Versöhnung mit den neuen Nachbarn
Eine Ansiedlung für Angehörige von Opfern wie Tätern des Völkermords ist im Südosten Ruandas entstanden. Sie geht auf Nothilfe des Lutherischen Weltbundes zurück und ist heute ein von "Brot für die Welt" unterstütztes Projekt der integrierten Dorfentwicklung. Spannungen unter den Bewohnern konnten bisher unter Kontrolle gehalten werden - unter anderem mit Hilfe von Religionsführern.
von Michaela Ludwig
Deo inspiziert den Wasserhahn. Er dreht ihn auf und beobachtet den Wasserstrahl, der in den gelben Plastikkanister läuft. Der 43-Jährige ist Präsident des Wasserkomitees von Murama, einer kleinen Siedlung in der Provinz Kibungo im südöstlichen Zipfel Ruandas. Er trägt die Verantwortung dafür, dass die Bewohner Muramas jederzeit frisches, sauberes Wasser abfüllen können. Kleinere Reparaturarbeiten führt er selbst aus, seit er den technischen Lehrgang vom Lutherischen Weltbund (LWB) besucht hat. Bei komplizierteren Problemen beauftragt er einen Techniker. Für solche Notfälle hat die Gemeinde ein Geldpolster angespart: Jeden Monat sammelt Deo pro Familie 100 Ruandische Franc ein, knapp 20 Cent. Mit Hilfe der Dorfbewohner hat der LWB die Rohre von der Quelle an der nahegelegenen Bergkette bis zum Dorf verlegt und dort die Zapfstelle gebaut. Als die Bauarbeiten abgeschlossen waren, hat der LWB die Verantwortung für die Wasserversorgung der Dorfgemeinschaft übergeben; in ihrem Auftrag ist heute das Wasserkomitee dafür zuständig.
Die Bewohner von Murama haben Deo zum Präsidenten des Komitees gewählt, obwohl bekannt ist, dass er HIV-infiziert ist. Diskriminierung kennen Deo und seine Familie nicht: "Am Verhalten der Nachbarn hat sich nichts geändert. Ihre Kinder spielen mit meinen Kindern, obwohl die vielleicht auch infiziert sind", erzählt er, als sei das in einem Land, in dem erst seit wenigen Jahren offen über AIDS gesprochen wird, ganz selbstverständlich. Vielleicht liegt es an seinem offenen Umgang mit der tödlichen Immunschwächekrankheit. Als der Virus vor anderthalb Jahren bei ihm nachgewiesen wurde, hat er mit anderen Infizierten eine Selbsthilfegruppe gegründet. Die 30 Mitglieder kämpfen gemeinsam dagegen an, dass sich die Krankheit als Folge von Achtlosigkeit oder Unwissenheit weiter ausbreitet. "Wir erzählen den Leuten unsere Geschichte und zeigen ihnen, wie sie sich vor Ansteckung schützen können. Außerdem ermuntern wir sie, sich testen zu lassen", berichtet Deo.
Der LWB hat ihm und den anderen Mitgliedern der Selbsthilfegruppe einen Kleinkredit ausgezahlt, von dem für jedes Mitglied eine Ziege angeschafft wurde. Mit dem ersten Ziegennachwuchs wurde der Kredit zurückgezahlt. Von einem weiteren Kredit kaufen sie Bohnen von den Kleinbauern und lagern sie zwischen, bis sie auf dem Markt bessere Preise erzielen können. So sind Deo und seine Freunde in der Lage, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und den Kredit schnell zurückzuzahlen.
Dörfer mit Wasser versorgen, AIDS-Aufklärung oder Vergabe von Kleinkrediten: Die Tätigkeit des LWB in Kibungo und zwei weiteren Provinzen Ruandas ist seit 1999 sehr vielfältig. In so genannten integrierten Dorfentwicklungsprojekten sollen Gemeinden stabilisiert und in die Lage versetzt werden, in Frieden zu leben und sich eigenständig zu entwickeln. Häuser für Bedürftige, Schulen und Krankenstationen werden gebaut, handwerkliche und landwirtschaftliche Ausbildung sowie Beratung angeboten. Mit den Krediten hilft der LWB Frauengruppen und anderen Bedürftigen, sich eine Lebensgrundlage zu verdienen.
