Die veränderten Religionsmärkte werden in Deutschland kaum wahrgenommen
Der dramatische Wandlungsprozess auf der Landkarte der Religionen werde in Deutschland bisher nur sehr eingeschränkt diskutiert, betont Professor Friedrich Wilhelm Graf, Lehrstuhlinhaber für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Was bei den neuen Pfingstgemeinschaften passiere, stelle unser bisheriges Tun infrage. Das gelte auch für die Entwicklungshilfe. Die neuen Formen des protestantischen Christentums, die den Menschen eine Sprache und ein sinnstiftendes Weltbild geben, erzielten bessere Erfolge als die traditionelle Entwicklungshilfe.
Gespräch mit Friedrich Wilhelm Graf
Die Fragen stellten Wilfried Steen und Christoph Wilkens
Als Mitarbeiter des kirchlichen Entwicklungsdienstes beschäftigen uns die neueren christlichen Bewegungen, also neo-pfingstkirchliche, auch fundamentalistische sehr - vor allem in den Ländern des Südens. Gerade unter den Armen finden diese Kirchen besonders viele Anhänger, und auch an den Mittelschichten sind sie bisweilen näher dran als die bisherigen Hauptrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche. Wie beurteilen Sie als Theologe dieses Phänomen aus der europäischen, deutschen Sicht?
Zunächst ist mir wichtig, an dringend gebotene Differenzierungen zu erinnern. Wenn wir vom "Süden" sprechen, dann benutzen wir sozusagen einen semantischen Big Mac, unter den wir ganz unterschiedliche Gesellschaften subsumieren. Entwicklungen auf den Religionsmärkten haben aber immer sehr viel mit lokalen und regionalen Gegebenheiten zu tun. Es hat keinen Zweck über Afrika und Lateinamerika als Ganzes überhaupt zu reden, sondern Religionsanalyse heißt, sich eine bestimmte Konstellation anzuschauen. Das ist mir als Vorbemerkung sehr wichtig, weil zu generalisierenden Trends immer auch Gegenentwicklungen im Einzelnen identifiziert werden können.
Versuchen wir es mal konkreter: Wenn in einem Land wie Sudan ein Friedensvertrag ratifiziert werden soll, scharren - bildlich gesprochen - eine Reihe von pfingstlerischen Bewegungen wie die "Assemblies of God" schon mit den Hufen, um mit energischen Missionsbestrebungen in das Land zu gehen. Viele betrachten das mit großen Bedenken. Tun Sie das auch?
Ich bin ein protestantischer Westeuropäer; und als solcher tut man sich mit bestimmten Phänomenen sehr schwer. Die religiösen christlichen Bewegungen, über die wir reden, sind keine deutschen Produkte. Sie sind Produkte der nordamerikanischen Religionsgeschichte. Und auch damit haben Menschen wie ich dann schnell ihre Schwierigkeiten. Aber jede Form von Mission ist immer externe Intervention auf einem lokalen oder regionalen religiösen Markt. Insofern ist das strukturell dasselbe wie das, was wir im 19. Jahrhundert mit klassischer Missionstätigkeit europäischer christlicher Gemeinschaften erlebt haben.
Was uns jetzt möglicherweise irritiert, sind die hohe Aggressivität, die Art der rhetorischen Strategie, die Körperbetonung in der Kommunikation des Christlichen und so weiter. Aber jede Aktion von solchen Gruppen - wie beispielsweise im Sudan - schafft unter den gegebenen Bedingungen Konflikte. Ich sage nun nicht 'Das ist gut' oder 'Das ist schlecht', sondern meine Aufgabe besteht darin, Kulturen zu analysieren, zu fragen, was dort eigentlich passiert, und auf die Ambivalenz solcher Entwicklungen hinzuweisen.
Zur Religionsfreiheit, zur Offenheit einer Gesellschaft gehört natürlich auch, dass sie externe Missionstätigkeit, religiöse Konkurrenz zulassen muss. Andernfalls müsste man ja sagen, 'Christen sollen nicht mehr missionieren' oder 'Wir wollen regulierte Religionsmärkte mit Monopolstrukturen für traditionelle Anbieter'.
Wir müssten ja nicht nur mit Abwehr, sondern könnten stattdessen mit Öffnung reagieren. Inwieweit können auch diese Kirchen für uns Partner sein? Der Religionssoziologe Paul Gifford hat kürzlich gesagt, dass diese Kirchen in Westafrika auf dem Wege seien, auch öffentliche politische Verantwortung zu übernehmen. Sehen Sie das ebenso, dass sich diese Bewegungen, wenn sie wachsen und sich institutionell verankern, sich auch stärker in einer Verantwortung gegenüber der Politik etablieren?
Ich komme noch einmal zurück auf Ihre Eingangsfrage nach der besonderen Wirkung auf Arme und Mittelschichten und knüpfe dann an das an, was Sie gerade gefragt haben. Es gibt bei aller angebrachten Skepsis gegenüber Generalisierungen faszinierende neue Untersuchungen zu der Frage, was möglicherweise afrikanische Religionsmärkte von europäischen und nordamerikanischen unterscheidet. Dort ist beispielsweise der Glaube an die Präsenz von höheren geistigen Wesen, von supranaturalen Agenten welcher Art auch immer ein sehr fester Bestandteil der jeweils etablierten Religionskulturen.
Die Pfingstkirchen bestimmte Formen der Pentecostalists können diese Erwartung in hervorragender Weise bedienen, weil sie christliche Botschaften in einer Sprache kommunizieren, die für viele Menschen prä-reflexiv, also unmittelbar einsichtig und verständlich ist. Die Pfingstkirchen sind einfach an den Bedürfnissen, an den Leidenswahrnehmungen und an den Erlösungshoffnungen derer, die Sie die Armen genannt haben, sehr viel näher dran als andere Anbieter auf dem religiösen Markt. Und sie stellen diesen Menschen offenkundig eine Sprache zur Verfügung. Das ist etwas ungeheuer Wichtiges: Menschen zu einer Sprache zu verhelfen, in der sie sich selbst artikulieren und beschreiben können.
Damit verbindet sich und das ist der zweite Punkt in aller Regel, dass solche religiösen Akteure, religiösen Gemeinschaften oder von mir aus auch Kirchen immer Strukturen der Kommunikation und insoweit der Solidarität schaffen. Und in dem Maße, in dem sie das tun, sind sie über kurz oder lang dazu genötigt, sich auch politisch zu äußern. Aber es ist natürlich auch für diese Bewegungen ambivalent, sich in politischen Arenen zu äußern, weil sie dort mit anderen Akteuren zusammenstoßen. Die Übernahme von sozialer Verantwortung, die Artikulation politischer Interessen also etwas, das wir aus europäischer Sicht für sehr wichtig halten verstärkt noch einmal die Dynamik der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Akteuren.
Sollen wir nun als historische Kirchen den konkurrierenden Akteuren einfach nur zuschauen und sagen: Die schaffen das gut mit der verständlichen Sprache und können das vielleicht auch besser als wir? Oder können wir denen das Feld nicht überlassen?
Was wollen Sie denn unmittelbar dagegen aufbieten? Sie sind ja in aller Regel in diesen Gesellschaften schon über traditionelle Missionskirchen, über kirchennahe Entwicklungshilfestrukturen und dergleichen in hohem Maße präsent. Ich will es konstruktiv wenden: All diese Entwicklungen zwingen uns zunächst dazu, uns mit sehr zentralen Fragen unseres bisherigen Tuns selbstkritisch auseinanderzusetzen.
Es gab einmal etwas, was dem vielleicht entgegenzusetzen war: das mit der Theologie der Befreiung verbundene gesellschaftliche Engagement. Es war ein ganz wichtiger Teil der Arbeit der »Padres« in Lateinamerika, bei den Armen zu sein, in die Dörfer zu gehen. Heute ist die katholische Kirche in einem Land wie Bolivien selten in den Dörfer zu sehen, aber man findet dort die »Assemblea de Dios« oder »Iglesia de Dios« der Pfingstgemeinschaften, die in fast jedem Dorf manchmal mit mehreren kleinen Kirchen vertreten sind.
Die Befreiungstheologie ist von nordamerikanischen und europäischen Intellektuellen sowohl in ihren theologischen Produkten als auch in ihren sozialreformerischen Aktivitäten immer dramatisch überschätzt worden. Ich sage das bewusst mit etwas polemischer Zuspitzung. Befreiungstheologie ist in ihrer europäischen Rezeptionsgeschichte ein Produkt der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist eine spannende Geschichte, wie sehr etwa bei Katholikentagen oder bei Evangelischen Kirchentagen Modelle einer Kirche von unten beschworen worden sind, wie sehr bestimmte Gestalten wie Leonardo Boff auch aufgrund ihrer Konfliktgeschichte mit dem Vatikan dann mit einer Aura umgeben und als Heroen gefeiert worden sind. Aber das ist nicht lateinamerikanische Religions- und Theologiegeschichte, sondern es ist nordamerikanische und europäische Religions- und Theologiegeschichte, also der interessante Import von Gegenheiligen zu einem amtskirchlichen Christentum.
Auf der anderen Seite sehen wir, dass viele dieser befreiungstheologischen Projekte, beispielsweise in Brasilien, sehr schnell gescheitert sind. Warum? Weil viele Leute das Symbolsystem der Befreiungstheologie als extrem autoritär erlebt haben. Das Volk war ja in aller Regel ein Volk, das sich nur durch den Mund bestimmter Theologen äußern »durfte«. Und offenkundig sind die sozial integrativen und sozial karitativen Leistungen dieser idealisierten kleinen Gemeinden sehr überschaubar geblieben.
Was leisten nun dagegen andere? Sie bieten eine Sprache an und sie stellen nach allem, was wir wissen, sehr viel effizienter Strukturen sinnhaften Handelns zur Verfügung.
David Martin hat ein berühmtes Buch mit dem Titel »Tongues of Fire: The Explosion of Protestantism in Latin America« publiziert. Wenn Sie sich dessen Analysen anschauen, zeigen sich klassische Phänomene des Zusammenhangs von Religiosität und ökonomischem Aufstieg mit Wohlstandsakkumulation. Viele derer, die die römisch-katholische Kirche verlassen haben und dann in protestantischen »Sekten« so hieß das ja zunächst heimisch wurden, haben dies ursprünglich auch mit der Erwartung verbunden, in diesen kleinen Gemeinschaften mit einer anderen moralischen Ökonomie konfrontiert zu sein.
Viele lateinamerikanische Katholizismen dagegen haben über einen sehr langen Zeitraum hinweg sehr autoritäre Familienstrukturen konserviert. Sie haben Doppelmoral legitimiert, beispielsweise, dass der Familienvater sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen oder auch Männern unterhält. Im Familieneinkommen fehlt deshalb viel Geld, weil er es für die Freundin oder den Lover braucht. In dem Moment aber, wo eine Religion ihn fest bindet und er asketisch leben muss, ergibt sich für die Familie ein realer Mehrwert. Sie hat nämlich mehr Geld, das sie investieren kann, etwa in die Erziehung ihrer Kinder, in den Zusammenhalt von Familienstrukturen. Und dann muss sie eigentlich nur relativ kleine Schritte tun.
In diesen kleinen christlichen Gemeinschaften passiert auch das, was wir in der Entwicklungshilfe mit dem Begriff der Selbsthilfe verbunden haben, nämlich die Bildung und Ansammlung von Sozialkapital. Die Mitglieder begegnen Leuten, die ihnen weiterhelfen. Sie sind nicht mehr abhängig von Almosen, sondern sie treffen in dieser kleinen christlichen Gemeinschaft jemanden, der einen Job hat, der sie weiterempfehlen kann, weil er weiß, dass es sich um zuverlässige Menschen handelt, die nicht trinken und so weiter.
