In China haben die Wirtschaftsreformen den Lebensstandard stark erhöht, für viele aber soziale Unsicherheit mitgebracht
Nach Gründung der Volksrepublik wurde in China erstmals eine soziale Absicherung für die Stadtbevölkerung geschaffen. Auf dem Land hat das System kollektiver Gesundheitsversorgung Fortschritte gebracht. Mit der Einführung marktwirtschaftlichen Wettbewerbs in den achtziger Jahren ist der Druck gewachsen, die staatlichen Betriebe von den hohen Sozialkosten zu entlasten. Und mit der Auflösung von Agrarkooperativen wird die Gesundheitsversorgung auf dem Land schlechter. So gewinnt die traditionelle Versorgung durch Clans, die Familie oder traditionelle Heiler wieder an Bedeutung.
von Thomas Heberer
Sozialpolitik galt in sozialistischen Gesellschaften lange als eine der großen Errungenschaften, mit der kommunistische Parteien ihre Herrschaft legitimierten. Arbeitslosigkeit gab es offiziell nicht, zumal im städtischen Raum jeder Person ein lebenslanger Arbeitsplatz sicher zu sein schien. Neben der Gesundheits- und Altersversorgung umfassten die Sozialleistungen seit den fünfziger Jahren die Bereitstellung von Wohnraum zu geringen Mieten, die Einrichtung von Kindertagesstätten, die Subventionierung von Gütern des täglichen Bedarfs, Lohnzulagen bei Preiserhöhungen und eine breite Palette von Sonderzulagen.
In den Anfangsjahren der Volksrepublik China galten die sozialen Sicherungssysteme als der große Fortschritt. Zweifellos hatte China schon bald im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern einen hohen Grad sozialer Sicherheit erreicht. Die Sozialleistungen wurden dort über die Danwei geleistet, die jeweilige Arbeitsstätte.
Insbesondere die medizinische Versorgung stand nach Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 hoch auf der politischen Tagesordnung. Bereits in den fünfziger Jahren wurde mit dem Aufbau eines sozialen Netzes für die Beschäftigten in staatlichen Unternehmen und Behörden begonnen. Dies umfasste Fürsorge im Fall von Krankheit oder Unfall, Geburtshilfe und Mutterschutz sowie Versorgung bei Arbeitsunfähigkeit; daneben wurden eine Altersversorgung und andere Sozialleistungen eingeführt. Damit erreichte China bald eine Spitzenposition in Asien.
Gegenüber den Stadtbewohnern war allerdings die Landbevölkerung benachteiligt, da es für sie keine staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung, kein Rentensystem und auch keine sonstigen staatlichen Sozialleistungen gab. Jedoch bemühte sich der Staat, ein System kollektiver Gesundheitsversorgung zu schaffen sowie Landärzte – anfangs Barfußärzte genannt – auszubilden, die häufig auftretende Krankheiten behandeln konnten. Ab Mitte der sechziger Jahre gewährleisteten diese ein ländliches Netz medizinischer Grundversorgung. Um die im Fall von Krankheit oder Unfall für die Betroffenen unentgeltliche Versorgung zu finanzieren, mussten die Bauern einen finanziellen Eigenbeitrag leisten, den Rest steuerte der sogenannte gemeinsame Wohlfahrtsfonds bei.
Die Altersversorgung hingegen war traditionell Aufgabe der Familie, primär der Söhne, weil Töchter, im Gegensatz zu Söhnen, in andere Familien heirateten und nicht mehr für die Versorgung der betagten Eltern zuständig waren (unter anderem diese Sachlage erklärt, dass sich Paare im ländlichen Raum vor allem Söhne wünschen). Die ungleiche Behandlung von Stadt und Land zeigt allein schon die Statistik, beispielsweise aus dem Jahr 1978. In jenem Jahr gab der Staat für die soziale Wohlfahrt der rund 170 Millionen Stadtbewohner 5,1 Milliarden Yuan aus, für die 790 Millionen Landbewohner indessen nur 230 Millionen Yuan. Dieses Ungleichgewicht verschob sich im Zuge der Reformpolitik weiter zu Ungunsten der Landbevölkerung.
