Ein Markt der falschen Versprechen
Für die Krankenversicherung wird in vielen Industrie- und Entwicklungsländern gleichermaßen die Einführung von mehr Marktwirtschaft befürwortet. In Chile sind entsprechende Reformen schon sehr früh und konsequent durchgesetzt worden. Die Ergebnisse ermutigen nicht zur Nachahmung - jedenfalls nicht aus der Sicht der Armen und gering Verdienenden oder mit Blick auf den Staatshaushalt.
von Jens Holst
Dr. Jens Holst ist Facharzt für Innere Medizin, Gesundheitswissenschaftler und freier Mitarbeiter des GTZ-Sektorprojekts "Krankenversicherungssysteme in Entwicklungsländern". Er arbeitet seit vielen Jahren als freier Text- und Bildautor für diverse Printmedien sowie für den Hörfunk.
Carlos und Maite hatten sich riesig auf ihr erstes Kind gefreut. Als die kleine Sandra dann vor einem Jahr gesund und munter zur Welt kam und die beiden mit ihren braunen Augen anstrahlte, hielten sie sich für die glücklichsten Menschen der Welt. Doch wenige Wochen später mussten sie erfahren, dass ihnen ihr Töchterlein nicht nur Glück beschert hat, sondern auch jede Menge Schulden. Ihre private Krankenkasse Cruz Blanca (Weißes Kreuz) übernahm nur gut die Hälfte der Kosten für die Entbindung. Die restlichen 162.000 Pesos, über 300 Dollar, muss die neugegründete Kleinfamilie zuzahlen. Das ist fast ein Monatsgehalt von Carlos, der als Facharbeiter mit knapp 380 Dollar nicht einmal schlecht verdient. "Der Versicherungsvertreter war damals so freundlich", erinnern sie sich, "und er hat uns erzählt, dass wir als Cruz-Blanca-Kunden bei niedergelassenen Arzt nicht mehr warten müssten. Hätten wir gewusst, wie teuer die Geburt wird, dann wären wir einer besseren Versicherung beigetreten."
Das ist leichter gesagt als getan. Wer kann in Chile schon wissen, welche private Krankenkasse die bessere ist? Bei einer Monatsprämie von 27 Dollar, sieben Prozent von Carlos Monatslohn, ist das Angebot zudem dürftig. Bei der größten Privatversicherung Consalud hätte sich die Eigenbeteiligung für die Geburt auf 240 Dollar belaufen, bei Colmena sogar auf 350 Dollar. Nur bei der öffentlichen Krankenkasse Fondo Nacional de Salud (FONASA) wären Sandras frisch gebackene Eltern mit knapp 55 Dollar besser weggekommen. Früher waren sie dort versichert, aber dann hatten sie genug von langen Warteschlangen und heruntergekommenen Krankenhäusern.
Zwanzig Jahren sind vergangen, seit in Chile ein zweigliedriges Gesundheitssystem eingeführt wurde. Etwa zeitgleich mit der Umstellung der Rentenversicherung vom Umlage- auf ein reines Kapitaldeckungsverfahren wurde 1981 die Sozialversicherung teilprivatisiert. Im Rahmen ihrer umfassenden marktradikalen Strukturanpassung ließ die Militärdiktatur von General Augusto Pinochet neben der öffentlichen FONASA privatwirtschaftliche Institute, sogenannte Instituciones de Salud Previsional (ISAPREs), als Träger der sozialen Sicherung zu. Der Abschluss einer Krankenversicherung blieb dabei für alle abhängig Beschäftigen und Rentner obligatorisch. Aber heute können die Chilenen im Prinzip selber bestimmen, ob sie sich FONASA oder einer Privatversicherung anschließen.
