"Man darf die Ahnen nicht im Regen lassen"
Trotz unterschiedlicher Sprachen und Traditionen verbindet die Bamileke eins: Das Totenritual. Dabei ist wichtig, von den Verstorbenen auf eine ganz bestimmte Art und Weise Abschied zu nehmen. Schließlich gehören sie noch weiterhin zur Familie und melden sich bei wichtigen Ereignissen zur Wort.
von Jürgen Thiesbohnenkamp
Die Nationalstraße, die von Douala, der größten und wirtschaftlich stärksten Stadt Kameruns, die Küste mit dem Bamileke-Hochland verbindet, wird auch route de deuil - Straße der Trauer - genannt. An den Wochenenden während der Trockenzeit bringen Privatfahrzeuge, Kleinbusse und Lastwagen die Menschen aus den großen Städten auf die Dörfer zu den großen Totenfesten. Dabei ereignen sich immer wieder Unfälle, die die Straße der Trauer auch zu einer Straße des Todes machen. Auf ihr werden die Verstorbenen von Douala aus in ihre Heimatdörfer überführt. Oft wird der Sarg in einem Kleinbus transportiert, gemeinsam mit den Angehörigen, die ihren Verstorbenen begleiten. Fast alle Bamileke, die in der Stadt gelebt haben, werden in ihren Heimatdörfern beerdigt. Traditionell liegen die Gräber neben den Häusern. Waren sie früher unscheinbar, fallen heute immer mehr aufwändig gemauerte Grabstätten auf, die auch die Größe von Kapellen haben können und als Familiengrabstätten dienen.
Um die Provinzhauptstadt Bafoussam siedeln die Bamileke in unterschiedlich großen und bedeutsamen Königtümern - chefferien - im gesamten westlichen Bergland Kameruns innerhalb des französischsprachigen Teils. Trotz unterschiedlicher Sprachen und Traditionen verbindet sie die Bedeutung des Totenrituals, das Lebende und Tote in einer generationenübergreifenden Gemeinschaft zusammenhält. Bei allen Veränderungen der familiären Situation durch Migration und Armut hat sich das Totenritual als beständig erwiesen. In der Auseinandersetzung mit dem christlichen Todesverständnis und der kirchlichen Bestattung sind integrationsfähige Formen entwickelt worden. Die christliche Beerdigung findet im Rahmen des traditionellen Totenrituals statt, hat aber auch eigene Akzente gesetzt.
Das Totenritual der Bamileke gliedert sich in vier Phasen: Das Sterben, die Tage der Aufbahrung und der Bestattung, der Abschluss der ersten Trauerzeit und das große Totenfest. Dieses Ritual gilt für Frauen und Männer. Das Totenritual des Einzelnen ist verbunden mit dem Totenritual des Königs, der in der Inkarnation seiner Ahnen unsterblich ist. Dies bedeutet, dass das Todesverständnis der Bamileke mit der Unsterblichkeit des Königs verbunden ist. Die großen Totenfeste der Könige sind Inszenierungen, die durch Abschied und Proklamation, sprichwörtlich die "Mauer der Trauer durchbohren" und die Kontinuität des Lebens sichern wollen. Die Toten wechseln in eine andere Existenzweise, haben weiterhin leibliche Bedürfnisse, können Einfluss nehmen und müssen von den Lebenden beachtet werden. Sie bleiben den Lebenden nahe und gehören weiterhin zur Familie. Dies trifft aber nur für die zu, die an einem "guten Tod" gestorben sind.
Zur Kategorie des "schlechten Todes" gehören Kinderlose, Selbstmörder und Menschen, die nachweisbar durch Hexerei zu Tode kamen oder durch einen Blitzschlag, oder jene, die ertrunken sind. Ihnen gilt ein anderes Totenritual, durch das sie von den Lebenden getrennt werden, da ihr Tod als ansteckend gilt. Unter bestimmten Bedingungen kann der Schaden repariert werden, so dass sie in der Gemeinschaft bleiben können.
Wenn sich die Anzeichen des nahenden Todes verdichten, wollen viele Angehörige in der Sterbestunde dabei sein. Der Kranke soll in der Mitte seiner Familie sterben. Es ist wichtig, von ihm wahrgenommen zu werden und ihn zu begleiten. Dies geschieht auch durch Gesänge, die dann als Totenklage die Nachricht vom Trauerhaus in das Dorf verbreiten. Tritt der Tod ein, geraten besonders die Frauen im Trauerhaus außer sich. Sie werfen sich zu Boden, wälzen sich umher, ohne Rücksicht auf sich selbst und die Einrichtung im Haus. Sie müssen die Trauer nach außen bringen und schreien ihr Leid heraus. Die Macht des Todes wirft die Lebenden zu Boden. Doch das Sterben lähmt die Lebenden nicht, sondern setzt Kräfte frei, die in der Fürsorge für den Toten eingebracht werden.
Die Versorgung des Leichnams und die Bestattung stehen als Gemeinschaftsaufgabe im Mittelpunkt der zweiten Phase. Der Tote wird gewaschen, mit Palmöl, Kosmetika und Konservierungsstoffen gepflegt, bekleidet und in seinem Lebensbereich zu Hause aufgebahrt. Tritt der Tod im Krankenhaus ein, so wird der Verstorbene zu seinem Haus überführt, nicht selten auch noch vor der Beisetzung zu einem früheren Wohnort gebracht, damit die alte Nachbarschaft Abschied nehmen kann. Zeit seines Lebens hat er dafür gesorgt, einmal in seiner Heimat bestattet werden zu können, etwa durch den Bau eines Hauses oder durch die Zugehörigkeit zu einem Familienanwesen. Bis heute hat sich der Brauch erhalten, die Nabelschnur eines Neugeborenen dort als Angeld auf eine spätere Bestattung zu vergraben.
Die Totenfürsorge und die Totenwachen während der Zeit der Aufbahrung helfen mit, die Trauer zu verarbeiten. Zugleich umgeben während dieser Zeit viele Menschen die Trauernden, die niemals allein bleiben. In christlichen Familien verbinden sich mit den Totenwachen Andachten und Trauergesänge, die oft spontan entstehen und das Leben des Verstorbenen beschreiben, ohne es zu beschönigen.
Während dieser Zeit bereiten andere das Grab vor. Früher waren es Nischengräber, in die man die Toten ohne Sarg legte. Auch gab es Rundgräber, in denen die Toten in einer embryonalen Köperhaltung oder sitzend beerdigt wurden. Heute gibt es wegen der üblichen Sargbestattung ausgemauerte Gräber. In die Särge sind oft Gesichtsfenster eingearbeitet, die im Abschied noch einmal Blickkontakt ermöglichen. Sie sollen aber auch allen Vorwürfen wehren, dass ein anderer Leichnam bestattet worden wäre. Bis heute ist es wichtig, dass durch die Grabanlage der Tote an seinem Ort beheimatet wird. Mit großer Sorgfalt und nicht selten mit lauten Diskussionen wird der Sarg im Grab platziert. Zuvor sprechen Angehörige und andere Personen Abschiedsworte, die bei vielen die Zusicherung enthalten, am Tode des Verstorbenen keine Schuld zu haben. Nach dem traditionellen Glauben der Bamileke muss der Tod eines Menschen eine Ursache haben, die außerhalb von ihm selbst liegt. Traditionelle Autopsien und andere Untersuchungsmethoden sollten hier Klarheit bringen. Sie führten nicht selten zur Verdächtigung der Witwen, die durch eigene Rituale ihre Unschuld beweisen mussten. Missbrauch und Schuldzuweisungen haben die Kirchen zu einem besonderen Engagement herausgefordert, die Totenruhe zu wahren und die Witwen vor Diskriminierungen zu schützen. Sollte jemand mit den Verstorbenen noch eine offene Rechnung haben, so ist der Moment vor der Grablegung die letzte Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen oder auch Schuld zu vergeben. Angehörige halten oft sehr bewegende Abschiedsreden und würdigen den Verstorbenen dadurch, dass sie neben seinem Sarg Feldfrüchte oder Arbeitsgeräte ausstellen, um darauf hinzuweisen, wie der Verstorbene für die Familie gesorgt hat und sorgen wird.
Nach Eintritt des Todes und der Beerdigung bleiben die Angehörigen neun Tage zusammen. Ihr Leben ist in dieser dritten Phase vielen Einschränkungen unterworfen. Witwen waschen sich nicht, schlafen auf dem Boden und dürfen nur bestimmte Speisen zu sich nehmen. Wichtig ist, dass die Trauernden von vielen Menschen in dieser Phase besucht werden, die niemals mit leeren Händen kommen. Im "Korb der Trauer", den sie bei den Besuchen mitbringen, finden sich Lebensmittel, Getränke und Geld zur Versorgung der vielen Besucher.
Trauerfeier und Beerdigung beanspruchen die Familie oft bis an den Rand des finanziellen Ruins. Verschuldungen sind trotz der erfahrenen Solidarität nicht selten. Es gilt als Prestigegewinn, wenn viele Menschen zu den Trauerbesuchen kommen. "Wage zu sterben, um zu sehen, wie viele kommen, um dich zu beweinen", sagt ein Sprichwort.
Neu ankommende Besucher stellen sich zu den Angehörigen, denen sie am meisten verbunden sind, und umfassen sie mit ihren Händen, um ihre Unterstützung auszudrücken. In diesen neun Tagen durchleben die Menschen die Trauer so intensiv, dass sie danach die Wiedereingliederung in das Leben als Beginn eines neuen Lebensabschnittes feiern. Dies wird deutlich durch Waschungen, neue Kleider, der Rückgewinnung des Lebensrhythmus und durch die Bekanntmachung des Erben, auf den die Verantwortung übergeht und der die Kontinuität des Lebens zu sichern hat.
Dazu gehört es insbesondere auch, als vierte Phase das große Totenfest vorzubereiten, durch das der Verstorbene zu einem Ahnen wird. Damit bleibt er endgültig in der Familie und kann auf ihr Lebensgeschick Einfluss nehmen. Es gibt kein festes Datum für dieses Fest, aber es muss stattfinden, auch wenn es Jahre dauert. Es setzt die Einheit der Familie voraus, die die nicht unerheblichen Kosten zu tragen hat.
In der Bamileke-Tradition gehörte zu diesem Fest die Exhumierung des Schädels, der dann im Haus in einer Tonschale beigesetzt und zu den anderen Ahnen gesellt wurde. Diese Tonschalen stehen entweder im Wohnhaus oder in kleinen Anbauten, die als Opferhäuser dienen. Auf den Tonschalen - den mit Erde zugedeckten Schädeln der Ahnen - wurden und werden von den Familienangehörigen Opfergaben ausgelegt, besonders an Wendepunkten des Lebens oder in kritischen Zeiten. In Gebeten werden die Ahnen angesprochen und ihre Hilfe erbeten. "Man darf die Ahnen nicht im Regen lassen", heißt eine sprichwörtliche Verpflichtung.
Christliche Familien haben an diese Stelle Dankgottesdienste gesetzt. Anstelle der Opfer auf den Schädeln legt man Kollekten zusammen, die für die Entwicklung des Dorfes eingesetzt werden, etwa für den Bau von Schulräumen oder die Reparatur einer Straße. Die Ahnen nicht im Regen zu lassen, bedeutet dann, die Entwicklung des Lebens durch gemeinschaftsbezogene Opfergaben zu schützen und zu fördern. Die Erinnerung an die Verstorbenen führt zu Investitionen für die Zukunft der kommenden Generation.
In Kamerun gelten die Bamileke sozial und ökonomisch als besonders solidarisch, dynamisch und erfolgreich. Geprägt wird dieses Bild durch einige Familien, die zu den reichsten im Land zählen, aber auch dadurch, dass kleine und mittlere Unternehmen an vielen Orten in den Händen von Bamileke sind. In der politischen Großwetterlage Kameruns gilt solch ein Hinweis als tribalistisches Vorurteil, das der Einheit des Landes schade. Dennoch ist danach zu fragen, woher es kommt, dass sich Bamileke in allen Landesteilen Kameruns finden, dort stabile Gemeinschaften bilden und durch ein Solidarsystem zur Entwicklung von Ökonomie und Zivilgesellschaft beitragen.