Anfang der achtziger Jahre begann die Regierung, die Wirtschaftsstrukturen in Richtung Marktwirtschaft zu reformieren. Das hat inzwischen zu einer Krise des Sozialsystems geführt und zugleich die ökonomische Absicherung von neuen Risiken wie Arbeitslosigkeit notwendig gemacht. Ein Großteil der Staatsbetriebe steht vor dem Ruin. Damit sind sie vielfach nicht mehr in der Lage, für medizinische Versorgung und Rentenleistungen aufzukommen. Der Staatshaushalt aber reicht nicht aus, diese Aufgaben zu übernehmen. So ist die soziale Versorgung von Teilen der städtischen Bevölkerung immer weniger gewährleistet. Hinzu kommt die wachsende Arbeitslosigkeit infolge von Betriebsstilllegungen und Personalabbau. Zwischen 9 und 12 Millionen Personen, die seit 1997 jährlich aus dem Staatssektor ausscheiden, benötigen einen neuen Arbeitsplatz – neben den rund 10 bis 12 Millionen Schulabgängern pro Jahr.
Fehlende soziale Versorgung ist ein Grund für wachsende Proteste und Unruhen in städtischen Gebieten. Der Beitritt Chinas zum Welthandelsabkommen (WTO) und erhöhter internationaler Wettbewerbsdruck dürften die Probleme noch verschärfen, denn dann werden eine Reihe einheimischer Unternehmen vom Markt verdrängt werden und andere werden rationalisieren und ihre Belegschaften verkleinern müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Weil der WTO-Beitritt auch mehr Importe landwirtschaftlicher Produkte erlaubt, wird es im Agrarsektor ebenfalls zum Abbau von Arbeitsplätzen kommen. Ob neu angesiedelte Wirtschaftszweige all die Arbeitslosen aufnehmen können, bleibt abzuwarten. Jedenfalls muss der Staat gewaltige soziale und politische Aufgaben bewältigen. Die Einführung überbetrieblicher Sozialsysteme wird daher immer dringlicher.
Auch das kollektiv finanzierte System der ländlichen Gesundheitsversorgung gibt es heute nur noch in wohlhabenden Dörfern. In ärmeren lässt die medizinische Betreuung zu wünschen übrig, zumal der Staat nicht den erforderlichen Kostenanteil für die Krankenversorgung auf dem Land trägt. Es gibt jedoch lokale staatliche Zuschüsse und für bedürftige Landbewohner die sogenannten Fünf Garantien. Diesen Garantien zufolge sollen Kranke, Waisenkinder, Kinderlose und Verwitwete vom Dorf kostenlos Nahrung, Kleidung sowie Brennmaterial erhalten. Das Dorf muss ferner für die Ausbildung von Kindern der Mittellosen sorgen und die Bestattungskosten von Menschen ohne Angehörige tragen.
Dass im Rahmen der Landwirtschaftsreform die Bedeutung der Kollektive abnahm und private bäuerliche Haushalte an Einfluss gewannen, wirkte sich auf die ländliche Gesundheitsversorgung aus: Teilweise wollten die Bauern nicht mehr für die Finanzierung gemeinsamer medizinischer Leistungen aufkommen. Gesundheitsstationen wurden aufgelöst, viele Landärzte wandten sich einträglicheren Tätigkeiten zu. 1970 gab es nach offiziellen Angaben für immerhin 85 Prozent der Landbewohner eine gesicherte medizinische Versorgung. Ende der achtziger Jahre waren nur noch 7 Prozent öffentlich abgesichert. Für die Besserverdienenden steht eine wachsende Zahl von Privatärzten zur Verfügung, aber es bieten auch viele Personen private Dienste als Ärzte an, die dafür überhaupt nicht ausgebildet sind.
Vielerorts tauchen traditionelle Heiler und Schamanen wieder auf. Das gilt besonders in armen Regionen und Gebieten mit nicht han-chinesischen Ethnien, wo die schulmedizinische Versorgung nicht ausreicht. In Meigu, wo die Ethnie der Yi den Hauptanteil der rund 150.000 Einwohner stellt, betätigten sich im Jahr 2000 rund 5000 traditionelle Heiler. Chinesische Wissenschaftler erklären inzwischen, dass auch die Zunahme des Sektenwesens und von Bewegungen wie Falun Gong mit der Erosion der garantierten medizinischen Versorgung zusammenhänge. Da die Krankenversorgung immer weniger bezahlbar werde, suche ein wachsender Teil der Bevölkerung Zuflucht in als alternativ verstandenen Bewegungen, sogenannten Qigong-Gruppen, in denen sich häufig traditionelle Medizinvorstellungen mit religiösen Heilserwartungen paaren.
Die Rückkehr der Heiler hat nicht nur mit dem Verfall des Gesundheitswesens im ländlichen Raum und den hohen Kosten medizinischer Behandlung zu tun. Viele an Hochschulen ausgebildete Ärzte wollen nicht auf dem Lande arbeiten, weil dort die Arbeitsbedingungen schwierig und die Einkommen niedrig sind. Deshalb fördert der Staat auch den Einsatz von Ärzten für traditionelle Medizin, die in der Regel keine akademische Ausbildung besitzen, sondern eine Lehre absolviert haben, die kostengünstiger arbeiten und die sich leichter im ländlichen Raum einsetzen lassen. Und deshalb billigt er auch wieder die Tätigkeiten traditioneller Heiler, die zuvor jahrzehntelang verfolgt worden waren.
Auf diese Weise haben sich die Unterschiede in Quantität und Qualität der Gesundheitsversorgung zwischen Stadt und Land weiter verschärft. Als Folge der Dekollektivierung werden soziale Aufgaben vernachlässigt, die früher die Kollektive erfüllt haben. Das System der Fünf Garantien wird von den Dorfgemeinschaften immer weniger praktiziert. Die Krankenversorgung für ärmere Bevölkerungsteile ist zum Teil nicht mehr gewährleistet. Die sich ausbreitende Marktwirtschaft hat also nicht allen Vorteile gebracht. Das neue Ziel der Gewinnmaximierung lenkt die zur Verfügung stehenden staatlichen Gelder stärker in die Produktion – zum Nachteil des Sozialwesens. Die daraus resultierende Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat wie ein Schock gewirkt. Die Behandlungskosten für leichtere Krankheiten wie Erkältungen haben sich in den neunziger Jahren verzehnfacht, die für schwerere Krankheiten sogar vervierzigfacht. 95 Prozent der neu verarmten Haushalte auf dem Land sollen chinesischen Berichten zufolge infolge von Krankheiten in die Armutszone abgerutscht sein. Schuld daran sind nicht zuletzt die höheren Arzneimittelpreise.
Auch viele staatliche und kollektive Unternehmen hat die Kostenlawine im Gesundheitswesen in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Daher wurden eine Selbstbeteiligung der Beschäftigten an den Gesundheitskosten eingeführt sowie Prämien für diejenigen, die den pro Person festgelegten Betrag nicht in Anspruch nehmen. Inzwischen ist die Krankenversicherung von den Betrieben an einen unabhängigen Versicherungsträger übergeben worden. Doch auch mit einer Selbstbeteiligung stehen die Beschäftigten im Staatssektor immer noch wesentlich besser da als Bauern, Freiberufler oder Beschäftigte im nichtstaatlichen Sektor, die für ihre Behandlungskosten weitgehend selbst aufkommen müssen.
Zur Zeit bemüht sich der chinesische Staat um eine Wiederbelebung der genossenschaftlichen Gesundheitsfürsorge auf dem Land. In 18 Prozent der Dörfer – vor allem in den wohlhabenden – gibt es laut staatlichen Angaben ein solches System. Dort werden die notwendigen Zahlungen aus den öffentlichen Einnahmen des Dorfes getätigt. In ärmeren Regionen müssen die Mitglieder 0,5 bis 1 Prozent ihres Nettoeinkommens in den genossenschaftlichen Fonds einzahlen. Die Auszahlungen richten sich dann nach der jeweils eingezahlten Summe.
Aber die Zahl derer wächst, die sich eine Behandlung nicht mehr leisten können. Dies betrifft neben Bauern vor allem Rentner und Arbeitslose. Einer Erhebung in der Stadt Shenyang zufolge gaben 51 Prozent aller befragten Rentner an, ihre Gesundheitsversorgung sei nicht gewährleistet. Ein weiteres Problem ist die immer mehr um sich greifende Korruption. Wer die Ärzte und Krankenschwestern nicht schmiert, muss mit schlechten oder eingeschränkten Leistungen rechnen. Gute Ärzte stehen in der Regel nur für zahlungskräftige Kunden zur Verfügung. Gleichwohl liegt China in der Summe betrachtet auch heute noch etwa auf dem Niveau von Ländern mit mittlerem Einkommen. Ende 1999 gab es amtlichen Angaben zufolge im Durchschnitt einen Arzt auf 616 Einwohner.
Wie die Gesundheits-, so bleibt auch die Altersversorgung bisher weitgehend auf die Beschäftigten der staatlichen und eines Teils der Kollektivbetriebe beschränkt. Die Renten wurden seit den fünfziger Jahren von den einzelnen Betrieben gezahlt. Der steigende Anteil von Rentnern an der Gesamtbevölkerung belastet die Unternehmen allerdings beträchtlich. Der Anteil der Rentner steigt als Folge der Ein-Kind-Politik in China schneller als im Weltdurchschnitt. Im Jahr 2000 waren zwar erst gut 10 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt. Aber zwischen 2025 und 2040 werden zwischen 20 und 25 Prozent der Bevölkerung älter als 60 sein. Wie dann die Altersversorgung finanziert werden soll, weiß bislang niemand.
Die Kosten der Rentenzahlungen belasten die Betriebe sehr unterschiedlich. Ältere Unternehmen mit einer großen Zahl von Rentenempfängern müssen enorm hohe Kosten für Renten aufwenden, während neue Betriebe mit junger Belegschaft dadurch noch kaum belastet sind. Die Reform des Rentensystems soll hier einen Ausgleich schaffen, indem die Unternehmen einen bestimmten Anteil der Lohnsumme in eine Versicherung einzahlen, die dann die Rentenzahlungen übernimmt.
Die Renten sind in der Regel sehr niedrig. Die enormen Preissteigerungen in den letzten Jahren und die Zunahme des Prämienanteils an den Gesamteinkommen der Beschäftigten (die Prämien werden auf den Grundlohn und damit auf die Rentenansprüche nicht angerechnet) bewirken, dass die Rente häufig kaum zum Leben reicht und viele Rentner verarmen. Zahlreiche Rentner versuchen daher, über eine Tätigkeit im Privatsektor ihr Einkommen aufzubessern. Im Jahr 2000 hat die politische Führung die rechtzeitige und vollständige Auszahlung der Renten zum Ziel erklärt. Ein Großteil der Betriebe leistet nämlich bislang noch nicht die vorgeschriebenen Abgaben an die Rentenkasse und ist offenbar auch nicht in der Lage, die eigenen Betriebsrenten auszuzahlen.
Auf dem Land müssen sich in der Regel allein die arbeitsfähigen Familienmitglieder um die Versorgung der Alten kümmern. Wer keine Angehörigen mehr hat und in einem Dorf lebt, wo das Fünf-Garantien-System nicht mehr funktioniert, muss also versuchen, durch Betteln über die Runden zu kommen.
Eine Arbeitslosenversicherung brauchte China nicht, solange jeder einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz hatte. Inzwischen dürfen Betriebe auch Entlassungen vornehmen und können in Konkurs gehen. Durch Betriebsschließungen und Entlassungen sind daher Millionen neuer Arbeitsloser auf den Arbeitsmarkt geworfen worden. Überdies sieht ein neues Arbeitsrecht Einstellungen nur noch mit befristeten Arbeitsverträgen vor (die allerdings verlängert werden können). Die Zahl der Erwerbslosen hat sich deshalb in den letzten Jahren deutlich erhöht. So wurde eine Arbeitslosenversicherung dringend erforderlich. Über 95 Prozent aller Staatsbetriebe hatten sich bereits bis Mitte der neunziger Jahre diesem System angeschlossen. Wegen der Liquiditätsprobleme vieler Betriebe erhält allerdings nur ein Bruchteil der Erwerbslosen wirklich Arbeitslosengeld. Und wenn gezahlt wird, liegt der Betrag häufig unter den vertraglichen Sätzen. Dass die Zahlung wie bei der Rente am Grundlohn (ohne Prämien und Zulagen) bemessen wird, bedeutet für viele das Absinken in die Armut. Im Durchschnitt werden derzeit rund 40 Prozent des letzten Lohnes ausgezahlt.
Die in den neunziger Jahren eingeführte Regelung gilt bislang nur für die Beschäftigten im Staatssektor. Arbeitslose sollen dann Arbeitslosengeld erhalten, wenn entweder der Betrieb in Konkurs gegangen ist oder die Entlassung von Arbeitskräften zur Abwendung eines Konkurses notwendig war, wenn die Verträge von Vertragsarbeitern ausgelaufen oder gekündigt worden sind oder wenn jemand vom Betrieb entlassen worden ist. Wer von sich aus geht und arbeitslos wird, hat keinen Anspruch auf eine Versicherungsleistung. Die Versicherung speist sich aus der Abführung der Betriebe an den Versicherungsfonds, aus den Bankzinsen für bereits eingezahlte Gelder und aus Finanzzuschüssen der Kommunen. Die Einnahmen aus der Arbeitslosenversicherung werden nicht nur für die Zahlung von Arbeitslosengeld verwendet, sondern auch zur Abdeckung medizinischer Grundversorgung, für Sozialhilfeleistungen an Bedürftige und für Wiedereingliederungs- bzw. Umschulungsprogramme.