Eines der Schlüsselerlebnisse im Rahmen einer schon länger zurückliegenden Untersuchung zu diesem Thema ist für mich gewesen, dass eine alte Frau in Salvador de Bahia in Brasilien auf die Frage, wie sie denn ihre eigene Konversion deute, einem amerikanischen Kollegen und mir die Antwort gegeben hat: 'damit es meinen Enkelkindern einmal besser geht'. Die hat ja niemals Max Weber oder Ernst Troeltsch oder irgendeinen Klassiker der europäischen Religionssoziologie gelesen, aber sie wusste, dass diese Form von Protestantismus eine für ihre Lebensführung und die ihrer Familie sehr viel hilfreichere Form des Christentums war.
Wir können das aus den Erfahrungen im Kampf gegen den Alkoholismus bestätigen: Die Gemeinschaft hat eine stärkere Rolle. Aber was lernen wir als traditionelle Kirchen daraus?
Wir lernen als erstes daraus, dass wir sehr viel selbstkritischer gegenüber illusorischen Trends sein müssen. Befreiungstheologie war ein autoritäres Unternehmen; sie gebrauchte in ihren theologischen Legitimationsstrukturen einen hoch ambivalenten Begriff des Volkes. Das finden Sie auch in vielen nationalistischen Theologien im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder auch Ende des 20. Jahrhunderts wieder. Lassen Sie uns an dem Punkt mehr kritisches, tiefer gehendes Verständnis entwickeln.
Zweitens müssen wir in der Tat darüber nachdenken, welcher Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und Lebensführung besteht. Die Erfolge dieser Formen von Pentecostalism hängen in aller Regel daran, dass sie Leuten klare Muster der Lebensführung vorgeben. Sie fordern viel, aber sie bieten auch viel. Und das ist ihre Stärke gegenüber protestantischen mainline churches. Sie bieten ein relativ sinnstiftendes Weltbild. Sie bieten klare Orientierungen für die Organisation des Alltags. Und sie bieten nicht zuletzt Sozialkapital.
In ihrer ersten Frage haben Sie nicht nur die Armen, sondern auch den Mittelstand erwähnt. Lassen Sie uns über Zeitschienen reden: Es wird vermutlich so sein, dass diese protestantischen Formen des Christentums erheblich dazu beitragen, dass sich in bisher mittelstandsarmen Gesellschaften so etwas wie ein Mittelstand bildet. Und wenn diese Gemeinschaften das schaffen, dann haben sie auf ihrem Wege all das erreicht, was immer die Zielsetzung westlicher, interventionistischer Entwicklungshilfepolitik gewesen ist.
Das ist ein alter Zusammenhang. Der französische protestantische Religionssoziologe Roger Bastide ist 1938 an die Universität von São Paulo gegangen und hat sehr früh darüber geschrieben, dass diese Form von Protestantismus für die schwarzen Bevölkerungsgruppen in Brasilien die attraktivere Religion ist. Warum? Nun, zunächst kommt sie aus den USA. Die diskriminierten Schwarzen in Brasilien können sich also mit einem »Sieger« identifizieren. Zweitens hilft sie aus der Armutsfalle heraus; und drittens ermöglicht sie eine ganz andere Kommunikationsstruktur, wozu auch das körpersprachliche Element beiträgt.
Die Bildung eines solchen Mittelstandes ist ja eines der Hauptziele der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Es ist aber nicht so leicht zu bewerkstelligen. Warum sollten die Pfingstkirchen das eher erreichen?
Ich sage es nochmals ganz vorsichtig: Wenn man etwas versucht hat und sieht, dass es nicht gut geklappt hat, hat man Anlass zu selbstkritischen Fragen. Es ist ja möglicherweise so ich sage das wie gesagt sehr, sehr behutsam , dass es Strukturen klassischer Entwicklungshilfe mit einem sehr autoritären Gefälle zwischen Helfenden und den Objekten ihrer Zuwendung gegeben hat, in denen erhebliche Sprachprobleme zu Tage traten und in denen elementare Bedürfnisse der Menschen nicht zureichend wahrgenommen worden sind.
