stärken. In mancher Hinsicht ist der Indian Political Service des britischen Kolonialreichs dafür ein Vorbild. Diese Beamten leiteten die paschtunischen Gebiete, versuchten sie aber vernünftigerweise nie selbst zu verwalten, und pflegten die Beziehungen zur afghanischen Monarchie.
Fünftens: Wäge die Auflagen, die örtliche Führer als Gegenleistung für Hilfe erfüllen müssen, sorgfältig ab und widerstehe der Versuchung, unrealistische Maßstäbe anzulegen. Man sollte nur wenige Kämpfe zur selben Zeit aufnehmen. Zum Beispiel sollte Hilfe zunächst an Bildung für Mädchen gebunden sein, aber nicht an umfassende Reformen der Gesetze oder sozialen Vorschriften über die Stellung der Frau in der Familie oder an ihre Beteiligung an der Regierung. Schrittweise Veränderungen sind eher von Dauer. Sechstens: Finde dich damit ab, dass es trotz aller Kontrollen und Auflagen Korruption geben wird und die Kriegsfürsten Hilfe zur Festigung ihrer Macht und ihrer Seilschaften und Klientelnetze missbrauchen werden. Korruption ist erfahrungsgemäß unvermeidbar, wenn einem Land umfangreiche Hilfe gewährt wird, selbst wenn sie über offizielle Regierungsorgane verteilt wird. Hilfe sollte bewusst als politisches Instrument zur Erhaltung des Friedens eingesetzt werden.
Siebtens: Richte in Kabul einige grundlegende nationale Institutionen ein, aber verschiebe die Frage nach einer echten nationalen Regierung für Afghanistan auf die Zukunft. Die Zentralregierung sollte vielmehr als eine Art nationaler Vermittlungsausschuss behandelt werden. Sie und die Stadt Kabul dürfen nicht zu einem Preis gemacht werden, um den es zu kämpfen lohnt. Achtens: Schaffe eine beachtliche internationale Truppe unter UN-Mandat, um die Sicherheit und Neutralität von Kabul zu gewährleisten als dem Ort, wo Vertreter unterschiedlicher Gebiete zu Verhandlungen zusammenkommen und grundlegende nationale Institutionen geschaffen werden können. Die Stationierung dieser Schutztruppe ist für mindestens mehrere Jahre aufrecht zu erhalten.
Neuntens: Verzichte auf demokratische Verfahren wie etwa die Organisation von Wahlen. Sie würden auf der Ebene des Zentralstaates die Konkurrenz zwischen Kriegsfürsten oder ethno-religiösen Gruppen verschärfen. Unter den derzeitigen Umständen könnten aus solchen Wahlen unmöglich stabile, demokratische Institutionen hervorgehen.
Damit die Vereinigten Staaten und die Staatengemeinschaft ihre zentralen Interessen wahren können, muss Afghanistan nicht ein moderner, demokratischer Staat werden - nicht einmal ein geeinter. Was dazu nötig ist, ist ein Ende von schweren Kämpfen und hinreichender Zugang zu allen Teilen des Landes, um gewährleisten zu können, dass Afghanistan nicht erneut zum Zufluchtsort internationaler Terrorgruppen und zur Keimzelle der Destabilisierung für die Nachbarstaaten wird.
Die Bevölkerung Afghanistans hätte zweifellos großen Nutzen, wenn sich das Land per Dekret in einen Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Muster verwandeln ließe, der ordentlich geführt ist und soziale Dienste erbringen kann. Aber die Staatengemeinschaft kann einen solchen Staat nicht liefern. Die Erfahrung zeigt, dass sie allenfalls Institutionen schaffen kann, die dem Erscheinungsbild des modernen Staates entsprechen, aber korrupt und ineffizient sind und neue Konflikte über die Kontrolle dieser Institutionen auslösen.
Was die Bevölkerung Afghanistans am dringendsten braucht und wozu die Staatengemeinschaft ihr durchaus verhelfen kann, ist die Einstellung der Kriegshandlungen und die Möglichkeit, frei von brutaler Unterdrückung, ethnischen Schikanen und bewaffneten Auseinandersetzungen elementare Wirtschaftstätigkeiten ausüben zu können. Die Menschen müssen ihre Felder bestellen, ihre Erzeugnisse verkaufen, auf dem Markt einkaufen gehen und ihre Kinder zur Schule schicken können. Sie brauchen eine medizinische Grundversorgung und müssen sich im Lande frei bewegen können.
Langfristig wäre viel mehr zu wünschen. Doch der erste Schritt sollte schlicht darin bestehen, ein einigermaßen normales Leben wiederherzustellen, auch wenn es kein Leben in einem modernen Staat ist. Allein das zu erreichen, wird den jahrelangen, umsichtigen Einsatz von engagiertem internationalem Personal erfordern. Ehrgeizigere Pläne für eine Staatsbildung müssen kommenden Generationen und den Afghanen selbst überlassen bleiben.
aus: der überblick 02/2002, Seite 67
AUTOR(EN):
Marina Ottaway:
Marina Ottaway und Anatol Lieven sind Senior Associates des Carnegie Endowment for International Peace. Der Artikel wurde im Januar 2002 als "Carnegie Endowment Policy Brief" No 12, dann in "Current History" vom März 2002 veröffentlicht. Der leicht gekürzte Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung.