Moralischer Verfall oder Verschwörung gegen die Jugend?
Im Nordwesten Kameruns wird HIV/AIDS von den verschiedenen Generationen ganz unterschiedlich interpretiert. Während die angesehenen Alten den Jugendlichen vorwerfen, verantwortlich für die Epidemie zu sein, beschuldigen die Jungen die Oberen, ihre politische (und magische) Macht zu missbrauchen und AIDS zu instrumentalisieren, um sie auszugrenzen.
von Ivo Quaranta
Um Hexerei aufdecken und bekämpfen zu können, benötigte man in dem Gebiet der Nso' Waren aus dem Fernhandel. Das Gebiet in der heutigen Nordwest-Provinz im englischsprachigen Teil Kameruns war in vorkolonialer Zeit ein selbständiges Königreich. Die damaligen Eliten, bestehend aus lokalen Herrschern (fon) und ihren Würdenträgern, waren die einzigen, die Waren über den Fernhandel beziehen konnten. Diese wurden als rituelle Objekte benutzt: Ihre fremde Herkunft verlieh ihnen eine magische Dimension, da nach der Vorstellungswelt der Nso' Macht aus einer fremden Realität stammt. Denjenigen, die Zugang zu solchen rituellen Objekten hatten, traute man die magische Kraft zu, die Gemeinschaft gegen Unglück, Krankheit und Tod zu beschützen. Der Vorstellung nach ist der Sitz solcher magischen Macht (sëm) im Bauch eines Individuums. Sëm versetzt Menschen in die Lage, sich in ein Tier, Wind oder Sturm zu verwandeln.
Diese Sicht der im Körper wohnenden Macht hängt mit der historischen Erfahrung des Sklavenhandels zusammen. Im westlichen Grasland verschafften sich die Eliten durch den Verkauf ihrer Angehörigen und Untertanen die Handelswaren, die ihnen zu magischer Kraft verhelfen konnten. Diese Vorstellung legitimierte die soziale Ungleichheit, die aus dem Fernhandel erwuchs: Diejenigen, die zu Wohlstand gelangten, indem sie ihre Verwandten verkauften, waren zugleich diejenigen, die die Macht hatten, den Clan und das ganze Reich des fon vor Hexerei zu beschützen. Frauen und Jugendliche wurden so von Gütern und symbolischen Werten der Großfamilie ausgeschlossen, und man legitimierte deren Opfer damit, dass dies dem Wohlergehen und der Sicherheit der Sippe diene. Die Würdenträger hatten viele Ehefrauen, so dass die jüngeren Männer ihre Sexualität nicht ausleben konnten. Sie wurden unter Kontrolle gehalten, indem man sie als Sklaven verkaufte oder dem fon und seinen Geheimgesellschaften als Diener zuwies.
Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird begreiflich, warum heutige Würdenträger der Jugend vorwerfen, an der AIDS-Epidemie schuld zu sein: wegen ihres Sexualverhaltens, das schmutzig sei und die moralische Ordnung des gesamten Fontums untergrabe. Außerdem unterwerfe sich die Jugend nicht länger den Gesetzen des Landes, gemäß denen Sexualität nur demjenigen zugestanden wird, dem vom fon die Eheschließung erlaubt wurde oder der die Nachfolge eines Herrschers angetreten hat. Nach Meinung der neo-traditionellen Elite, zu der auch die traditionellen Medizinmänner zählen, hält sich die heutige Jugend nicht an diese Gesetze, weil sie sich auf örtliche Formen der Modernität eingelassen hat inspiriert von der Wahrnehmung des Westens als Sitz von Wohlstand, persönlichem Erfolg und Macht. Mit dieser Haltung zeige die Jugend immer weniger Respekt vor den moralischen Prinzipien, auf denen das Fontum beruht.
Dies ist das traditionalistische Verständnis von waame, der Bezeichnung für AIDS in der einheimischen Sprache Lamnso'. Danach ist AIDS nichts Neues, nichts, was sich von kinjuume und kinsenin unterscheidet: Kinjuume bedeutet Austrocknung des Körpers und den Verlust von Lebensessenz und führt zum Tod. Kinsenin ist eine Art körperlicher Schwäche, die oft mit dem Alter und chronischen Erkrankungen verbunden ist. Um das Entstehen der AIDS-Symptome zu erklären, wird auf kon und nsela' verwiesen. Diese Termini bezeichnen die Verletzung sexueller Tabus wie Inzest oder Ehebruch. Die Etymologie von kon ist schwierig zu klären, aber die von nsela' ist eindeutig: »den Hof vergiften«. Die Verletzung der Gesetze des Hofs zieht demnach die Verseuchung der gesamten Nachbarschaft und Großfamilie nach sich. Die Familie ist dadurch schutzlos Unglück und Krankheit ausgeliefert, die Gesellschaft verliert ihre Fähigkeit, sich gegen externe asoziale Kräfte zu schützen.
Junge Menschen werden beschuldigt, diese Situation herbeizuführen. Sie missachten mit ihrer sexuellen Sorglosigkeit die sozialen Schranken zwischen den einzelnen Schichten des Clans, weil sie sich mit einer vorgestellten modernen Welt identifizieren wollten, die sie von der Tradition wegführe. Mit der Beschuldigung von kon und nsela' wirft die neo-traditionelle Elite der Jugend vor, sich gegen eine soziale Ordnung zu stellen, deren Beständigkeit der Elite erlaubt hätte, die Gemeinschaft gegen das Eindringen jedweden Unglücks zu schützen.
Jugendliche Sexualität wird als Aneignung des sehr knappen Stoffes sëm wahrgenommen. Da die Clanältesten die Einzigen sind, die eine so mächtige Substanz verkörpern und kontrollieren können, wird diese außerdem als Grundlage für eine Gruppenidentität gesehen. Die Substanz kann als solche viele Formen annehmen, etwa auch die von Körperflüssigkeiten: So wird die sexuelle Aktivität der Jugend als eine Verschleuderung von sëm verstanden, die all die verseucht, die die gleiche Clanidentität teilen. Vor diesem symbolischen Hintergrund werden junge Leute nicht nur für ihr eigenes Leid verantwortlich gemacht, sondern auch dafür, ihre ganze Großfamilie und letztendlich das ganze Königreich dem Unheil preisgegeben zu haben.
Die historischen Wurzeln dieser Interpretation reichen bis in die Kolonialzeit: Zuerst versuchten die Jugendlichen sich mit den deutschen, später mit den englischen Kolonialherren zu identifizieren, um der sozialen Ausgrenzung zu entkommen, zu der sie das traditionelle soziale System verdammte. Damit untergruben sie allerdings das symbolische Prinzip, das dem lokalen Verständnis von Macht zugrunde lag: Durch die Identifikation mit den Kolonialisten eigneten sie sich etwas Fremdes an, also Macht, zu der nur Würdenträger Zugang haben konnten. Mit Hilfe dieser Macht konnten die Jugendlichen soziale Mobilität, persönlichen Erfolg und Selbstverwirklichung einfordern. Deshalb wird ihnen heute vorgeworfen, das ganze Königreich verunreinigt zu haben, eben wegen ihrer Identifikation mit der Modernität als einer fremden Macht, von der sie ausgeschlossen bleiben sollten.
Im Kern wird waame von der örtlichen Elite als die Folge eines Verstoßes gegen die moralische Ordnung gesehen: eine Art Verschmutzung, die aus der Verbreitung und Vermischung sexueller Flüssigkeiten resultiert, die eigentlich nur zum Zweck der sozialen Reproduktion der Gruppe und unter der ausschließlichen Kontrolle der Clanoberhäupter hätten zirkulieren dürfen. Deshalb wirft die neo-traditionelle Elite der Jugend »Hexerei am helllichten Tag« vor. Dieser Ausdruck wird für alle üblen Handlungen, die im vollen Bewusstsein ihrer Folgen ausgeführt werden, verwendet.
Jugendliche Sexualität in den Zeiten von AIDS ist also eine Art von Hexerei, welche die gesamte Gemeinschaft dem Risiko der Verseuchung aussetzt. Kein Wunder, dass AIDS-Kranke nicht als Opfer gesehen werden, die Mitleid verdienen, sondern als Leute, die für ihr eigenes Unglück und das ihrer Familie verantwortlich sind.
Aber es wäre weit gefehlt zu glauben, es handele sich hierbei nur um eine »traditionelle« Sichtweise. Auch im Gesundheitswesen im Gebiet der Nso' gibt es vergleichbare Vorstellungen. Die beiden kirchlichen Krankenhäuser in Kumbo begreifen AIDS als eine Krankheit, die durch voreheliche Abstinenz und spätere Treue vermieden werden kann. Durch diese Herangehensweise haben sie, ohne es zu wollen, der Bevölkerung den Eindruck vermittelt, AIDS sei eine Krankheit, deren Ursache Promiskuität (Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern) ist, und damit eine Folge individuellen Verhaltens.