So wie wir in den letzten zwanzig Jahren einen sehr kritischen Diskurs über traditionelle Mission geführt haben, so haben wir ja auch begonnen, einen kritischen Diskurs über Entwicklungshilfe in ihren traditionellen Perspektiven zu führen. Und wir wissen ja, dass diese traditionelle Entwicklungshilfe sehr häufig einer ganz abstrakten, stereotypen Modernisierungstheorie verpflichtet war und zum Teil noch ist. Möglicherweise wird das Gewicht von kulturellen Faktoren, von lokalem Wissen, von regionalen Gewohnheiten zu wenig ernst genommen. Es gibt ja dieses anschauliche Bild von einem ich sage es jetzt plakativ übertreibend naiven Absolventen einer amerikanischen Universität, der hoch moralisch und auf seine Weise tief fromm irgendwohin als Helfer geht und dann gar nicht imstande ist zu erkennen, dass er sich in einem kulturellen Umfeld bewegt, das höchste Sensibilität erfordert.
Unsere Projektion ist in der Tat auch wenn wir Entwicklungshilfe leisten oft immer noch der säkulare Staat, das westlich geprägte Konzept von Demokratie und Menschenrechten. Damit gehen wir etwa nach Afrika und erleben, dass häufig Religiosität eine Reaktion auf dieses übergestülpte säkularisierte westliche Lebensmodell ist, dass mit der Religiosität als Gegenbewegung auch die eigene Kultur bewahrt wird, die andernfalls in diesem westlichen Lebensmodell untergeht.
Wenn Sie von Menschenrechten oder von Freiheit reden, dann können Sie natürlich anderen Menschen nicht gleich Ihre Interpretation von Menschenrechten aufzwingen wollen. Dann gehört es offenkundig zu den legitimen Freiheitsspielräumen dieser Menschen, selbst deutlich zu artikulieren, was sie unter ihrer Freiheit verstehen. Das sieht von afrikanischer Gesellschaft zu afrikanischer Gesellschaft sehr unterschiedlich aus. Nigeria etwa ist nicht Südafrika.
Unsere Partnerkirchen äußern oft die Besorgnis, dass all das, was mit der ökumenischen Bewegung an Hoffnung verbunden ist, zugeschüttet werden kann durch eine andere Ökumene, die sich jenseits des Kreises der im »Ökumenischen Rat der Kirchen«- dem in Genf ansässigen ÖRK zusammengeschlossenen Kirchen vollzieht. Damit wird ja auch unser theologisches Modell ziemlich erschüttert.
Deshalb brauchen wir eine differenzierte, kritische Diskussion der Genfer Ökumene. Die Genfer Ökumene ist, so die Erfahrung, ebenso wie viele andere transnationale nichtstaatliche Organisationen offenkundig sehr stark von Funktionären gesteuert. Möglicherweise haben sich diese Funktionäre weit von den Repräsentativorganen entfernt. Sie steuern ja wenig über repräsentative Versammlungen, sondern das Entscheidende wird in kleinen Gremien vorgedacht. Weiterhin ist der Ökumenische Rat der Kirchen kaum imstande gewesen, nach der Wende 1989/90 in eine selbstkritische Debatte über seine politische Instrumentalisierbarkeit einzutreten. Dabei wissen wir sehr genau, welche Rolle das Thema Ost-West-Gegensatz, Intervention und Instrumentalisierung von Kirchen in Osteuropa für Zwecke der Außenpolitik der UdSSR gespielt hat. Ich sehe nicht, dass der ÖRK in dieser Frage bereit gewesen ist, sich zu seiner eigenen Geschichte kritisch zu verhalten. Ich sehe auch nicht, dass die dramatischen Wandlungsprozesse in den letzten Jahren überhaupt ernsthaft wahrgenommen worden sind.
Wir haben doch sowohl innerhalb der deutschen kirchlichen Öffentlichkeiten als auch innerhalb der Genfer Funktionärsökumene einfach eine verzerrte Sicht etabliert. Wir sehen vieles Entscheidende nicht: Es gibt nicht mehr nur sie und ihre Partnerkirchen. Vielmehr geben andere christliche Akteure mit großer Expansionsdynamik und hoher Aggressivität auch mit den damit verbundenen Konflikten den religiösen Landkarten afrikanischer Gesellschaften längst ein neues Profil.
