"Afrikas Banalität denken"
Jahrzehntelang gab es keine eigenständige Afrikapolitik der Europäischen Gemeinschaft (EU) oder sie war von den nationalstaatlichen Interessen einzelner Mitgliedstaaten dominiert. In neuester Zeit zeigen sich erste noch brüchige Ansätze einer echten geeinten EU-Afrikapolitik. Allerdings haben die Europäer immer noch Mühe, in Afrika einen Kontinent wie jeden anderen zu sehen und nicht nur in Kategorien wie “Entwicklung”, “Kampf gegen die Armut” oder “Humanitäre Dringlichkeit” zu denken.
von Jean-François Leguil-Bayart
Die Politik der Europäischen Union (EU) gegenüber Afrika steckt voller Paradoxa. Unter dem Einfluss von zwei Gründerstaaten des Gemeinsamen Marktes - Belgien und vor allem Frankreich - und mit Billigung der Bundesrepublik Deutschland, die vor allem darauf bedacht war, die DDR diplomatisch auszustechen, war die staatliche Entwicklungshilfe das erste - und lange Zeit das einzige - Element eines Keims für die spätere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Es wurden institutionelle Instrumente geschaffen, vor allem die mächtige Generaldirektion VIII (DG Entwicklung) und der Europäische Entwicklungsfonds (EEF), die lange Zeit ein Reservat Frankreichs waren. Es wurden beträchtliche Kredite vergeben und Handelsvorteile gewährt, deren Hauptnutznießer die afrikanischen Länder südlich der Sahara waren.
Doch die Politik der Europäischen Union gegenüber dem Subkontinent bleibt schwächlich und inkohärent. Lassen wir einmal die Widersprüche der institutionellen Einrichtungen der Zusammenarbeit, die Mängel und Schwerfälligkeit der Finanzverfahren, die Heuchelei oder den wirklichkeitsfremden Charakter der Handelsabkommen, den Skandal der Agrarsubventionen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) außer Betracht. Am schwersten wiegt in den achtziger und neunziger Jahren die Unfähigkeit Europas, eine wirksame und weniger selbstmörderische Strategie zur Überwindung der Krise zu entwickeln als die vom Internationalen Währungsfond (IWF) und von der Weltbank befürworteten Strukturanpassungsprogramme. Dabei werden die Programme weitgehend durch die europäischen Staaten finanziert, die in diesen multilateralen Institutionen einen gewichtigen Platz einnehmen. Die Kommission hat versucht, die neoliberalen Exzesse abzuschwächen und eine “Strukturanpassung mit menschlichem Antlitz” zu fördern; das Ergebnis ist bekannt. Sie hat vor allem, wenn auch widerstrebend, die auf Zufriedenstellung der Klientel Frankreichs südlich der Sahara abzielende Politik verstärkt, bevor Frankreich (in Abstimmung mit der EU-Kommission) 1994 schließlich zur Abwertung des CFA-Franc gezwungen wurde.
Die Europäische Union ist mal den Interessen Frankreichs, mal denen des IWF gefolgt, hat aber selbst keine Verantwortung übernommen. Sie hat darauf verzichtet, eine neue Form der Integration der Länder Afrikas südlich der Sahara in die internationale Wirtschaft zu konzipieren, die an die Stelle des alten “Kolonialpakts” hätte treten können, an dem unter dem Deckmantel der “Zusammenarbeit” endlos weiter geflickt wurde. Schließlich hat die EU, rund dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit dieser Länder, dazu beigetragen, diesen Pakt zu zerschlagen. Sie hat es jedoch versäumt, eine starke und lebensfähige Beziehung zu ihren Partnern von einst aufzubauen. Denn diese haben in der neuen Weltlage viel von ihrer einstigen Anziehungskraft verloren. Durch die Einrichtung der euro-mediterranen Partnerschaft und vor allem durch die Erweiterung der Europäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas haben die Länder südlich der Sahara an Stellenwert verloren. Allerdings muss man hinzufügen, dass afrikanische Länder selbst viel getan haben, um Brüssel “zu ermüden”. Darüber hinaus hat sich die Aufmerksamkeit infolge der Friedensbemühungen zwischen Israel und den arabischen Ländern und dann ihres Scheiterns, des Endes des Kalten Krieges, der wirtschaftlichen und finanziellen Marginalisierung Afrikas sowie der Beseitigung der Apartheid, die weltweit viele Menschen mobilisiert hatte, auf andere Themen gelenkt und den Subkontinent in den Augen der Staatskanzleien weniger bedeutend erscheinen lassen.