Dabei gibt es unterschiedliche lokale Regelungen. Teilweise kommen die ursprünglichen Unternehmen weiter für Zulagen und medizinische Versorgung der arbeitslos gewordenen Belegschaftsmitglieder auf. In manchen Kommunen können quasi Entlassene ein bis zwei Jahre einkommenssteuerfrei einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen und sich dann entscheiden, ob sie endgültig aus dem Betrieb ausscheiden. Dahinter steht der Gedanke, andernfalls Arbeitslose zu selbstständiger Erwerbstätigkeit zu animieren, um die Arbeitslosenquote und die daraus resultierende soziale Belastung zu vermindern.
Es dürfte allerdings noch geraume Zeit dauern, bis ein landesweites, funktionstüchtiges System der Arbeitslosenversicherung verwirklicht ist. Bisher sind nicht genug Mittel für ausreichende Arbeitslosengelder vorhanden. Der Staat gibt lediglich eine Art Beihilfe zur Lebenshaltung. Ein höheres Maß an Arbeitslosigkeit würde den Staatshaushalt erheblich belasten. Weil aber eine funktionstüchtige Arbeitslosenversicherung fehlt, regt sich in der Bevölkerung heftiger Widerstand gegen eine Reform des Beschäftigungssystems.
In der chinesischen Privatwirtschaft gibt es bislang – anders als in Staatsbetrieben – so gut wie keine Absicherung sozialer Risiken. Dabei sind inzwischen schon über 90 Prozent aller Betriebe in privatem Besitz, und diese beschäftigen rund 40 Prozent aller Arbeitnehmer.
Unsere eigenen Untersuchungen unter chinesischen Privatunternehmern belegen, dass die Mehrheit durchaus bereit wäre, ihren Beschäftigten gewisse Sozialleistungen zu bieten. In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Management und der Kommission für die Reform der Wirtschaftsstruktur haben wir in drei Regionen unterschiedlichen Nivaus der Entwicklungrund 200 Unternehmer befragt. Mehr als 80 Prozent dieser Unternehmer sehen es nicht allein als Sache des Staates an, sich um soziale Belange zu kümmern, sondern sagen, dass Sozialleistungen teilweise auch von Unternehmen getragen werden sollten. Lediglich größere Unternehmer erhoffen eine Entlastung von Seiten des Staates. Offenbar befürchten sie wegen der größeren Zahl von Beschäftigten eine zu große Belastung durch Sozialkosten und glauben, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen bereits ihren sozialen Verpflichtungen weitgehend nachgekommen zu sein. Die Mehrheit der Befragten war aber nicht der Meinung, dass Sozialleistungen erst dann gewährt und die Arbeitsbedingungen erst dann verbessert werden könnten, wenn der Unternehmer gut verdiene. 52 Prozent waren der Meinung, es sei schon jetzt an der Zeit, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen für die Beschäftigten zu verbessern. Knapp ein Drittel hielt dafür die Zeit noch nicht für reif und sprach sich für eine schrittweise Umsetzung aus. Die Bereitschaft zu Sozialleistungen war bei Unternehmern auf dem Land stärker ausgeprägt als in den Städten. In der Summe widerlegen unsere Ergebnisse die Behauptung, die Privatunternehmer seien reine "kapitalistische Ausbeuter", die nur an Profit dächten. Vielmehr zeigen die Privatunternehmer durchaus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.
Jedoch klafft eine Lücke zwischen der bekundeten Bereitschaft, Sozialleistungen zu erbringen, und der Praxis in den Betrieben. Unseren Untersuchungen zufolge erhielten im Falle eines Arbeitsunfalls 70 Prozent der Betroffenen ihren Lohn nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr, ein Viertel hatten die Behandlungskosten selbst zu tragen. Bei Erkrankungen zahlten nur 12,9 Prozent der Privatbetriebe solche Kosten. Altersvorsorge gab es höchstens vereinzelt und auch dann nur für wenige Fachkräfte.