Neben den Ursachen der Migration, wie zum Beispiel die Zwangsarbeit in der Kolonialzeit, oder den Gründen für die Landflucht wie Armut oder politische Unruhen in den sechziger Jahren, prägt die Spannung zwischen dem Verlust an Heimat als eigener Existenzgrundlage und zugleich der dauerhaften Zugehörigkeit zu einer unauflösbaren Gemeinschaft die Lebenseinstellung der Bamileke. Dies zeigt sich in der Erbfolge, die nicht genealogisch festgelegt ist. Der Vater bestimmt im Geheimen zu seinen Lebenszeiten den Erben, der die Verantwortung für die Familie und ihrer Ahnen übernimmt. Den Namen kennen nur enge Vertraute und im Fall des Königs die neun Notabeln. Die anderen Geschwister ziehen fort, tragen aber durch ihre Verbundenheit zum Familienbesitz bei. Dort oder auf einem neuen Grundstück werden sie einmal bestattet.
Aus dieser Solidarität entstehen Rückbindungen, und die setzen immer wieder Entwicklungspotentiale frei: Schulgründungen, Gesundheitsstationen, Wegebau, Wasser und Stromversorgung. Gefördert wird diese Entwicklung dadurch, dass viele Bamileke Mitglieder in Spargemeinschaften sind, die auf dem Prinzip des Vertrauens und der ökonomischen Gleichwertigkeit jeweils einem Mitglied reihum Geld zur Verfügung stellt, das er nicht konsumieren darf, sondern in zukunftssichernde Investitionen einbringen muss. Ein Sprichwort sagt: "Die Spargemeinschaft stirbt nicht." Auch im Todesfall darf der Zyklus nicht unterbrochen werden. An die Stelle des Verstorbenen tritt in seinem Namen eine andere Person als Sprachrohr. Hier wird besonders deutlich, wie das Todesverständnis der Bamileke die Kontinuität des gemeinschaftlichen Lebens fördert.
Dennoch muss auch kritisch eingewandt werden, dass Beerdigungen und Totenfeste durch wachsendes Prestigedenken, wie es auch die aufwändigen Grabbauten zeigen, zu enormen Verschuldungen der Familien führen. Manche sprechen wegen der allgegenwärtigen Dominanz der Beerdigungen und Totenfeste von einer "Zivilisation des Todes", die sich über das Leben gelegt hat und es einschränkt.
Was nützen Schulen und Gesundheitsstationen, wenn das Schulgeld fehlt und notwendige Ausgaben in Krankheitsfällen nicht gemacht werden können, weil alle Mittel für Beerdigung und Totenfest verbraucht worden sind. Auch wenn das Totenfest die Einheit der Familie und die gemeinsame Finanzierung zur Voraussetzung hat, so bleibt doch materiell ein Gefälle zwischen dem Aufwand für einen Toten und den reduzierten Möglichkeiten, die dann noch für Kranke und Kinder aufgewandt werden können. Manch ein Verstorbener hätte noch leben können, wenn ein Teil des Geldes, das zu seiner Beerdigung zur Verfügung stand, schon in der Zeit seiner Krankheit hätte eingesetzt werden können. Der gesellschaftliche Druck, sich umfassend an Beerdigungen und Totenfesten zu beteiligen führt immer wieder auch zu Konflikten bei denen, die in festen Arbeitsverhältnissen stehen und deren Chefs die häufigen Abwesenheiten ablehnen.
Das Prestigedenken im Totenritual und andere entwicklungshemmende Faktoren zu überwinden und die solidarischen Aspekte zu fördern, ist auch der Ansatz der Eglise Evangélique du Cameroun, die unter den Bamileke viele Gemeinden hat. Die Beerdigung auf den Dörfern führt zu einer Stärkung der Stadt-Land Beziehungen. Die Erschließung regionaler Ressourcen, die Aktivierung der landwirtschaftlichen Produktion und der lokalen Märkte wie auch die Entwicklung der Infrastruktur können förderliche Konsequenzen der Totenfeste sein. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft wird da vorankommen, wo die traditionellen Rituale und ihre gesellschaftlichen Potentiale nicht negiert, sondern eingesetzt werden. Das Totenritual der Bamileke bietet dazu gute Voraussetzungen.
aus: der überblick 02/2003, Seite 69
AUTOR(EN):
Jürgen Thiesbohnenkamp:
Dr. Jürgen Thiesbonenkamp ist Vorstandsvorsitzender der Kindernothilfe. Er arbeitete sieben Jahre lang als Seemannspastor in Kamerun. Zu seinen Aufgaben gehörten dort entwicklungsbezogene Projekte in den Armenvierteln der Hafenstadt Douala.