Begonnen hat das Ruanda-Programm der Abteilung Weltdienst des LWB im August 1994, kurz nach Ende des Völkermords, jedoch mit klassischer Nothilfe. "Wir verteilten Kleidung, Decken und Nahrungsmittel an die Opfer und Vertriebenen. Sie hatten ja alles verloren", berichtet Emmanuel
Murangira, der seit zwei Jahren für das Ruanda-Programm des LWB zuständig ist, von den ersten Einsatzwochen in Ruanda. Zwischen Hutu, Tutsi oder Twa wurde nicht unterschieden: "Der LWB hilft allen Bedürftigen - unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Ethnie", erläutert Murangira.
Für zurückkehrende Flüchtlinge baute der LWB in enger Zusammenarbeit mit dem Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) Unterkünfte; die ruandische Regierung hatte das Land bereitgestellt. In Kibungo wurden Teile der Nationalparks für den Bau geöffnet. Das hatte Vor- und Nachteile: Da in diesen abgeschiedenen Gebieten erstmals gebaut wurde, war hier keine Infrastruktur vorhanden. "Wir mussten in Cyarubare 8000, in Rusumo 6000 Familien ansiedeln", erinnert sich der Leiter des LWB-Projektes in Kibungo, Vincent Kasaija. Man musste Land zuweisen, Häuser und dann die Infrastruktur bauen: Schulen, Gesundheitszentren, Wasserzapfstellen. Für die Versorgung wurden Nahrungsmittel bereitgestellt und Saatgut, um das Land zu bestellen. Für Kasaija hatte die Neuansiedlung aber einen Vorteil: "Hier gab es keine Konflikte zwischen Dagebliebenen und Geflüchteten um Haus und Land." Denn alle waren neu hier.
Die neuen Dorfgemeinschaften bargen dennoch gewaltigen sozialen Sprengstoff. Hutu aus anderen Landesteilen lebten Tür an Tür mit Hutu-Extremisten, die vor der Tutsi-Armee "Ruandische Patriotische Front" (RPF) ins Ausland geflüchtet waren und nun zurückkehrten, mit Tutsi-Überlebenden des Völkermords und mit Tutsi, die aus dem Exil zurückkamen. Obwohl bereits damals die Friedens- und Versöhnungsarbeit vorangetrieben wurde, stand das Engagement des LWB im März 1998 auf dem Prüfstand: Die Sicherheitslage war in den Grenzregionen zur Demokratischen Republik Kongo und Tansania wegen Überfällen von Hutu-Extremisten äußerst angespannt. Bei einem Überfall auf die Neuansiedlung Bukora 3 wurden acht Menschen, darunter drei LWB-Mitarbeiter, getötet. Damit schien das Konzept des LWB, dass das Personal vor Ort bei den Menschen lebt, in Frage gestellt. Doch der LWB hielt am bisherigen Kurs fest. "Wir mussten in den Gemeinden bleiben und durften sie in dieser entscheidenden Phase nicht verlassen. Gerade das war unsere Aufgabe: In den Dörfern für Frieden und Versöhnung zu arbeiten", erzählt Emmanuel Murangira.
Auch die Stimmung innerhalb der Siedlung drohte überzukochen: Nachbarn beschuldigten sich gegenseitig der Unterstützung von Extremisten. In dieser Situation profilierte sich eine Gruppe von Geistlichen - überwiegend Christen, aber auch Vertreter der kleinen muslimischen Minderheit - als Vermittler. In Dorfversammlungen und von der Kanzel predigten sie Frieden und Versöhnung. Die Zusammenarbeit des LWB mit diesen Religionsführern, die in Konfliktlösungsstrategien unterrichtet wurden, erwies sich als überaus hilfreich.