Natürlich werden die europäischen Diplomaten die Sache anders darstellen. Sie werden geltend machen, dass die Mitgliedstaaten der Union in den letzten Jahren ihre traditionellen, aus Kolonialzeiten stammenden Rivalitäten überwunden haben, um südlich der Sahara gemeinsam zu handeln, insbesondere in der Friedenserhaltung. Die Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien seit 1998 im Namen des “Geistes von Saint-Malo” (wo im Dezember 1998 der britisch-französische Gipfel stattfand) war in der Tat spektakulär und hat zu gemeinsamen Besuchen der Außenminister in Ländern oder Regionen geführt, die aus historischer und politischer Sicht symbolisch sehr heikle Regionen sind wie Côte d’Ivoire, Ghana oder das Gebiet der Großen Seen. Und im Jahre 2003 war die Opération Artémis in Bunia in der Demokratischen Republik Kongo eine europäische Premiere, zu der sich alle beglückwünschten.
Die Grenzen, die diesen Schritten gesetzt sind, sind jedoch offensichtlich. Die Mitgliedstaaten der EU nutzen Afrika, um billig “Europa zu machen”, eben weil für sie praktisch nichts mehr auf dem Spiel steht. Das war der Fall zwischen Frankreich und Deutschland Anfang der neunziger Jahre. Aber es dauerte nicht lange, bis diese Erfahrung einen bitteren Nachgeschmack hinterließ, als Paris nämlich seine besondere Beziehung zu Deutschland einfach hinten an stellte, um seinem ewigen Kunden, dem General Eyadéma, beizustehen. Auch Frankreich und Großbritannien wollen mittels gemeinsamer Afrikapolitik in gegenwärtigen Zeiten der Uneinigkeit in Sachen Irak den Dialog und ein Minimum an diplomatischer Zusammenarbeit aufrechterhalten.
Sobald es wirklich ernst wird, steht das nationale Interesse im Vordergrund. So etwa bei den Bemühungen um Frieden in Côte d’Ivoire und in Sierra Leone: Bei jeder dieser Krisen wurde es der ehemaligen Kolonialmacht überlassen, mit ihrem Erbe fertig zu werden. Selbst die berühmte Opération Artémis ist ein Beispiel dafür. Sie wurde militärisch und finanziell mit aller Kraft von Frankreich geführt, diplomatisch wurde sie durch freundschaftlichen Druck der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf ihren Verbündeten Ruanda möglich gemacht. Sie ist die Frucht einer transatlantischen Zusammenarbeit zwischen drei Staaten, die im Mittleren Osten völlig uneins waren und denen weit mehr an der Bewahrung der Zukunft lag als an einem eigenständigen Plan der Europäischen Union als solcher. Andere Krisen, wie die in Guinea-Bissau im Jahre 1998, bei der es zu scharfen Differenzen zwischen Lissabon und Paris kam, haben gezeigt, dass die nationalen Leidenschaften und Rivalitäten rasch wieder an die Oberfläche kommen und die europäische Politik südlich der Sahara beeinträchtigen.
Es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen einerseits der Torheit der europäischen Politik oder den Grenzen, an die nationale und bilaterale Ansätze stoßen, und andererseits dem Umfang der afrikanischen Probleme und ihrem neuartigen Charakter. So bestand eine der großen Befürchtungen der europäischen Streitkräfte, die zur Teilnahme an der Opération Artémis eingeladen wurden, darin, dass sie möglicherweise Kindersoldaten töten müssten, um sich vor einem Angriff zu schützen. Und manche bei der Opération Turquoise 1994 eingesetzten französischen Soldaten waren wortwörtlich traumatisiert von der Entdeckung des Völkermordes oder von ihrer Tätigkeit als Totengräber nach der Choleraepidemie in Goma. Aber es gibt offensichtlich noch systemischere Schwierigkeiten.