Allerdings gibt es regionale Unterschiede. In entwickelteren Regionen stimmte ein größerer Prozentsatz der befragten Unternehmer der Äußerung zu, dass es notwendig sei, Sozialversicherungsleistungen einzuführen. Dort ist der Aufbau eines Sozialversicherungssystems auch am weitesten gediehen. Arbeitsverträge sind langfristiger und die Beschäftigung ist stabiler. Dort haben auch viele Arbeitskräfte, die zuvor Landwirtschaft betrieben hatten, diesen Nebenerwerb ganz aufgegeben und sind vollends Arbeiter geworden. In durchschnittlich oder gering entwickelten Gebieten ist das Gros der Arbeitskräfte noch in der Landwirtschaft verwurzelt. Als Arbeiter-Bauern sind sie primär als Saisonarbeiter tätig und kehren in ihre Dörfer zurück, wenn die Felder bestellt oder die Ernten eingebracht werden müssen.
Unsere Untersuchungen belegen, dass betriebliche Rentenregelungen meist nur für leitende Fachkräfte wie Manager und Ingenieure vereinbart werden. Für die übrigen Beschäftigten gibt es in keinem der von uns untersuchten Unternehmen solche Regelungen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Einführung einer Sozialversicherung für Privatunternehmen nur schwer möglich ist, wenn es sich um kurzzeitige Arbeitsverhältnisse bei hoher Fluktuation der Belegschaft handelt, wie es bei bäuerlichen Saisonarbeitern üblich ist. Weil diese überwiegend wieder in den Agrarsektor zurückkehren und ihre Arbeit im Privatsektor nur als zeitweise Möglichkeit für einen Zusatzverdienst ansehen, ist ihnen weniger an einer Arbeitslosen- und Rentenversicherung gelegen; an medizinischer Versorgung sind sie allerdings schon interessiert.
Interessanterweise sprach sich in ländlichen Regionen ein höherer Prozentsatz der Unternehmer für die Einführung von Sozialversicherungsleistungen aus als in städtischen. Das lässt sich wohl daraus erklären, dass 87 Prozent der Arbeitnehmer in den untersuchten ländlichen Unternehmen aus dem gleichen Dorf, der gleichen Gemeinde oder dem gleichen Kreis wie die Unternehmer stammten und somit Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern auch außerhalb des Arbeitsverhältnisses bestehen. Dies mag ein stärkeres Verantwortungsgefühl der ländlichen Arbeitgeber bewirken. 75 Prozent der Beschäftigten in städtischen Unternehmen stammten dagegen aus anderen Regionen als die Arbeitgeber. Diese Arbeitsverhältnisse sind in der Regel temporär und basieren weniger auf persönlichen Beziehungen, sodass die Bereitschaft der Unternehmensinhaber zur Übernahme von sozialer Verantwortung geringer ist.
Die eher zögerliche Haltung des Staates, der appelliert und kritisiert, aber selbst nur wenig durchsetzt, verstärkt den Eindruck, dass die politische Führung die frühkapitalistischen Verhältnisse durchaus billigt, um die wirtschaftliche Entwicklung, die privaten und genossenschaftlichen ländliche Betriebe und – mittels billiger Produktion – den Export zu fördern. Offenbar setzt sie darauf, auf diese Weise die Armut zu verringern.
Aber unter Wanderarbeitern und -arbeiterinnen haben sich zum Teil informelle landsmannschaftliche Organisationen gebildet, die als eine Art gewerkschaftliche Interessenvertretung wirken. Diese verhandeln mit Unternehmern, und notfalls versuchen sie, Anliegen von Angehörigen ihrer Gruppe auch mit Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt durchzusetzen. In Orten mit größerer Konzentration von Wanderarbeitern, etwa in Sonderwirtschaftszonen, sind regelrechte Untergrundgewerkschaften entstanden, die ihren Mitgliedern einen gewissen Schutz bieten und soziale Leistungen einfordern. Sie werden von den Unternehmern sogar als Verhandlungspartner akzeptiert, weil sie Konflikte zu kanalisieren vermögen. In ländlichen Regionen wird die Organisierung und Interessenvertretung der Beschäftigten in Privatbetrieben dadurch erschwert, dass die Migranten ihre Herkunftsgemeinde noch immer als ihren eigentlichen Lebensmittelpunkt und ihre Heimat ansehen und dass sie angesichts der hohen Fluktuation der Beschäftigten in den Betrieben Angst haben, ihren Job zu verlieren, falls sie sich organisieren. In großen Städten dagegen, wo mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, können Interessenorganisationen wie Landsmannschaften eher Schutz bieten und sogar zur Vermittlung neuer Arbeitsplätze beitragen.