Man kann im Zuge dessen ja auch einmal die religiösen Botschaften der Genfer Ökumene infragestellen. Häufig standen doch hoch ambivalente sozialpolitische Botschaften im Vordergrund. Wenn man von den Armen einerseits und von den multinationalen Unternehmen andererseits redet, und dazwischen wenig an Sozialstruktur im Blick hat, dann macht man sich möglicherweise ein ich sage es freundlich irritierend simplizistisches Bild von vielen afrikanischen Gesellschaften. Dann muss man sich nicht wundern, wenn auch die eigenen Interventionen in diesen Gesellschaften kontraproduktiv sind. Man hat einfach nicht genau genug hingeschaut, was da alles passiert.
Noch einmal zur Frage der Theologie....
Meine These dazu ist analog, dass die akademische Theologie in der Bundesrepublik die Entwicklungen auf den Religionsmärkten kaum wahrnimmt. Das hat etwas damit zu tun, dass die Theologie ihren traditionellen Fächerkanon wenig revidiert hat, und es ist wenig an interner Modernisierung passiert. Daher leidet sie unter anhaltenden Betriebsblindheiten. Ein Großteil der Literatur, die man zu diesen neuen Entwicklungen lesen kann, ist englischsprachige, französische oder spanische Literatur. Es gibt im Moment kaum wirklich gute deutsche Bücher über den Pentecostalism. Wenn man dagegenhält, was man alles an Literatur über die paar Befreiungstheologen lesen kann: Mancher Verlag wäre fast pleite gegangen wegen einer Überproduktionskrise von dysfunktionaler Befreiungstheologie. Das ist schon ein irritierendes Phänomen. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass uns viele dieser anderen Formen des Christentums sehr fremd sind und uns auch Interpretationsaufgaben abnötigen, mit denen wir uns traditionell schwer tun. Wir haben gelernt, Texte zu lesen und zu interpretieren, wir haben aber kaum Kompetenzen erworben, etwa Körpersprache theoretisch zu deuten.
Die Globalisierung könnte uns ja schon bald zwingen, uns damit auseinanderzusetzen. Globalisierung ist nicht nur eine wirtschaftliche Entwicklung, sondern es entsteht auch mehr und mehr ein globalisierter religiöser Markt. Wie sehen Sie die Auswirkungen davon auf Deutschland selbst? Über Satellitenfernsehen schwappen die missionarischen Gottesdienste schon zu uns herüber.
Zunächst: Ich gehöre zu den Universitätstheologen, die keine moralisierende Globalisierungskritik formulieren, sondern eher sagen: Das ist ein ökonomischer Vorgang mit hoher Rasanz, in dem vieles von dem realisiert wird, was wie vorher schon gesagt klassische Ziele der Entwicklungshilfe gewesen sind; freilich in Teilen mit hohen sozialen Kosten. Es gibt allerdings keine »kapitalistische« Revolution, in der man nicht auch hohe soziale Kosten zu bearbeiten hat.
Religionstheoretisch wiederum bedeutet Globalisierung völlig neue Kommunikation, und das heißt auf jeden Fall auch, dass wir verstärkt mit hybriden Strukturen zu rechnen haben, mit dem Einwandern von Symbolen der einen Religionskultur in eine ganz andere. Deshalb sprechen ja jetzt viele amerikanische Religionssoziologen in Hinblick auf die Religion nicht mehr von globalization, sondern von glocalization. Man kann sich also aus weltweiten religiösen Speichern etwas »herunterladen«, aber das wird am eigenen Ort in eine schon lange bestehende oder neu sich entwickelnde religiöse Kommunikationsstruktur eingebaut. Das sind also neue Formen der Verbindung von globalem religiösen Symbolwissen mit lokalen religiösen Traditionen, verstärkter Austausch zwischen ganz heterogenen Religionskulturen; und just dadurch entsteht verschärfte Konkurrenz mit den notwendig folgenden Konflikten. Insofern werden verstärkte religiöse Konflikte sicherlich eine der Begleiterscheinung von Globalisierung sein, aber ich glaube nicht zwischen den Kulturen im Sinne eines Clash-of-Civilizations-Modells , sondern eher innerhalb bestimmter Religionsmärkte in den Gesellschaften.
