Lehren aus der Intervention im Kosovo
Der Kosovo-Konflikt war in Hinsicht auf das Konzept der humanitären
Intervention eine Zäsur. Darüber herrscht weitgehende Einigkeit.
Umstritten ist dagegen, welche Lehren und Konsequenzen daraus für das
System der internationalen Friedenssicherung zu ziehen sind.
War das
Eingreifen der NATO der Anfang vom Ende des UN-Monopols, internationale
Zwangsmaßnahmen zur Friedenssicherung zu mandatieren? Wenn ja, müssen dann
nicht zügig alternative Sicherheitsstrukturen ausgebaut werden?
von Cord Meier-Klodt
Allzu schnell derartige Schlüsse zu ziehen, könnte eine Lawine mit erheblichem Schadenspotenzial lostreten. Wer die Kosovo-Erfahrung zu einem Präzedenzfall für ein vermeintlich neues Muster der humanitären Intervention hochstilisiert, trägt dazu bei, die ohnehin geschwächte Rolle der Vereinten Nationen weiter zu unterminieren. Wer das aber nicht will, sollte sich gegenüber Forderungen nach neuen Handlungsmechanismen zurückhaltend zeigen. Ich möchte erläutern, warum.
Stimmt eigentlich, was oft so oder ähnlich zu hören ist, dass nämlich das militärische Vorgehen des Westens im Kosovo-Konflikt den bislang bestehenden Konsens über die rechtliche und politische Basis der Einmischung in innerstaatliche Konflikte in Frage gestellt hat? Mir scheint dies eine falsche Logik. Der Kosovo-Konflikt hat vielmehr mit großer Klarheit gezeigt, dass es eine wachsende Übereinstimmung darüber gibt, dass Rechten von Staaten, besonders den Prinzipien der Souveränität und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Rechte von Menschen gleichwertig gegenüberstehen. Die internationale Gemeinschaft betrachtet Staaten-und Menschenrechte zunehmend als neben-und nicht einander über bzw. untergeordnet. So gesehen, hat der Kosovo-Konflikt nicht einen bestehenden Konsens außer Kraft gesetzt, sondern vielmehr einen sich abzeichnenden neuen vor Augen geführt. Das Problem ist nur, dass dieser, wie vor einem Jahr geschehen, in einen Interessen-, oder, besser gesagt, Rechtekonflikt führen kann, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Man nennt so etwas gewöhnlich ein Dilemma. Wie soll man damit umgehen?
Besonders politische Analysten mögen Dilemmata in der Regel nicht unbeantwortet stehen lassen. Es fällt ihnen schwer, den Ausnahmecharakter der Entscheidungsfindung im Kosovo-Konflikt (manche würden sagen: den Ad-hoc-Charakter) zu akzeptieren. Sie fordern verlässliche Kriterien für ein eventuelles Handeln in einem ähnlich gelagerten Fall der Zukunft. Daraus folgt dann der Ruf nach Einführung neuer Regeln und Verfahrensweisen, die als objektive Grundlage herangezogen werden können, wenn zu entscheiden ist, wann eine humanitäre Intervention notwendig wird, wann eine humanitäre Intervention mit militärischen Mitteln gerechtfertigt ist und wann militärische Intervention gerechtfertigt ist, obwohl sich das einzige dazu voll befugte Organ der internationalen Gemeinschaft, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, darauf nicht verständigen konnte.
Zwei Arten von Gründen sind gegen dieses Herangehen ins Feld zu führen, die erste konkret-inhaltlicher, die zweite grundsätzlich-politischer Natur. Auf die folgenden konkreten Fragen werden sich wohl kaum zufrieden stellende, formalisierte Antworten finden lassen. Welches Ausmaß müssen Menschenrechtsverletzungen annehmen, um eine humanitäre Intervention auszulösen (Aktions-Schwelle)? Wie geht man mit Fällen um, in denen unklar ist, ob die Regierung des betreffenden Staates tatsächlich der Urheber der Menschenrechtsverletzungen ist? Wie behandelt man Fälle, in denen diese Regierung schlicht nicht in der Lage ist, die Situation auf dem eigenen Territorium unter Kontrolle zu halten? Wann dürfen alle nicht-militärischen Handlungsoptionen der internationalen Diplomatie (von präventiver Diplomatie bis zu Wirtschaftssanktionen) als erschöpft angesehen werden (militärische Schwelle)? Wie sind Ziel und Ausmaß militärischer Maßnahmen zu bestimmen? Welche "Kollateralschäden" sind hinnehmbar? Wann sind alle Bemühungen der zuständigen UN-Organe (insbesondere des Sicherheitsrates) als erschöpft anzusehen? Dies sind nur einige der sehr schwierigen Fragen. Es gibt, da bin ich sicher, noch viel mehr.
Noch problematischer sind indes die politischen Implikationen dieses Ansatzes. Denn selbst wenn es einer Gruppe Gleichgesinnter (seien es Staaten oder andere Akteure) gelänge, diese Fragen zu ihrer eigenen Zufriedenheit zu beantworten, wäre es doch sehr zweifelhaft, ob ihre Lösungen je auf breite Unterstützung der internationalen Gemeinschaft rechnen könnten. Es würde vermutlich zu jedem einzelnen Punkt dieser Kriterienliste Dissens geben, neue Kontroversen würden entstehen, alte (wie etwa die Diskussion um einige zentrale Aspekte der "Agenda für den Frieden" des damaligen UN-Generalsekretärs Boutros-Ghali von 1992) wieder aufleben.