Der Besitz von Boden und der soziale Rückhalt im Clan oder in der Familie prägen dagegen das Bewusstsein der Landbevölkerung. Häufig wird der Ruf nach der Familienverpflichtung wieder laut. Das Vakuum, das durch die Erosion des Sozialsystems in den Dörfern entstanden ist, wird zunehmend auf traditionelle Weise gefüllt. Wo der Staat nicht einspringen kann, ist familiäre Subsidiarität gefragt. Solche familiären Verpflichtungen spielen in der chinesischen Gesellschaft nach wie vor eine herausragende Rolle. Allerdings muss hier zwischen städtischem und ländlichem Raum unterschieden werden. In einer chinesischen Untersuchung nannten Mitte der neunziger Jahre 64 Prozent der Befragten im ländlichen Raum Verwandte als wichtigs-te Gruppe, von der sie Hilfe erwarteten; bei Befragten in großen Städten waren es nur 33,1 Prozent.
Solange die Dorfbewohner in Produktionsbrigaden organisiert waren, waren familiäre oder Clanverbindungen nicht von großer Bedeutung. Erst die Rückkehr zu familiärer Bewirtschaftung stärkte die verwandtschaftlichen Beziehungen wieder. Denn nun wurden gegenseitige Hilfe und Unterstützung wieder wichtig. Da die derzeitigen Verwaltungsinstitutionen immer weniger in der Lage sind, auf den gesellschaftlichen Wandel und die damit verbundenen neuen Erfordernisse zu reagieren, und weil es zudem keine rechtlich verbindliche soziale Absicherung der Individuen gibt, fangen die traditionellen Clans wieder ihre Mitglieder auf und sorgen für deren Schutz. Dazu trägt auch die traditionelle Struktur vieler ländlicher Unternehmen bei, die als Clan-Betriebe ihre Belegschaft weitgehend aus dem eigenen Clan rekrutieren. Auf diese Weise erhalten die Clans größere ökonomische Macht. So hat die Familie ihre Funktion als "Solidaritätseinheit" in vielen Regionen wiedererlangt.
Chinas MigrantenImmer mehr Menschen leben vom Verkauf von AbfällenNur einen Steinwurf entfernt von den glitzernden Wolkenkratzern, die Shanghai überragen, lebt der dreijährige Wang Kun zusammen mit seinen Eltern in einem von verfaulendem Müll umgebenen Schuppen. Eine 15 Personen starke Gruppe von Müllsammlern lebt in drei Reihen schlampig gebauter Baracken neben der Müllhalde in Nanhui – im Südosten Shanghais. Dies ist nur eine der unzähligen Notunterkünfte, die an den Ausläufern der Müllhalden rund um Chinas glänzende Wirtschaftsmetropole gebaut wurden. Wang Kun und sein Vater Wang Jun stammen aus der benachbarten Provinz Jiangsu, während die meisten anderen seiner Lumpensammler-Kollegen aus der verarmten zentralchinesischen Provinz Sichuan kommen. Die Zahl solcher Wanderarbeiter steigt ständig. Die Müllsammler gehören zu den Millionen von Arbeitern aus den ländlichen Regionen, die sich jedes Jahr auf Wallfahrt in die chinesischen Großstädte begeben in der Hoffnung, dort ein besseres Leben führen zu können. Allein in Shanghai leben nach Schätzungen von lokalen Medien drei Millionen Menschen aus diesem Grund. Und mit Chinas Bestreben, dieses Jahr der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten, wird sich die Zahl der Menschen, die unter gefährlichen und unhygienischen Umständen in den Städten leben, noch erhöhen, sagt Frank Lu vom Informationszentrum Menschenrechte und Demokratie in Hongkong. "Zurzeit gibt es in China 140 Millionen Menschen, die in den ländlichen Gebieten keine Arbeit finden. Nach der drei Jahre andauernden Reform, die bis zum Eintritt Chinas in die WTO noch nötig ist, könnte sich diese Zahl bis auf 200 Millionen erhöhen", so Lu. Arbeiter aus den ländlichen Regionen besitzen meistens nicht die begehrte Arbeitserlaubnis, die Landbewohnern auch die Berechtigung zum Leben in Chinas Großstädten gibt. Sie dürfen daher weder