Eine Folge der Globalisierung ist auch, dass viele Menschen sich verunsichert fühlen. Und bei solcher Verunsicherung sind klare, eindeutige Aussagen oft eine wichtige Stütze. Vielleicht ist das auch ein Grund für den Erfolg von pentecostalen Gruppierungen. Ist da die Evangelische Kirche mit ihrem Pluralismus und ihren Synoden richtig aufgestellt?
Die Kirchen in der Bundesrepublik haben ein zentrales Problem: Sie haben und das sage ich mit großem Respekt angesichts der Aufgabe wie der bereits erbrachten Leistungen einen extrem weiten religiösen Pluralismus zu integrieren. Beide Volkskirchen sind inzwischen religionstheoretisch gesehen hoch plurale Ensembles. Von einer, ich nenne es einmal ökologisch sensibilisierten, diffus rot-grünen Ökopax-Religion, bis hin zum IDEA-Protestantismus alles in einer Institution ko-präsent zu halten, das ist schon eine sehr schwierige Integrationsaufgabe (idea ist eine Nachrichtenagentur, die der Evangelikalen Allianz nahesteht, einem Bund engagierter, allein der Bibel verpflichteten Christen; Anm. Der Red.).
Das andere ist, dass der Protestantismus sich diese Integrationsaufgabe dadurch noch besonders schwer gemacht hat, dass er im Zeitalter der Ökumene versucht hat, seine protestantische Identität nicht mehr aus Opposition gegenüber dem Katholizismus zu formulieren. Das ist eine ganz heikle Gratwanderung, weil sie traditionell immer erleben konnten, dass ein Großteil protestantischer Konfessionsidentität gerade dazu diente, die Vielfalt der unterschiedlichen Protestantismen zu integrieren. Dass soll jetzt kein Loblied auf kulturkämpferischen Antikatholizismus sein. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass man nur dann eine starke kollektive Identität formulieren kann, wenn man auch zu starken Abgrenzungsleistungen imstande ist. Stellt man aber eine solche Abgrenzungsleistung unter ein ökumenepolitisches Tabu, muss man sich nicht über die daraus folgende Identitätsdiffusion beschweren, sondern dann muss man sagen »Das haben wir so gewollt«.
Wir können uns also zu der Integrationsleistung der traditionellen Kirchen gratulieren, müssen dafür jetzt aber in Kauf nehmen, dass die neuen Bewegungen wachsen und die traditionellen Kirchen in Bedrängnis kommen?
Ich bin tief davon überzeugt, dass wir mehr Formen neuen Christentums auch in der Bundesrepublik erleben werden. In der ersten Auflage des Lexikons »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG) noch vor dem Ersten Weltkrieg hat der Kieler Praktische Theologe Otto Baumgarten einen Artikel geschrieben mit dem Titel »Engländerei im kirchlichen Leben«. Darin hat er auf die Attraktivität derjenigen Formen des Christentums hingewiesen, die aus England und den USA zu uns gekommen sind: die Baptisten, die Heilsarmee und so weiter. Sie alle haben sich als Minderheiten auf dem religiösen Markt etablieren können. Ich bin tief davon überzeugt, dass wir das jetzt auch wieder erleben.