Ein Einwand liegt auf der Hand: Warum die Flinte schon vor dem ersten Schuss ins Korn werfen? Ganz einfach: Weil bereits das Bemühen um eine Formalisierung von Kriterien für eine neue Praxis der humanitären Intervention die politische Aufmerksamkeit vom UN-System weg-und auf ein System alternativer Sicherheitsstrukturen hinlenken und damit die Rolle der Vereinten Nationen weiter schwächen würde. Die deutsche Regierung hält diesen Ansatz für problematisch. Bundesaußenminister Fischer hat dies sowohl in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im letzten Jahr als auch im März diesen Jahres bei der Menschenrechtskommission in Genf in aller Deutlichkeit unterstrichen.
Ist das nun ein Appell für "business as usual" trotz Kosovo? Natürlich nicht! Vielmehr ein Appell dafür, dass die Vereinten Nationen der geeignete Rahmen sind, um Fragen der humanitären Intervention voranzubringen – ein Rahmen, der allerdings überholungsbedürftig ist. Gerade der Konflikt im Kosovo hat die Notwendigkeit einer Reform des UN-Sicherheitsrates mit ganz neuer Dringlichkeit vor Augen geführt – und zwar zu einer Zeit, wo das Interesse an einer solchen Reform angesichts langjähriger schwieriger und weitgehend ergebnisloser Verhandlungen zu schwinden begann. Kosovo hat gezeigt, dass die Probleme, die auf der eigentlich zuständigen Ebene ungelöst belassen werden, auf einer anderen, eher weniger geeigneten Ebene wieder aufbrechen. Leichter lösbar werden sie dadurch nicht – ganz im Gegenteil. Dieser simple Zusammenhang muss endlich stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Wenn nämlich eine große Mehrheit von UN-Mitgliedern erkennt, dass man dem Problem – so oder so – nicht ausweichen kann, hätte eine Reform des Sicherheitsrats vielleicht wieder bessere Chancen.
Die Haltung der Bundesregierung zur Sicherheitsratsreform bleibt in den Eckdaten unverändert: Der Sicherheitsrat muss repräsentativer zusammengesetzt werden, eine Erweiterung muss sowohl ständige wie nicht-ständige Mitglieder umfassen, und seine Arbeitsmethoden müssen verbessert und transparenter gemacht werden. Allerdings ist von allen Seiten mehr Flexibilität gefordert, wenn stark umstrittene Punkte aus der Sackgasse geführt werden sollen. Mit diesem Ziel vor Augen hat Außenminister Fischer in New York vorgeschlagen, zum Veto eine Begründungspflicht gegenüber der Generalversammlung einzuführen. Auch die USA scheinen Bereitschaft zu zeigen, die Dinge in einem anderen Bereich wieder in Bewegung zu bringen. Der amerikanische UN-Botschafter Richard Holbrooke hat Anfang April eine gewisse Flexibilität in der Frage der zahlenmäßigen Obergrenze eines erweiterten Sicherheitsrat durchblicken lassen – bislang hatte man strikt auf maximal 20 oder 21 Mitgliedern beharrt. Es ist noch zu früh für verlässliche Prognosen darüber, wie aussichtsreich diese Ansätze sind. Doch: Wer die Vereinten Nationen stark halten will, muss dieses Eisen schmieden, sobald es wieder heiß wird, beziehungsweise aktiv dazu beitragen, dass es heiß wird.
Auch nichtstaatliche Akteure können dabei eine Rolle spielen. Mich hat stets ein wenig verwundert, dass namhafte Vertreter der "Zivilgesellschaft" in Deutschland, besonders NGOs, bei all ihrer grundsätzlichen UN-Freundlichkeit das Bemühen der Bundesregierung um eine Reform des Sicherheitsrats eher halbherzig bis kritisch verfolgt haben. Ich will hier nicht auf Einzelaspekte eingehen – mir ist natürlich bewusst, dass sich diese Kritik oft vor allem auf die Frage eines ständigen deutschen Sitzes im Sicherheitsrat bezog –, mich interessieren die politischen Folgen dieser Haltung.
Ein Resultat der fehlenden Kräftebündelung für die Reform der Vereinten Nationen ist nämlich die angesprochene Verlagerung der Diskussion auf die Herausbildung alternativer Sicherheitsstrukturen. Wer das aber nicht will, den müsste doch der "gemeinsame Feind" einen können. Regierung und Zivilgesellschaft, kurzum alle, denen es um die Stärkung der UNO als solcher geht, sollten nichts unversucht lassen, um in dieser Sache an einem Strang zu ziehen. Der Bann von Antipersonenminen und die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes haben der Welt gezeigt, was möglich ist, wenn progressive Regierungen und NGOs in die gleiche Richtung marschieren. Die Reform der Vereinten Nationen, besonders die des Sicherheitsrats, ist ein Ziel, das den Einsatz nicht minder lohnt – nicht um nationaler Interessen willen, sondern zum Wohle der Weltgemeinschaft.
aus: der überblick 02/2000, Seite 94
AUTOR(EN):
Cord Meier-Klodt:
Cord Meier-Klodt ist stellvertretender Leiter des Arbeitsstabs Globale Fragen in der Abteilung Vereinte Nationen im Auswärtigen Amt. Zuvor war er drei Jahre als politischer Referent an der deutschen UN-Vertretung in New York tätig. Sein Beitrag basiert auf einem Kurzvortrag auf einem Workshop der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stiftung Wissenschaft und Politik Anfang April in Ebenhausen. Er gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.