Doch in der Praxis unterliegt diese Wahlfreiheit erheblichen Einschränkungen. Für die unteren Einkommensgruppen bietet der private Versicherungsmarkt nämlich gar keine Verträge. Wer nur 200 oder 250 Dollar im Monat verdient, müsste für eine private Versicherungspolice erheblich mehr als den Pflichtbeitrag von sieben Prozent des Bruttolohns bezahlen. Allein das würde bei vielen Familien riesige Löcher in die Haushaltskasse reißen. Und jedes Mal, wenn jemand krank wird, müssten sie noch einmal tief in die Tasche greifen. Denn bei den preiswerten Verträgen müssen die Versicherten erheblich draufzahlen, so wie Carlos und Maite bei der Geburt ihrer Tochter.
Während die öffentliche Krankenkasse FONASA nach dem Solidarprinzip funktioniert – das heißt die Beiträge richten sich nach dem Einkommen, die Leistungen aber nach der Bedürftigkeit, und die Solidargemeinschaft gleicht unterschiedliche Risiken der Versicherten aus –, arbeiten die ISAPREs nach dem Äquivalenzprinzip: Der individuelle Versicherungsschutz hängt allein von der Höhe der Monatsprämie ab. Wie eine Sachversicherung kalkulieren diese ihre Tarife nach den erwarteten Kosten anhand der Basisprämie für das jeweilige Vertragsmodell sowie von Risikofaktoren, darunter dem Alter und Geschlecht. Die Kosten einer Police steigen stark mit dem Lebensalter und erreichen bei Frauen auch im gebärunfähigen Alter teils extrem hohe Werte. Eine Beitragsänderung tritt immer dann ein, wenn der Beitragszahler oder ein mitversichertes Familienmitglied eine Altersgrenze für die Risikofaktoren überschreitet. Denn die ISAPREs dürfen ihre "Gesundheitspläne" alle zwölf Monate an neue Bedingungen anpassen. Ist der Versicherte nicht mit Beitragserhöhungen einverstanden, hat ihm die Versicherung einen "gleichwertigen" Vertrag anzubieten.
Das hat dazu geführt, dass mindestens die Hälfte aller privat krankenversicherten Chilenen heute "freiwillig" einen höheren Krankenkassenbeitrag bezahlt als den der FONASA – im Durchschnitt gut 8,5 Prozent ihres Einkommens. Die risikoabhängige Beitragsgestaltung trägt zu einer bedeutenden Verteuerung der individuellen Gesundheitsausgaben bei. Ältere Bürger werden durch diese Tarifstruktur sogar regelrecht aus dem Privatsystem gedrängt. Das Ergebnis: Nicht einmal 45.000 Chilenen über 65 Jahren, keine vier Prozent dieser Altersgruppe, sind in einer ISAPRE versichert.
Das hat fatale Folgen für das öffentliche Gesundheitssystem, das die überwältigende Mehrheit der alten Menschen versorgt: Nachdem die Bürger jahrzehntelang ihre monatlichen Krankenkassenbeiträge an ein Privatunternehmen abgeführt haben, wechseln sie im höheren Lebensalter in die Sozialkasse, die jeden Versicherten aufnehmen muss. Während die ISAPREs im jüngeren Alter die Prämien einstreichen und vergleichsweise wenig Ausgaben aufbringen müssen, können sie sich elegant und völlig legal ihrer älteren Mitglieder entledigen, bevor diese höhere Kosten verursachen – schließlich fallen die höchsten Gesundheitsausgaben in den letzten Lebensjahren an.
Aus dem Nebeneinander der öffentlichen Solidarversicherung und individueller Privatversicherungen in Chile ergeben sich noch andere Schieflagen. Die ISAPREs betreiben eine regelrechte Rosinenpickerei, indem sie nur die wohlhabendere Mittel-und die Oberschicht versichern. Trotz jahrelang steigender Wachstumsraten des südamerikanischen "Jaguars" bleibt über die Hälfte der Bevölkerung faktisch von der vielgerühmten Wahlfreiheit ausgeschlossen. Der Vorsitzende des Privatversicherungsverbandes, René Merino, erkennt darin aber kein Problem: "Die ISAPREs sind für die Leute da, die es bezahlen können. Der Staat kann bei den Ärmsten, den Chancenlosen und Hilfsbedürftigen einspringen."
Deren Anteil ist seit der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen von 40 auf etwa 25 Prozent gesunken. Die Mittellosen sind beitragsfrei über FONASA abgesichert und haben Anspruch auf kostenlose Behandlung in den öffentlichen Einrichtungen. Die Privatversicherungsbranche schließt jedoch nicht nur sie aus, sondern auch die große Masse der schlecht bezahlten Arbeitnehmer. So verdienen zwei Drittel der Beitragszahler von FONASA weniger als 200 US-Dollar im Monat, nur einer von zehn hat mehr als 400 US-Dollar in der Lohntüte. Damit liegen 90 Prozent der Monatsbeiträge der FONASA unter 28 Dollar, während die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens etwa 230 Dollar erreichen. Der Staat muss also kräftig zubuttern, und den Haushalt der öffentlichen Krankenkasse bestreitet er sogar zur Hälfte aus Steuermitteln.
Solange die chilenische Volkswirtschaft stabile Wachstumsraten zeigte, schien die Rechnung der privaten Krankenversicherungsbranche aufzugehen. Im Spitzenjahr 1997 war mit fast 3,9 Millionen mehr als jeder vierte Chilene in einer ISAPRE versichert. Doch als die Asien- und Russlandkrise nach Südamerika überschwappte, zeigte sich die Anfälligkeit des chilenischen Modells. Wer arbeitslos wird, den versichert seine Privatkasse noch drei Monate beitragsfrei weiter. Doch dann ist endgültig Schluss, von da an ist FONASA zuständig. "Das chilenische Krankenversicherungswesen ist ein System kommunizierender Röhren, das den Wirtschaftszyklen folgt", erklärt Héctor Sánchez, der erste Leiter der staatlichen Versicherungsaufsicht. "Im Aufschwung wachsen die ISAPREs enorm an, in der Rezession verlieren sie viele Kunden."
Merino, der Chef des ISAPRE-Verbandes, hält das für normal. Von einer Einschränkung des Versicherungswechsels, um die öffentliche Hand von konjunkturell bedingten Kostensteigerungen zu entlasten, will er nichts wissen: "Derartige Maßnahmen erscheinen mir absurd. Das ist eine Form, über die Leute zu bestimmen, die mir überhaupt nicht zusagt. Wir wollen mehr Freiheit."
Der Glaube an die Allmacht eines weitgehend deregulierten Marktes und die Vorstellung von einem bloß subsidiären Staat ist in Chile bis heute tief in den Köpfen verankert. So konnte die Privatversicherungsbranche lange Jahre weitgehend unkontrolliert ihre Strategien entwickeln und mit verschiedenen Modellen am lebenden Objekt experimentieren. Todesfälle in Folge der Weigerung, Kranke bei ungeklärten Versicherungsverhältnissen zu behandeln, kommen zwar seit der Einführung einer Notfallbehandlungspflicht nicht mehr vor. Aber immer wieder stürzen kranke Menschen wegen eines Tumors, einer Herzoperation oder einer psychischen Erkrankung in den Ruin. Auch die FONASA-Versicherten müssen ab einem bestimmten Einkommen 10 oder 20 Prozent der Therapiekosten selbst tragen. ISAPRE-Mitglieder sind aber größeren Unwägbarkeiten bei der Selbstbeteiligung im Krankheitsfall ausgesetzt. "Eine Erkrankung kann jemanden, der 1000 Dollar im Monat verdient, leicht 25- oder 30.000 Dollar kosten", bestätigt Hernán Sandoval, der Leiter der chilenischen Reformkommission im Gesundheitsministerium. "Das stellt die Betroffenen vor unlösbare Probleme."
Überhaupt sichern die Klauseln fast aller Versicherungsverträge den ISAPREs teils drastische Haftungsbeschränkungen bei ambulanten Behandlungen, Medikamenten und häuslicher Krankenpflege. Besonders tief müssen Patienten mit chronischen und psychiatrischen Krankheiten in die eigene Tasche greifen. Einige Versicherer verlangen Zuzahlungen bis 80 oder 90 Prozent der Behandlungskosten. Damit erweist sich die private Krankenkassenbranche als schlecht gerüstet für die zukünftigen Erfordernisse der Gesellschaft in einem typischen Schwellenland, wo die Menschen immer älter werden und chronisch-degenerative Erkrankungen in den Vordergrund gerückt sind.
Nach langem Sträuben haben die Privatversicherungen nun zumindest eine Zusatzversicherung gegen schwere Erkrankungen wie Krebs, Nierenversagen und lebensbedrohliche Herzkrankheiten ins Leben gerufen. Bei allen ISAPREs mit Ausnahme von Consalud kostet das extra – im Durchschnitt 3, in Einzelfällen bis zu 65 Dollar im Monat. Diese längst überfällige Ausweitung des Versicherungsschutzes soll bis Mai 2002 flächendeckend umgesetzt sein. Bisher trägt die Maßnahme in erster Linie zur weiteren Verwirrung der Versicherten bei und stößt zudem auf Ablehnung, weil die Zusatzversicherung nur Behandlungen in Vertragshospitälern bezahlt. Die Branche hat offenbar keine Schwierigkeiten, die Wahlfreiheit ihrer Versicherten zu opfern, um die eigenen Gewinne zu retten.
"Die ISAPREs sind Versicherungen, die gar nicht versichern", fasst Hernán Sandoval seine Kritik zusammen. "Es sind eher Versicherungen für Gesunde als für Kranke. Viele Verträge sehen besseren Versicherungsschutz bei ambulanten Behandlungen als bei einer schweren Erkrankung vor." Damit weist der Arbeitsmediziner auf ein anderes Grundproblem des Kassenwettbewerbs hin, das Fachleute als Intransparenz des Gesundheitsmarktes bezeichnen. Unter den Kunden der ISAPREs herrscht eine auffällige Unwissenheit und Verunsicherung in Bezug auf ihre Absicherung im Krankheitsfall. In den letzten Jahren hat die Branche zwar zunehmend integrierte Versorgungspläne auf den Markt gebracht, die bei stationären Behandlungen keine Eigenbeteiligung für die Patienten vorsehen. Aber auch hierunter dürfen sich die Versicherten nur in Vertragskliniken behandeln lassen, in anderen Krankenhäusern erwarten sie horrende Selbstbeteiligungen.
Heute erweist es sich sich als problematisch, dass bei der Liberalisierung des chilenischen Krankenversicherungsmarktes kein Paket medizinischer Leistungen, die allen Versicherten in vollem Umfang zur Verfügung stehen müssen, verbindlich festgelegt worden ist. Die ISAPREs sind zwar gesetzlich verpflichtet, in ihren Verträgen den gesamten Katalog abzudecken, den FONASA seinen Versicherten bietet. Allerdings schreibt das Gesetz nicht vor, welchen Anteil der Einzelleistungen die Privatversicherungen übernehmen müssen. Im November 2000 hat der Oberste Gerichtshof in Santiago nun in letzter Instanz entschieden, die Mindestdeckung müsse sich für jede einzelne Leistung auf 50 Prozent des niedrigsten vergleichbaren FONASA-Satzes belaufen. Bis dahin war der Form Genüge getan, wenn die ISAPRE nur einen einzigen Peso einer Behandlung übernahm und den Rest dem Patienten überließ.