Aber ich kann es nicht oft genug wiederholen man muss dazu sagen, dass wir ja schon das Gegenwarts-Christentum in der Bundesrepublik kaum hinreichend genau wahrnehmen. Dabei ist die religiöse Vielfalt in europäischen Städten ein spannendes Thema. In einer Stadt wie München etwa gibt es Sonntag für Sonntag eine ganze Reihe charismatischer Gottesdienste. Bedeutende Fußballspieler des FC Bayern sind zugleich als Laienprediger in charismatischen Gemeinden aktiv. Und weil man sonst gar nicht so leicht an die herankommt, ist es sehr eindrucksvoll, in solche Gottesdienste zu gehen und sie dort in action zu sehen. Wir haben hier auch boomende katholische Gottesdienste, die etwa von den vielen Polen, die in München leben, getragen werden. Das sind feste, gut funktionierende, kommunikative Netzwerke, in denen Menschen, die hierher als Arbeitsmigranten gekommen sind, viel an symbolischem Kapital geboten wird. Solche Pluralisierungstendenzen sind schon lange präsent. Wir haben lediglich noch nicht die notwendigen analytischen Brillen aufgesetzt, um das alles zu sehen.
Insofern: Ja, eine Erosion der mainline churches ist zu erwarten, aber daneben gibt es auch in unserer Gesellschaft sehr viel anderes Christentum.
An anderer Stelle haben Sie einmal in Bezug auf die Kirchen gesagt: Firmen, die nicht beobachten, was die Kunden wollen, verschwinden irgendwann. Wie viele Jahre geben Sie den hier etablierten Kirchen noch?
Im Jahre 1800 hat es in Preußen eine große Debatte über das Ende des Christentums gegeben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist im Berliner Stadtrat darüber diskutiert worden, was man denn mit den Kirchengebäuden machen soll, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Schon damals kamen die üblichen Vorschläge: Theater, Konzertsaal, Museum.
Ich glaube nicht an das Verschwinden der Kirchen. Ich glaube allerdings und das ist etwas Anderes , dass sie allen Anlass haben, verstärkt darüber nachzudenken, wie sie denn auf die eingetretene Pluralisierung reagieren wollen, wie sie sich als Akteure der Gesellschaft begreifen, wie sie mit bestimmten klassisch religiösen Fragen umgehen wollen. Möglicherweise haben die Kirchen in der Bundesrepublik in den letzten 30 Jahren viel zu viel Verschiedenes gemacht und sich nicht konsequent auf das konzentriert, was man in der Sprache der Ökonomen ihre »Kernkompetenz« nennt. Sie haben zum Beispiel sehr viel an diffuser Sozialstaatsromantik gepredigt. Sie haben sich daneben sehr stark bei modischen Themen engagiert. Aber sie haben gerade in der religiösen Kommunikation erhebliche Defizite.
Was zählen Sie zu dieser Kernkompetenz?
In aller Regel sind Menschen Mitglied in einer Kirche, weil sie sich als Christen verstehen und weil sie diese biographische christliche Prägung integrieren und weitergeben möchten beispielsweise an ihre Kinder. Offenkundig sind aber viele hauptamtliche Repräsentanten der Kirchen unzureichend imstande gewesen, diese genuin religiösen Bedürfnisse der Kirchenmitglieder in ihrer Vielfalt und zum Teil auch Unbestimmtheit angemessen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Ich glaube nicht, dass wir noch Institutionen brauchen, die in religiöser Sprache ökologische Einsichten verstärken. War etwa der »konziliare Prozess«, mit dem für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung weltweit eingetreten werden sollte, für die Kirche als Institution zumal gemessen an dem ihm innewohnenden Anspruch wirklich etwas Sinnvolles, oder hat er nur der Binnenkommunikation neuer Themen gedient? Man sollte mehr darüber nachdenken, wo eigentlich die Kirchen in den letzten 30 Jahren Aktivitäten entfaltet haben, wo sie Schwerpunkte gesetzt haben, wie sie auf Entwicklungen in der Bundesrepublik reagiert haben. Es ist mehr Sensibilität für die Bedürfnisse der Menschen gefragt, die die Kirchen nicht zuletzt finanziell tragen.
Aber den Armen das Evangelium zu predigen, gehört auch zu den Kernkompetenzen?
Ja, gewiss. Wobei ich schon dafür eintreten möchte, dass wir nicht den neutestamentlichen Begriff der Armen mit unseren westlichen Repräsentationen von Armen immer sofort gleichsetzen.
Die Fragen stellten Wilfred Steen und Christoph Wilkens.
aus: der überblick 01/2005, Seite 12