Wie kann man Friedensverhandlungen voranbringen, wenn in bestimmten Gesellschaften, wo es keine festen, sondern nur brüchige und temporäre Führungsstrukturen gibt, bewaffnete Gruppen Unruhe stiften, wobei einer stetigen Logik folgend durch Aufspaltung dieser Gruppen immer neue Rebellionen entstehen? Wie kann man Gespräche über die Aufrechterhaltung des Friedens erfolgreich gestalten und fest etablieren, wenn solche Gesprächsforen von einer Politik als Geiseln genommen werden, die nur nach dem schnellen Geld und kurzfristigem Erfolg schielt und dem Gesetz des Hier und Heute folgt? Wie kann man eine Entwicklungsstrategie aufstellen, wenn die Statistiken reine Phantasiegebilde sind und wenn sie die wahre wirtschaftliche Situation nicht erfassen? Wie soll man Pandemien wie Aids und Malaria eindämmen, nachdem die Gesundheitssysteme durch Kürzung der öffentlichen Ausgaben abgebaut worden sind und auf DDT verzichtet wurde, das Südeuropa von der Malaria befreit hat? Wie soll die Tendenz rückgängig gemacht werden, dass Jugendliche massenweise nicht mehr zur Schule gehen - was der Mobilisierung junger Kämpfer und der Koranschule den Boden bereitet -, die wirtschaftliche Modernisierung den Subkontinent im Schuldendienst ersticken lässt und allein schon die Idee der “guten Regierungsführung” und des Aufbaus eines Rechtsstaates völlig irreal erscheinen lässt?
Man könnte die Liste der Herausforderungen noch verlängern. Sie ist sehr lang und dramatisch. Europa sagt keinen Ton oder besänftigt. Es kann sich sicher ein gutes Gewissen erhalten, indem es darauf hinweist, dass es mehr, ja erheblich mehr tut als die Vereinigten Staaten und dass es nicht nur einen finanziellen Beitrag leistet, sondern auch einen Preis in Menschenleben riskiert, indem es Truppen ins Land schickt, wenn ihm das möglich erscheint.
In der Tat genügt häufig das Eingreifen von einigen Hundert seiner Soldaten, um die Kräfteverhältnisse vor Ort umzukehren - wie in Sierra Leone - oder einzufrieren - wie in Côte d’Ivoire - damit zunächst einmal das Schlimmste verhütet wird. Doch der Wiederaufbau eines Landes ist etwas anderes - wie es gerade diese beiden Fälle beweisen, ganz zu schweigen vom riesigen Kongo.
Es war einmal eine Hypermacht, die - nach ihrer Verwicklung im nationalen Befreiungskampf in Afghanistan, im Kuwait-Krieg und im Nahostkonflikt - nicht mehr wusste, wie sie ihren “Kundendienst” gewährleisten könnte. Das Reservoir an Frustration und Zorn, das daraus in dem Maße erwuchs, wie sich die Lage der Menschen unter der lässigen Aufsicht der Vereinigten Staaten verschlechterte, ist am 11. September 2001 plötzlich explodiert. Um dem entgegenzutreten, hat Washington die Flucht nach vorn ergriffen. Man ahnt, wohin diese neue, eigenartige Road Map im Verlaufe von zwanzig Jahren führen kann.
Gegenüber den afrikanischen Ländern südlich der Sahara legt Europa einen ähnlichen Leichtsinn an den Tag. Auch Europa vernachlässigt seine Pflicht, die Verantwortung zu übernehmen, die sich als Erbschuld aus dem “gestorbenen” Kolonialpakt und nach dem Fehlschlagen der Strukturanpassung ergibt. Im Gegensatz zu dem, was es von den mittel- und osteuropäischen Ländern verlangt hat - den Übergang sowohl zur Demokratie als auch zur Marktwirtschaft, wofür diesen, wenn auch in Unordnung und unter falschem Schein, ein ehrenwerter Ausweg angeboten wurde, nämlich die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO -, befürwortet es in den ehemaligen Kolonien eine neoliberale wirtschaftliche Revolution, indem es in der Praxis die Beibehaltung oder die Wiederherstellung autoritärer Regime hinnimmt und in den meisten Fällen die politischen Revolutionen blockiert, die allein die erfolgreiche Umgestaltung der Produktivkräfte ermöglichen würden.
Dadurch hat Europa Afrika zur allgemeinen Verbreitung der Militärrevolutionen in Form von Bürgerkriegen und der quasi- oder neukolonialen Einmischung von einigen Ländern südlich der Sahara verurteilt. Es hat ferner das Feld religiösen Revolutionen überlassen, die ihre wahren Ziele verschleiern, wobei Sekten oder charismatische Bewegungen häufig obskuren Charakters eine führende Rolle spielen. Das hat neben einer erschreckenden Verschlechterung der Lebensbedingungen und einem bestürzenden politischen Verfall eine nicht zu unterdrückende Emigration zur Folge. Die “Festung Europa” hat darauf keine andere Antwort als bürokratischen und polizeilichen Zwang.