Wie beim Zugang zum privaten Versicherungsmarkt zeigt sich auch bei der Kostenübernahme im Krankheitsfall eine klare Benachteiligung der unteren sozialen Schichten, sofern sie überhaupt in eine ISAPRE aufgenommen werden. Die höchsten Zuzahlungen im Krankheitsfall treffen die Menschen mit den niedrigsten Gehältern. Denn gerade "Billigverträge", die auch für Geringverdiener finanzierbar sind, lassen die Versicherten regelrecht im Regen stehen. Wer zu den Spitzenverdienern gehört und noch nicht auf die Fünfzig zugeht, der kann sich indes einen "Gesundheitsplan" leisten, der die meisten stationären Behandlungen einschließlich der Unterbringung in einer gut ausgestatteten Privatklinik vollständig deckt. Hätte Carlos jeden Monat nur 1000 Dollar in seiner Lohntüte, dann könnte er nicht nur zwischen einer größeren Zahl von Verträgen auswählen, sondern mit seinem Pflichtbeitrag auch eine Privatpolice abschließen, die eine vollständige Kostenübernahme bei stationären Behandlungen vorsieht. Seine kleine Tochter Sandra wäre dann schuldenfrei auf die Welt gekommen.
Gesundheitsversorgung in LateinamerikaVier verschiedene ModelleIn der nach Gesundheitsergebnissen geordneten Rangliste des letzten Jahresberichtes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) landeten die Länder mit den höchsten Ausgaben keineswegs auf den obersten Plätzen. So ließ Kolumbien nicht nur die USA, deren Bürger am meisten für ihre Gesundheit ausgeben, sondern auch Deutschland mit den weltweit dritthöchsten Pro-Kopf-Ausgaben hinter sich. Neben den finanziellen Ressourcen müssen also andere Faktoren Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen haben. Nach einer Untersuchung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IBD) weisen die englisch-sprachigen Karibikländer und Costa Rica die besten Gesundheitsindikatoren (Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, behinderungsangepasste Lebensjahre, Deckungsbreite) in Mittel- und Südamerika auf. Dort erfassen ein Nationaler Gesundheitsdienst bzw. in Costa Rica ein Sozialversicherungssystem fast die ganze Bevölkerung, die Gesundheitsausgaben liegen aber unter denen des übrigen Subkontinents. Offensichtlich hängt die gesundheitliche Lage mit dem Sozialsystem und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen. Sechs Prozent des Bruttosozialprodukts geben die Länder südlich des Rio Grande durchschnittlich für Gesundheit aus, mehr als die meisten anderen Entwicklungsländer. Dennoch weisen die lateinamerikanischen Staaten schlechtere Gesundheitsparameter auf als vergleichbare Länder in anderen Teilen der Welt. Trotz dieses Missverhältnisses zwischen Gesundheitsausgaben und Ergebnissen scheinen der Aufbau und insbesondere die Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung großen Einfluss zu haben. In Lateinamerika lassen sich vier Grundtypen von Gesundheitssystemen ausmachen. Sie unterscheiden sich einerseits durch die Zugangschancen der Gesamtbevölkerung sowie einzelner gesellschaftlicher Gruppen zu den Gesundheitseinrichtungen und zum anderen durch die organisatorische Trennung zwischen der Finanzierung und der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen. In den bereits erwähnten Karibikstaaten und in Costa Rica sowie in Kuba besteht ein einheitliches öffentliches Gesundheitssystem. Wie im ehemaligen britischen Mutterland obliegt sowohl die Finanzierung als auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung dem staatlichen, steuerfinanzierten Gesundheitsdienst. Die Behandlung ist für die gesamte Bevölkerung kostenlos. Dieses System erlaubt eine gute Steuerung des Ausgabenniveaus, gegebenenfalls durch Rationierungen über Wartezeiten, schränkt aber die