Hoffen auf den Wetter-Heiligen
In Brasilien haben mehrere Jahre Dürre die Stauseen des Amazonasbeckens weitgehend austrocknen lassen und die Wasserkraftwerke zum Erliegen gebracht. Experten hatten schon lange vor einem Strommangel gewarnt und die Regierung vergeblich gedrängt, die Infrastruktur zur Stromversorgung zu verbessern. Jetzt reagiert die Regierung mit drastischen Stromrationierungen. Die Bevölkerung nimmt es gelassen und hofft darauf, dass der beginnenden Regen die Probleme lösen wird.
von Petra Schaeber
Eigentlich sollte es ein ganz normaler Montag sein. Der Tag, an dem nur die Kaufleute frei haben, so wie an anderen Wochentagen in Brasilien die Lehrer, Putzfrauen oder Klatschkolumnisten. Doch es kam anders: Diesen 22. Oktober des Jahres 2001 hatte die Regierung in Brasilia kurzfristig per Dekret zum Feiertag im gesamten Nordosten des Landes erklärt. Statt ins Büro und die quirligen Innenstädte Salvadors, Recifes oder Fortalezas fuhren die Menschen an den Strand. Damit leitete die Regierung die zweite Phase zur Stromrationierung in Brasilien ein - den sogenannten Plano B.
Der Vorsitzende der Krisenkammer hatte den Feiertag verordnet. Für den von der Presse als Blackout-Minister titulierten Pedro Parente gab es einen besonderen Grund: Während sich im südlichen Brasilien bereits die Staudämme füllten, herrschte im regenarmen Nordosten weiterhin der Wassernotstand. Auf weniger als ein Zehntel war der Wasserstand gesunken. Der für die Stromerzeugung im Nordosten entscheidende Sobradinho-Stausee war zu einem Tümpel geschrumpft. Mehrere nach seinem Bau überspülte Dörfer waren wieder aufgetaucht. Die ehemaligen Bewohner lösten Ziegel aus ihren alten Hausmauern als Baumaterial. Aus Fischern wurden wieder Bauern, die wie früher ihre alten Felder bepflanzten.
Die vor wenigen Monaten eigens wegen der Stromkrise eingerichtete Energiekammer (Câmara de Gestao da Crise de Energia Elétrica) hat bereits zwei weitere Feiertage zum Energiesparen dekretiert - mehr könnten folgen. Die Unternehmensschließungen und dadurch ausgefallenen Arbeitsschichten hatten allerdings nicht genügend Auswirkungen auf die Energiebilanz: Nur rund ein Viertel des sonst üblichen Stromverbrauchs am Tag konnten die Staaten einsparen. Deshalb protestierten die Gouverneure der meisten Nordost-Bundesstaaten aus Angst um Steuereinbußen und unter dem Druck des regionalen Handels und der Industrie heftig gegen die zwangsverordneten Feiertage. Die ohnehin schon schwache Konjunktur und das durch die Sparmaßnahmen vermutlich weiter reduzierte Weihnachtsgeschäft haben Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch im wenig industrialisierten Nordosten. Dennoch blieb die Regierung hart. Den Bundesstaaten, welche die Feiertage aussetzen wollten, wurden empfindliche Strafmaßnahmen angedroht.
Eine ganze Reihe von Gründen hat in diesem Jahr zur Energiekrise in der größten südamerikanischen Wirtschaft geführt. Im brasilianischen Winter - auf der Südhalbkugel zur Jahresmitte - traf das ein, wovor Wissenschaftler und Energiekonzerne seit Jahren gewarnt hatten: Nach dem regenärmsten und heißesten Sommer seit 70 Jahren drohten die Stauseen des Amazonaslandes auszutrocknen. Mindestens zur Hälfte aber müssen die Reservoire gefüllt sein, wenn es nicht zu unkontrollierten Stromausfällen kommen soll. Denn über 90 Prozent des Stromangebots in Brasilien wird durch Wasserkraftwerke erzeugt. Der Engpass war vorhersehbar, ließ aber die Politiker im fernen Brasília unbeeindruckt. Seit 1996 liegt der Bundesregierung ein eigens in Auftrag gegebenes Gutachten (Plano de Açao Urgente) vor, das die Stromdefizite vorhersagt, vor den wirtschaftlichen und politischen Folgen warnt und Maßnahmen zur Vermeidung des Kollapses vorschlägt. Die Politiker haben von diesen Vorschlägen jedoch kaum etwas umgesetzt.