Bildungs- noch Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen, und häufig sind sie Objekt willkürlicher Festnahmen durch die Polizei. Und das, obwohl sie aus Chinas städtischen sanitären Systemen nicht mehr wegzudenken sind. "Müllsammler spielen eine wichtige Rolle in den Städten, und die Politiker nehmen ihnen gegenüber eine ambivalente Haltung ein", sagt Sophia Woodman, Direktorin am Institut für Menschenrechte in Hong Kong. Gegen die Müllsammler wird oft rücksichtslos vorgegangen. Als Begründung kann ein Nationalfeiertag herhalten oder die Meinung eines Funktionärs, der durch ein Viertel mit Migranten-Behausungen fährt "und dabei denkt", so Lu, "dass wir dieses Bild nicht in unserer glänzenden modernen Stadt haben wollen". Für den 26-jährigen Liu Tian, seine Frau und den vier Jahre alten Sohn, die auf einer Müllhalde in Sanlitang in Shanghais südlichen Elendsvierteln leben, ist die Unsicherheit erträglich. Die 800 Yuan (etwa 200 Mark), die Liu jeden Monat für die Bedienung einer Rauch spuckenden Maschine verdient, die aus alten Plastiktüten Gummi macht, sind das Vierfache dessen, was er in seinem Dorf in Jiangsu verdienen würde. "Und es ist kein schlechtes Leben. Ich verdiene viel mehr als ich zuhause verdienen könnte; und wenn mein Sohn alt genug ist, will ich ihn wieder in Jiangsu in die Schule schicken", sagt Liu. Vor der Hütte, in der Liu lebt, durchwühlen fünf alte Frauen stinkende Müllhaufen und suchen verschiedene Materialien zum Recycling heraus. Viele der Frauen sprechen kein Mandarin und sehen mit ihren verhärmten Gesichtern älter als 60 aus, aber Liu erklärt, dass die meisten zwischen 40 und 50 Jahre alt sind. "Keiner hier ist über 60, denn wenn Du krank wirst, musst Du Deine Medikamente selbst bezahlen", sagt er. Betrieben wird die Müllhalde in Sanlitang von einem Zwischenhändler, der aus Suxian stammt, dem gleichen Dorf in der Provinz Jiangsu, aus dem auch Liu Tan und seine Mitstreiter kommen. Liu berichtet, dass sein Boss zwar hervorragend alleine zurecht komme, die Behörden ihn aber aufgefordert hätten, umzusiedeln. "Wir müssen in ein paar Wochen umziehen. Manche der anderen Arbeiter sind bereits umgezogen, aber wir wissen noch nicht, wo wir hingehen. Wir müssen warten, bis der Chef uns das sagt", erklärt er. Die Siedlungen der Müllsammler des kommunistischen Chinas sehen aus wie die der Lumpensammler im Paris des 19. Jahrhunderts, sagt Michel Bonnin, ein Forscher, der die Ghettos der Müllsammler außerhalb Chinas Hauptstadt Pekings untersucht hat, die dort wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Während in Paris die Lebensumstände aus jahrzehntelanger Armut resultierten, in denen die Müllsammler die Masse der Müllhaldenbewohner ausmachte, sind diese in China sprunghaft angestiegen. Die Wirtschaftsreform beschleunigte in den späten achtziger und in den neunziger Jahren diese Entwicklung, obwohl die Regierung versucht, sie aufzuhalten. Wie auch immer, für Wang Jun sind weder der Gestank oder der Dreck des Mülls noch die Gefahr, von der Polizei ausgewiesen zu werden, abschreckend. "Obwohl die Arbeit hier schmutzig und hart ist, habe ich mehr Freiheit und menschliche Würde als bei einem Job in einer Fabrik", sagt er. Rachel Morarjee Rachel Morarjee schreibt für Agence France Press in Peking. |
aus: der überblick 01/2001, Seite 54
AUTOR(EN):
Thomas Heberer :
Dr. Thomas Heberer ist Professor für Ostasien- und Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Ostasien an der Universität Duisburg. Er hat ein Forschungsprojekt mit dem Thema "Die gesellschaftliche und politische Rolle von Privatunternehmern in China und Vietnam" geleitet. Die Ergebnisse dieses Projektes werden im ersten Halbjahr 2001 im Hamburger Institut für Asienkunde erscheinen.