Man braucht kein großer Prophet zu sein, um vorauszusagen, wohin uns diese naive Politik führt. Die gegenwärtige Situation erzeugt eine oder zwei Generationen von ungebildeten Verzweifelten, die gute Gründe haben, fanatisch zu werden. Sie erzeugt ferner wirtschaftlichen Stillstand, Gefahren für Gesundheit und Umwelt, vielleicht gar kurz- oder langfristig Gewaltausbrüche und die ballistische Bedrohung seitens Staaten, die sich zum Standort für Raketen mit einer Reichweite bis zum Alten Kontinent machen und bereit sind, sich an den Meistbietenden zu verkaufen. Schon heute sind die verheerenden Wirkungen von Aids, Tuberkulose und Malaria, die Zunahme der Kriminalität, die ungezügelte Abholzung von Wäldern, die wachsende Brutalität der Konflikte Anzeichen, die Europa beunruhigen und ihm klar machen sollten, dass es nicht ewig vor diesen Turbulenzen geschützt sein wird. Darüber hinaus werden die Entstehung einer schleichenden Apartheid an den Grenzen der EU und die unerbittlichen Einschränkungen der Freizügigkeit von Personen die öffentlichen Freiheiten der Europäer selbst gefährden.
Wenn Europa nicht große Unannehmlichkeiten haben will, muss es sich einen starken Ruck geben. Dazu braucht es jedoch eine gewisse Vorstellung von der Politik, der man folgen will. Die dringendste Aufgabe ist die Herbeiführung von Frieden. Die Krisen in Sierra Leone und in Côte d’Ivoire sowie die Episode der Opération Artémis in Bunia bestätigen, dass die europäischen Länder - oder genauer gesagt zwei von ihnen, Großbritannien und Frankreich, weil es den anderen an politischem Willen mangelt - die einzigen sind, die Frieden an Ort und Stelle wiederherstellen können. Die Vereinigten Staaten wollen sich nicht engagieren, sieht man von einigen Gesten und okkulten Operationen oder Finanzierungen ab, wie in den neunziger Jahren im Gebiet der Großen Seen und am Horn von Afrika oder heute in Liberia. Auch die Weitergabe der Aufgabe der Friedenserhaltung an afrikanische Staaten, die bei den Konflikten selbst Partei sind, hat ihre Grenzen, und die sind seit langem überschritten. Da Politik die Kunst des Möglichen ist, ist es an Großbritannien und Frankreich, sich an die Spitze der Interventionen zu stellen, wenn sich diese als unvermeidlich erweisen. Das sollte unter zwei Bedingungen geschehen: erstens, dass an diesen Operationen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens auch andere europäische und afrikanische Staaten beteiligt werden, und zweitens, dass sie im Auftrag des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen durchgeführt werden. Dann muss allerdings noch der Verknüpfungspunkt zwischen Militäraktionen der EU und solchen der NATO gefunden werden.
Gleichzeitig müsste die Europäische Union systematisch ihre Finanzhilfe an alle afrikanischen Staaten einstellen, die sich an einem Konflikt beteiligen, damit der Krieg für sie kostspieliger wird als der Frieden. Die Fälle Uganda, Angola, Burkina Faso oder Ruanda haben gezeigt, dass die Steuerzahler im Westen und in Japan nolens volens die Militärausgaben und die Aggressions- oder Ausrottungspolitik von skrupellosen Regimen finanziert haben. Dabei spielt es kaum eine Rolle, wer Recht und wer Unrecht hat. Allein schon die Teilnahme an einem Konflikt ohne Mandat der UN sollte ausreichen, um die europäischen Geldgeber zurückzuhalten. Diese haben bisher unter verschiedenen Vorwänden auf einen solchen Schritt verzichtet, doch die Idee scheint sich allmählich durchzusetzen.
Der Wiederaufbau eines Landes und die Konsolidierung des Friedens sind mühselige und langfristige Aufgaben. Das Beispiel Mosambik gibt zu einem gewissen Optimismus Anlass, auch wenn dort noch manches ungewiss und brüchig ist. Das Wichtigste ist vielleicht, die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen, wie es Agronomen bei Waldbränden befürwortet haben, und sich statt dessen darauf zu beschränken, sie zu begleiten. Die afrikanischen Gesellschaften legen eine Dynamik und Erfindungskraft an den Tag, die die Ministerien oder Organe, die für die Zusammenarbeit verantwortlich sind, aber auch die viel heiße Luft ausblasenden nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) zur Bescheidenheit anregen sollten. Das Wichtigste ist zweifellos, makropolitische und makromilitärische Voraussetzungen für den Wiederaufschwung zu schaffen, ohne zu versuchen, sich in den Entwicklungs- oder den humanitären Bereich zu stark einzumischen. Diese Distanzierung ist eine weitere Voraussetzung, damit die Rückkehr Europas in die Länder südlich der Sahara nicht auf die schändliche Wiederherstellung kolonialer Zustände hinausläuft, was ideologisch oder finanziell niemand auf sich zu nehmen bereit ist.