Die Energieknappheit zeichnete sich bereits in den achtziger Jahren ab. Das in der damaligen Verschuldungskrise zahlungsunfähige Land investierte nämlich nicht mehr in die Stromerzeugung. Bei dem niedrigen Wirtschaftswachstum im Verschuldungsjahrzehnt wirkte sich das allerdings nicht sofort aus. Erst als in den neunziger Jahren die Wirtschaft wieder schneller wuchs, klafften Stromerzeugung und -verbrauch immer weiter auseinander: Während die Stromnachfrage in den Jahren 1991 bis 2000 um jährlich 4 Prozent zunahm, erhöhte sich das Angebot jedes Jahr nur um 3,3 Prozent.
Gleichzeitig zeigte die Regierung wenig Geschick bei der 1993 begonnenen Privatisierung und Deregulierung der Strombranche. So wurden in wenigen Jahren der Großteil der Unternehmen, die das Stromnetz betreiben, privatisiert. Doch weil es noch keine Regeln für den künftigen freien Strommarkt und die Tarife für die Stromdurchleitung gab - sie wurden erst fünf Jahre später festgelegt -, zögerten die potenziellen Investoren, Kapitalanteile der zur Privatisierungen anstehenden Erzeugerfirmen zu kaufen. Niemand war bereit, in Unternehmen zu investieren, deren Ertragsprognosen ausschließlich von künftigen politischen Entscheidungen abhingen. So befinden sich heute noch 80 Prozent der Stromerzeuger in staatlicher Hand. Und in die hat auch die Regierung kaum noch investiert. Das Geld hat sie stattdessen für solche Unternehmen verwendet, die bereits verkauft worden sind, aber vor der Übernahme durch den privaten Investor noch saniert werden mussten.
Hinzu kommen strukturelle Probleme: Die meisten Großanlagen können nicht mit voller Kapazität gefahren werden, weil Leitungen fehlen, um den Strom in die Bedarfsregionen, zum Beispiel den Nordosten, zu transportieren. Erst langsam beginnen Unternehmen, die Stromnetze der einzelnen Subregionen Brasilien untereinander zu verknüpfen. Auch Stromleitungen über die Landesgrenzen hinweg in die Nachbarländer existieren nicht. Dabei fahren Argentinien, Paraguay und Uruguay Stromüberschüsse ein und hätten Brasilien Strom liefern können. Außerdem ist die Erzeugung und Übertragung des Stroms in Brasilien höchst ineffizient: Fast ein Drittel der Ausgangsenergie geht dabei verloren. Geschätzt wird, dass der Schlendrian bei den Energieanlagen zum Verlust von 15 Prozent des Stroms führt, weitere 15 Prozent gehen durch illegale Stromanschlüsse, sogenannte gatos (Kater), verloren.
Im April 2001 hatte sich die Krise derart zugespitzt, dass die Regierung Anfang Juni zu drastischen Maßnahmen griff. Alle Stromverbraucher - Haushalte, Unternehmen und der Staat - wurden zum Sparen gezwungen: Ein Fünftel des durchschnittlichen Stromverbrauchs (gemessen am entsprechenden Vorjahresquartal) sollten sie nun einsparen. Wer die Sparquote von 20 Prozent nicht erfüllte, dem sollte 48 Stunden nach Erhalt der ersten Rechnung der Strom abgestellt werden. Darüber hinaus sollten alle Verbraucher, die monatlich mehr als 200 Kilowattstunden (kWh) verbrauchen, zur Strafe einen höheren Strompreis zahlen, selbst wenn sie das Sparziel erfüllen. (Zum Vergleich: Unser Vier-Personen-Haushalt mit Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher, Stereoanlage, warmer Dusche, Ventilator und Computern verbrauchte im vergangenen Jahr im Durchschnitt rund 450 kWh monatlich).