Auch heute, nach Abschluss der Nothilfe-Phase, sind die religiösen Gruppen wichtige und einflussreiche Partner des LWB in der Friedens- und Versöhnungsarbeit und seit einigen Jahren auch in der AIDS-Aufklärung. "Die Menschen hören auf die Kirchenführer. Auch 1994 haben sie ihnen vertraut, haben in den Kirchen Schutz gesucht. Aber damals haben die ihre Aufgabe nicht wahrgenommen", sagt Vincent Kasaija. Er spielt darauf an, dass Geistliche und Kirchen in Ruanda den Opfern des Völkermords Schutz verweigert haben (vgl. "der überblick" 1/1996). "Heute schulen wir sie, damit sie ihre Rolle wiederfinden. Viele Pastoren entschuldigen sich vor ihren Gemeinden, dass sie damals keine Verantwortung übernommen haben."
Didas ist Lehrer für Kinyaruanda, Englisch und Technik an der Schule in Murama und methodistischer Pastor. Der 33-Jährige hat sich mit Vertretern anderer Konfessionen zusammengetan und wurde vom LWB zum Trauma-Berater ausgebildet. Er berichtet, wie er eine alte Frau, die schwer traumatisiert war, geheilt hat: "Sie hielt alle Leute für Feinde. Sie ging von Kirche zu Kirche und wollte, dass die Menschen für sie beten, aber es wurde nicht besser." Didas hörte ihr zu und betete für sie. Er sagte ihr, wie wertvoll sie sei. Und er gab ihr das Gefühl, sie zu beschützen. "Heute bestellt sie wieder ihr Land und sorgt für sich selbst. Sie sagt, dass es mein Verdienst ist", erzählt er.
Didas ist einer der Kirchenführer, die mit Unterstützung vom LWB die Gacaca-Tribunale in Kibungo vorbereiten. In diesen Prozessen, die in den Siedlungen des Projekts voraussichtlich im März beginnen, sollen gewählte Vertreter der Dorfgemeinschaft über leichtere Fälle von Mord im Zusammenhang mit dem Genozid urteilen; schwere Fälle bleiben Gacacas auf höheren Verwaltungsebenen oder ordentlichen Gerichten vorbehalten. Allgemein wird befürchtet, dass während der öffentlichen Verfahren viele traumatisierende Erinnerungen hochkommen werden, deshalb stehen Berater wie Didas für die Zeugen bereit. Da die Prozesse neben der Rechtsprechung auch das Element der Versöhnung beinhalten, führen Didas und seine Kollegen Vorgespräche mit den Tätern. "Die Gefangenen vertrauen uns und sprechen sehr offen. Wir sagen ihnen, dass sie ihre Tat gestehen sollen. So wird die Versöhnung erleichtert", erzählt Didas. Strafmindernd ist ein Geständnis obendrein.
Die Arbeit des LWB ist ein Beispiel für den gleitenden Übergang von Nothilfe zu Entwicklungsarbeit. Seit 1999 hat sich der Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit mit Religionsgruppen, der lutherischen Kirche sowie Dorf- und Selbsthilfegruppen verlagert; die Aufgabe des LWB ist nun, die Partner zu schulen. Das hatte auch "Brot für die Welt" gefordert, die den LWB in Kibungo seit 1999 unterstützt (vorher hatte die Diakonie-Katastrophenhilfe sich an der Finanzierung beteiligt). "Vorwiegend arbeiten wir mit lokalen Trägern zusammen. Die existierten aber zu dem Zeitpunkt, als wir in die Förderung eingestiegen sind, in Kibungo noch nicht", erläutert Ellen Gutzler, die Regionalverantwortliche für Ruanda bei "Brot für die Welt". "Deshalb haben wir unsere Förderung an die Bedingung geknüpft, dass Partner vor Ort aufgebaut und geschult werden." Den Anspruch, nun Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, hat der LWB in seinem Konzept für Kibungo verankert: Das erklärte Ziel lautet, sich bis 2008 zurückzuziehen und die Entwicklungsanstrengung in einheimische Hände zu legen.
aus: der überblick 01/2004, Seite 145
AUTOR(EN):
Michaela Ludwig:
Michaela Ludwig hat Germanistik und Soziologie studiert und arbeitet als freie Journalistin in Hamburg mit dem Schwerpunkt Entwicklungszusammenarbeit und Ostafrika.