In Wirklichkeit ist die Schwierigkeit für die Europäer philosophischer und kultureller Art. Sie haben immer noch Mühe, in Afrika einen Kontinent wie jeden anderen zu sehen und “seine Banalität zu denken”, wie ich vor rund fünfzehn Jahren geschrieben habe. Für sie fällt Afrika entweder in die Kategorie der Barbarei, oder sie benutzen die heute so gängigen Formulierungen wie “Entwicklung”, “Kampf gegen die Armut”, “humanitäre Dringlichkeit”. Dadurch hindern sie Afrika politisch eigenständig zu denken und seine eigene Politik zu formulieren. Damit kein Missverständnis aufkommt: Es geht nicht darum, in den alten Kategorien der Dritten Welt oder der Revolution zu denken. Ich bin nicht einmal sicher, dass wir “Afrika brauchen”, wie es sympathischerweise einige meiner Freunde geschrieben haben. Ganz sicher aber brauchen wir kein Afrika der Krankheit, des Krieges, des Zornes, sei es auch nur aus offensichtlichen Gründen der geographischen Nähe. Daher muss man - und müssen wir gegenüber uns selbst - die Sprache der relativen Wahrheit benutzen, so wie wir es mit Mittel- und Osteuropa getan haben: eine doppelte Revolution predigen, nämlich eine wirtschaftliche und eine demokratische, und als Gegenleistung dafür ein Ankoppeln an die Europäische Union zu konkreten Bedingungen bieten, die noch festzulegen sind. Und zwar ohne möglichen Ausweg, sei er finanzieller, bank- oder klüngelwirtschaftlicher Art. Das Engagement der Europäischen Union bei Operationen zur Erhaltung des Friedens hat nur dann Sinn, wenn es sich auch auf diesen allgemeineren Plan bezieht.
Die Verwandtschaft zu unterstreichen, die die Europäer, aber auch die Einwohner der Neuen Welt mit den Afrikanern verbindet, ist schlimmstenfalls Schaumschlägerei und bestenfalls eine Provokation. Und dennoch ist der Austausch zwischen diesen historischen Räumen viel wichtiger, als es der obligatorische Diskurs über das Erbe der Kolonisation oder des Sklavenhandels und über die spätere Reue oder Ressentiments erkennen lässt. Was pompös die “Großen Entdeckungen” genannt wird, hat komplexe Prozesse in Gang gebracht, die jahrhundertelang einen gemeinsamen ozeanischen Raum gestaltet haben, in dem wir weiterhin leben, ohne dass wir uns immer seiner tiefgreifenden Einheit bewusst sind.
Näher bei uns hat sich die koloniale Erfahrung in der Modernität der Metropolen niedergeschlagen, und die Länder Afrikas südlich der Sahara waren - wie Indien, die Länder des Maghreb, die südostasiatische Inselwelt oder Indochina - ein Experimentierfeld der bürokratischen, urbanistischen, erzieherischen, künstlerischen oder pastoralen Innovationen, die in den europäischen Gesellschaften ihren Niederschlag gefunden haben. Was wären heute die Malerei, die Bildhauerkunst, das Pfadfinderwesen, die christlichen Kirchen, die Organisation der Stadt, die Idee der Nation, der Begriff des Heldentums und noch viele andere gesellschaftliche Phänomene ohne diese imperiale Interaktion auf beiden Seiten des Meeres und der Wüste? Ein besseres Bewusstsein unserer gemeinsamen Geschichte ist die Voraussetzung für die politische Annahme neuer Formen der Solidarität zwischen Afrika und Europa.
aus: der überblick 01/2004, Seite 102
AUTOR(EN):
Jean-François Leguil-Bayart:
Dr. Jean-François Leguil-Bayart war 1994 bis 2000 Direktor des internationalen Forschungsinstituts CERI in Paris und Leiter der Zeitschrift "Critique Internationale" von 1998 bis 2003. Seit 2002 ist er Gouverneur der "Europäischen Kulturstiftung" in Amsterdam und seit 2003 Präsident der transnationalen Forschungsgruppe "Fonds d'Analyse des Sociétés Politiques" (FASOPO). Er berät das französische Außenministerium und hält Vorlesungen am Pariser "Institut d'Etudes Politiques". Sein Schwerpunkt sind vergleichende politische Studien insbesondere zu Afrika.