Da sie ohnehin Meister im Improvisieren sind, brach bei den meisten Brasilianern das Stromsparfieber aus: Stromspartipps gab es in Rundfunk und Fernsehen zu den besten Sendezeiten, Zeitungen druckten Tabellen mit dem Energieverbrauch von Haushaltsgeräten und Vordrucke zur Kontrolle des täglichen Konsums. Innerhalb weniger Tage waren die teuren importierten Spar-Glühbirnen ausverkauft. Trotz brasilianischer Wintertemperaturen ersetzte Kaltwasser die warme Dusche (denn das Duschwasser wird in den meisten Haushalten mit Strom erhitzt und nicht mit Gas). Die Mikrowelle erhielt Urlaub, und nachts wurden Gefrier- und Kühlschränke ausgeschaltet. Statt in der Waschmaschine wurde in vielen Haushalten die Wäsche wieder von Hand gewaschen und das Bügeleisen nur einmal pro Woche benutzt. Inzwischen hat der Staat die drastische Regelung modifiziert: Erst wenn die Sparquote ein zweites Mal nicht erfüllt wird, und nur bei denen, die monatlich über 100 kWh pro Haushalt verbrauchen, soll der Strom abgestellt werden. Auf der monatlichen Stromrechnung steht inzwischen das Sparziel und der Glückwunsch bei erfolgreichem Sparen.
Was kaum jemand erwartet hatte, ist eingetreten: Die Brasilianer erweisen sich als eifrige Stromsparer, die ohne Murren versuchen, ihre Quoten zu erfüllen. Auch Handel und Industrie stellten sich auf die drastischen Sparmaßnahmen ein. So dürfen Firmen vorläufig keine neuen Stromanschlüsse beantragen oder ihren Verbrauch erhöhen. Auch sie sollen zwischen 15 und 25 Prozent ihres Energieverbrauchs einsparen. Die Außenbeleuchtung an Häusern sowie in Gärten und Anlagen wurde zwischenzeitlich komplett untersagt, mittlerweile ist sie wieder bis 22 Uhr erlaubt. Die Folge war ein dunkler Winter in Brasilien: Einige Geschäfte schließen jetzt an einem Tag in der Woche oder haben die Öffnungszeiten reduziert. In den Flughäfen funktionieren nur noch weniger als die Hälfte der sich automatisch öffnenden Türen. Die Klimaanlagen der Shopping Center werden heruntergefahren, so dass es dort jetzt im Sommer nicht mehr wie früher geradezu kühl, sondern mediterran warm ist. In Designer-Restaurants wird bei Kerzenlicht gegessen. Unternehmen stellen Generatoren in den Hinterhof, um ihre Quoten nicht zu strapazieren. Busse werben mit der Aufschrift "Hier wird ihre Werbung auch beim Blackout gesehen". Unternehmen, die traditionell eigenen Strom herstellen, wie etwa der Bergbaukonzern Companhia Vale do Rio Doce, investieren in ihre eigene Stromerzeugung, um Überschüsse verkaufen zu können. Viele Unternehmen in stark stromabhängigen Branchen überdenken ihre Strategien. Das sind vor allem die Minengesellschaften, die Aluminium- und Stahlschmelzer, die Papier- und Zelluloseindustrie, die Chemie-, Textil- und Telekomindustrie. Ab welchem Weltmarktpreis, so überlegt etwa die Aluminiumindustrie, lohnt es sich, ihre Stromquoten zu verkaufen statt das energieverschlingende Metall zu produzieren.
Inzwischen sind die drastischen Maßnahmen realistischeren Regeln gewichen und Revisionen der Sparziele möglich. So sind die kleineren Unternehmen nicht mehr von der Stromabschaltung bedroht, wenn sie das Sparziel nicht schaffen. Stattdessen werden diejenigen mit einem Bonus belohnt, die das Sparziel erreichen.
Ergänzend zum Stromsparpaket will die Regierung nun wieder den Ausbau der Stromerzeugung fördern. Zwar hatte bereits 1999 ein Programm zum Bau von 49 Thermokraftwerken begonnen, die das Land von der schwer kalkulierbaren Wasserkraft unabhängiger machen sollten, aber die Umsetzung war gleich in der Anfangsphase stecken geblieben. Bis auf die Gemeinschaftsunternehmen unter Beteiligung des staatlichen Energiekonzerns Petrobrás liegen die Projekte auf Eis. Die Regierung wollte den Investoren wegen des schwer abschätzbaren Inflationsrisikos nicht garantieren, dass sie erhöhte Dollarpreise für Gas und Öl automatisch an die Stromabnehmer weitergeben könnten. Deshalb ließ sich kein ausländischer Stromkonzern auf das Risiko ein. Zu alledem blieben die Regeln über die Beteiligungen und Netzdurchleitungen unklar, und die bürokratischen Hemmnisse waren gewaltig.