Optionen der Patienten ein. In Costa Rica erfasst die Sozialversicherung praktisch die gesamte Bevölkerung, die kostenfrei in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen behandelt wird. Privatanbieter bekommen kein Geld vom Staat. Kuba schließlich stellt mit hundertprozentiger Abdeckung der Bevölkerung und kompletter Vereinheitlichung von Finanzierung und Versorgung einen Extremfall dar. Das unflexible System lässt den Bürgern keine Ausweichmöglichkeiten, Versorgungsengpässe in Folge wirtschaftlicher Probleme schlagen unmittelbar auf die Qualität der medizinischen Leistungen durch. Die Gesundheitssysteme in Argentinien, Uruguay und mit Einschränkung Chile entsprechen dem atomisierten privaten Modell: Der Staat kümmert sich um die Versorgung der armen Bevölkerung, Menschen mit besserem Einkommen sind privat versichert. In Uruguay haben etwa 60 Prozent der Bevölkerung eine Versicherung abgeschlossen, in Argentinien sind sogar fast 70 Prozent bei einer berufsständischen oder einer privaten Versicherung eingeschrieben. Private Krankenhäuser und Arztpraxen rechnen entweder direkt mit den Patienten oder mit Privat- bzw. berufsständischen Versicherungen ab. Das unüberschaubare Angebot überfordert die Bürger in der Regel, ein wirklicher Wettbewerb findet nicht statt. Das System ist zudem teuer und birgt die Gefahr von Risikoselektion und Rosinenpickerei durch die Privatversicherungen. Das in Brasilien anzutreffende öffentliche Vertragsmodell verbindet die öffentliche Finanzierung mit einer privaten Anbieterstruktur. Die Bevölkerungsmehrheit ist im staatlichen System versichert, das selber keine Gesundheitsleistungen anbietet. Die Behandlung erfolgt vorwiegend in privaten Kliniken und Praxen, die von der öffentlichen Hand unter Vertrag genommen werden. Die öffentliche Finanzierung erlaubt eine universelle Absicherung der Bevölkerung und kann durch die Leistungshonorierung zur Effizienzerhöhung beitragen. Allerdings birgt die Fragmentierung der Gesundheitseinrichtungen bei der auch in Brasilien praktizierten Einzelleistungsvergütung die Gefahr der Kostensteigerung. Am weitesten ist das segmentierte Modell verbreitet, in dem die Bevölkerung in Abhängigkeit vom Einkommen unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitssystems angehört. Die formell beschäftigten Arbeitnehmer zahlen ihre Beiträge an die Sozialversicherung, die oberen Einkommensschichten nehmen eher private Gesundheitseinrichtungen und Versicherungen in Anspruch. Die armen Bevölkerungsgruppen werden von den öffentlichen Einrichtungen der Gesundheitsministerien versorgt, nutzen aber auch private Einrichtungen. In der Regel führt hier chronischer Geldmangel zu langen Wartezeiten und schlechter Versorgung. Zudem besteht keine Möglichkeit, die unterschiedlich verteilten Risiken auszugleichen. Dies haben die Reformer in Kolumbien bei ihrer Gesundheitsreform von 1994 versucht. Zwar übernahmen sie von den Chilenen die Idee privater Pflichtversicherungen, doch führten sie von Anfang an einen Risikostrukturausgleich ein: Zwar muss jeder Arbeitnehmer 12 Prozent seines Gehalts für die Krankenversicherung abführen, wovon zwei Drittel der Arbeitgeber übernimmt. Die Versicherungen erhalten davon jedoch nur einen risikoangepassten Anteil, der Rest wird in einen Topf zum Ausgleich höherer Gesundheitsrisiken eingezahlt. Damit ist es für die Krankenkasse unerheblich, ob sie einen gesunden 30-Jährigen oder einen 75-Jährigen mit Herzkrankheit aufnimmt, denn im ersten Fall erhält sie nur einen kleinen Teil von dem Pflichtbeitrag, kann den Rest aber für die Behandlungskosten des Herzpatienten verwenden. Jens Holst/Martina Bardroff |
aus: der überblick 01/2001, Seite 67