Diejenigen, die von der Ausbreitung der Epidemie am meisten betroffen sind, insbesondere junge Leute, weigern sich daher auch, nach dem Ergebnis ihrer Blutuntersuchung zu fragen, wenn sie mit Symptomen von HIV/AIDS ins Krankenhaus kommen. In einem solchen Umfeld ist ein positives Resultat allein schon eine Anklage: Schweigen ist daher der herausragende Zug ihres persönlichen Umgangs mit ihrer Krankheitsgeschichte.
Würde jemand gefragt, warum er zögere, sich nach dem Ergebnis seiner Blutuntersuchung zu erkundigen, antwortete er, dass das ohnehin keinen Sinn habe: Das Krankenhaus weigere sich, die Resultate herauszugeben, da es befürchte, ein Betroffener, der wisse, dass er HIV-positiv sei, könne womöglich das Virus mit Absicht verbreiten.
Das Gesundheitspersonal der Region hat eifrig Informationsarbeit geleistet, um die Verbreitung der Epidemie aufzuhalten. Allerdings sind diese Informationskampagnen von der Bevölkerung oft mit Skepsis aufgenommen worden, da die lokale Kultur und Tradition darin als Risikofaktoren dargestellt wurden, die bekämpft werden müssten, wenn man die Epidemie stoppen wolle.
Wie auch anderswo in Afrika südlich der Sahara hat die Regierung von Kamerun ihre Aufmerksamkeit auf spezifische Gruppen gerichtet, die gemäß den WHO-Richtlinien als besonders »gefährdet« gelten. Seit Mitte der achtziger Jahre zielte die Präventions- und Informationskampagne gegen HIV/ AIDS vorwiegend auf Prostituierte sowie Lastwagenfahrer, Soldaten und Studenten, da diese zum Umfeld der Prostitution gehören, nicht gerne Kondome benutzen und häufig die Sexualpartner wechseln. Die nationalen Behörden haben die Vorstellung gefördert, dass AIDS eine Angelegenheit von Risikogruppen sei und nicht so sehr ein Problem der gesamten Gesellschaft, und dass diese Gruppen von dem normativen Ideal des Triptychons (des dreiteiligen Bildes) »Mann Würdenträger reifes Alter« weit entfernt seien.
So stellt sich AIDS als ein Problem derjenigen dar, die sich dem moralisch-kulturellen Ideal nicht unterwerfen, die gegen den Moralkodex verstoßen. So werden die Betroffenen für ihr Leid selbst verantwortlich gemacht und sollen schuld sein an der Verseuchung der gesamten Gemeinschaft.
Fragt man die Jugendlichen von Kampagnen und von der Ausbreitung der Epidemie betroffen , bietet sich ein ganz anderes Bild. Über die Bedeutung von AIDS für ihr persönliches Leben schweigen sie sich aus. Aber wenn sie von der Herkunft der Krankheit und den Mechanismen ihrer Verbreitung sprechen, ist von sexueller Kontamination überhaupt nicht mehr die Rede, dafür aber von Machtmissbrauch geradeso als wenn magische Kräfte für Hexerei missbraucht werden.
Im Gespräch mit jungen Leuten vorwiegend mit Männern zeigte sich, dass alle gleicher Meinung waren, eher weil ihre soziale Lage ähnlich war, weniger wegen kultureller Übereinstimmung. Ihrer Ansicht nach ist AIDS bloß eine Erfindung: entweder handele es sich um Propaganda, um das Bevölkerungswachstum einzudämmen, oder um die absichtliche Verbreitung des Virus, um die Fortpflanzungsfähigkeit Afrikas im allgemeinen und der Bewohner des Graslands im Speziellen zu untergraben. Viele Menschen im Grasland Kameruns halten AIDS für die Folge geheimer Tests von biologischen Waffen oder eine Verschwörung der Regierung, um die englischsprachige Minderheit der Nordwestprovinz auszurotten.
Eine Besonderheit im Gebiet der Nso' dürfte der Vorwurf gegen die Zentralregierung sein, sie beteilige sich an einem solchen Vorhaben und ermögliche es Agenten der ersten Welt, ein solches Projekt durchzuführen. Nach Meinung der Jugendlichen verfolgt die Regierung so ihr innenpolitisches Ziel, gegen die anglophone Minderheit des Landes vorzugehen, die seit Anfang der neunziger Jahre für die Demokratisierung des Landes kämpft. In den letzten 15 Jahren ist diese Gruppe zur größten Herausforderung für die Regierung geworden: Sie forderte zunächst Föderalismus, später Abspaltung und Unabhängigkeit.