Jetzt soll jedoch den Investoren ein Wechselkursausgleich garantiert werden. Plötzlich heißt es, dass die staatlichen Erzeuger mit Privatunternehmen bereits Verträge vorverhandelt hätten. Die Ministerien sind angewiesen, die Genehmigungen zügig zu erteilen. Auch die infolge des Energienotstands weiter erhöhten Strompreise locken die ausländischen Unternehmen an. Weil der brasilianische Strommarkt bis 2005 schrittweise liberalisiert werden soll, rechnen die Investoren damit, dass die Tarife sich bis dahin erneut erhöhen. Das könnte dann ein Startsignal für zögernde Investoren sein.
Vorerst jedoch belasten die Rationierungen, die den Stromverbrauch um 20 Prozent senken, die brasilianische Wirtschaft erheblich. Nach einer Untersuchung der angesehenen Stiftung Fundação Getúlio Vargas wird das Wirtschaftswachstum Brasiliens im Gesamtjahr 2001 nur noch 2,5 statt der vorausgesagten 4 Prozent betragen. Das bedeutet für 800.000 Brasilianer den Verlust ihres Jobs und eine Erhöhung der Arbeitslosenrate um 1,4 Prozent. Dem Fiskus entgehen 4,5 Prozent der erwarteten Steuereinnahmen. Die bereits defizitäre Handelsbilanz wird um 1,5 Milliarden US-Dollar zusätzlich belastet.
Dieser Bremseffekt hat Folgewirkungen für die gesamte Wirtschaft: Die schwächere Konjunktur schreckt Investoren ab. Nur noch mit 17 bis 24 Milliarden US-Dollar Direktinvestitionen aus dem Ausland ist für das gesamte Jahr 2001 zu rechnen. Im Vorjahr waren es noch 33 Milliarden US-Dollar. Die Unternehmen zögern nicht nur wegen der gesunkenen Kaufkraft mit dem Kapitaleinsatz in Brasilien. Für viele Investoren, vor allem aus der Industrie, ist der Standort Brasilien wegen der Verteuerung der Strompreise längst nicht mehr so kostengünstig. Bis vor kurzem hatte das Land, welches seinen Strom fast nur aus billiger Wasserkraft gewinnt, Strompreise, die zu den günstigsten der Welt zählten. Das ist nun vorbei. Die Strompreise sind bereits in den letzten Jahren unverhältnismäßig stark gestiegen: Zwischen 1995 und Juni 2001 haben sie sich im Durchschnitt verdoppelt, während die Inflationsrate für denselben Zeitraum bei 73 Prozent lag. Der Strompreis für die Haushalte stieg währenddessen sogar um 130 Prozent.
Zwar kann die Regierung Cardoso schwer leugnen, dass sie maßgeblich mitverantwortlich ist für das Chaos in der Stromversorgung. Das stellt sogar die staatliche Entwicklungsbank BNDES in einer Analyse fest. Dennoch hat die Popularität der Regierung zu Beginn der Stromsparaktion überraschend wenig gelitten. Brasilianer sind nämlich nicht nur Meister im Improvisieren, sondern auch schwer zu erschütternde Optimisten. Ferner helfen der Regierung inzwischen die unsichere Weltwirtschaft nach dem Terroranschlag in den USA und der Krieg gegen Afghanistan sowie die Krise in Argentinien, das Energieproblem im eigenen Land in den Hintergrund zu drängen. Das Energiesparprogramm ist zur Zeit kaum noch ein Thema für die Öffentlichkeit. Und es scheint, als würden wenige Regentropfen ausreichen, dem Optimismus der Brasilianer neuen Auftrieb zu geben. Seit es - zuerst im Westen Bahias in der Region des Sobradinho-Stausees - zu regnen begonnen hat, wächst wieder einmal die Hoffnung auf den Wetter-Heiligen São Pedro und auf bessere Zeiten für Stromerzeuger und Flussbewohner.
aus: der überblick 04/2001, Seite 33
AUTOR(EN):
Petra Schaeber:
Petra Schaeber ist Diplom-Volkswirtin und Journalistin in Salvador de Bahia (Brasilien). Sie arbeitet für Funk- und Printmedien mit dem Schwerpunkt Lateinamerika. Unter anderem hat sie das Reise-Taschenbuch "Bahia" im Dumont Verlag veröffentlicht. An der Freien Universität Berlin promoviert sie über afro-brasilianische Kultur und Rassenbeziehungen.