In vorkolonialer Zeit als Sklaven verkauft, während der Kolonialzeit als Arbeiter auf Plantagen geschickt, fühlen sich die jungen Leute auch heute als Opfer politischer Gewalt. Sie wählen die Sprache der Hexerei, um die lokale, nationale und internationale Elite anzuklagen, dass diese auf ihre Kosten zu Macht und Reichtum gelangt seien. In diesem kulturellen Rahmen wird der Vorwurf der Hexerei zum geeigneten Mittel, sich über soziale Ungleichheit und Marginalisierung zu beschweren.
Die Wirtschaftskrise, die das Land seit Mitte der achtziger Jahre heimsucht, hat zu einer raschen Verarmung der Bevölkerung geführt und sie dazu gezwungen, alles mögliche zu unternehmen, um mit den Schwierigkeiten und Risiken des täglichen Lebens fertig zu werden. Die Krise hat auch dazu beigetragen, dass viele nicht nur von neo-traditionellen Machtstrukturen ausgeschlossen sind, sondern auch nicht an den lokalen Erscheinungsformen der neoliberalen Marktwirtschaft teilhaben. Den Konsum von Waren, den sie mit dem Westen assoziieren und der ihnen verwehrt bleibt, sehen sie als Ausdruck von Erfolg und Selbstverwirklichung an. Um trotzdem ihr Erwachsensein zu demonstrieren, gebrauchen junge Männer häufig ihre Sexualität und machen sich über Frauen her.
Das geht so weit, dass Sexualität als etwas spezifisch Modernes wahrgenommen wird, als Weg, sich im örtlichen politischen Umfeld selbst zu verwirklichen. Man kann auch sagen, dass die Sexualität in einer Überlebensstrategie für diejenigen, die keinen Verhandlungsspielraum haben, zu einem Mittel wird, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Gewiss sind solche neuen Formen der persönlichen Wahrnehmung sowohl Produkt als auch Erscheinungsformen des Widerstands gegen herrschende Ideologien und tiefgreifende politische und historische sozioökonomische Prozesse.
Wenn die Jugend daher von Hexerei spricht, richtet sich das moralisch gegen ein politisches System, das auf der Basis ihrer Ausgrenzung Macht anhäuft und reproduziert. Wenn die Jugend die politische Elite der Hexerei beschuldigt, betrachtet sie AIDS als deren durch das Immunsystem ausgedrücktes Mittel für politische Ziele, nämlich andere auszugrenzen: die Jugend in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung, die anglophone Minderheit des Landes, die für Selbstbestimmung kämpft, und generell die Bevölkerung Afrikas, die man daran hindern will, selbst über ihr Schicksal und ihre Ressourcen zu bestimmen.
Internationale Abkommen zur AIDS-Prävention im Rahmen des weltweiten Anti-AIDS-Programms K.A.P. knowledge (Wissen) attitudes (Einstellungen) practice (Gewohnheit) werden zwar auf Ortsebene in die Politik einbezogen, man verschweigt dabei aber, welche sozioökonomischen und politischen Faktoren das HIV/AIDS-Risiko beeinflussen. Das geschieht auch, weil man mit machtvollen Moralvorstellungen die Opfer und ihr Verhalten für die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich macht.
Das geht von der Basis der altväterlichen waame-Auffassung über die lokalen biomedizinischen Präventions- und Interventionspraktiken bis hin zu nationalen und internationalen AIDS-Bekämpfungsprogrammen. K.A.P. sieht sogar vor, das Sexualverhalten der Infizierten auszuforschen, um ihnen korrekte Informationen geben zu können, wie sie ihr Verhalten ändern sollen.
Die nationalen Programme orientieren sich an den WHO-Richtlinien und stützen eine Sichtweise, der zufolge AIDS das Problem derjenigen ist, die nicht die Gesinnung der Elite vertreten. Die örtlichen religiösen medizinischen Einrichtungen predigen Enthaltsamkeit und Treue und fördern damit die Vorstellung, dass AIDS die Krankheit leichtfertiger und moralisch verdorbener Menschen sei; und die traditionelle Ideologie betrachtet waame als das Schicksal derjenigen, die Anspruch erheben auf Selbstverwirklichung und soziale Mobilität, indem sie sich mit der Modernität identifizieren, und sich damit gegen eine moralische Ordnung auflehnen, die ihre soziale Ausgrenzung festschreibt.
Es ist begreiflich, dass die Jugendlichen zum Vokabular der Hexerei greifen, um sich dagegen auflehnen zu können und gegen das Beziehungsgeflecht von gesellschaftlicher Macht in ihrem Land und der globalen neoliberalen Wirtschaftsordnung.
aus: der überblick 02/2005, Seite 26
AUTOR(EN):
Ivo Quaranta
Professor Ivo Quaranta lehrt Ethnologie an der Universität von Bologna, Italien.