In der Frauenhaftanstalt von Niantic in den USA versuchen Langzeitgefangene sich einzurichten
Die zweifache Mörderin Delia Robinson hat in den vergangenen dreißig Jahren mehrfach im Frauengefängnis von Niantic eingesessen. In den sechziger und siebziger Jahren war diese Anstalt vom Geist der Rehabilitation erfüllt. Doch seit Mitte der achtziger Jahre hat sich die Zahl der Insassen vermehrfacht, und die Sicherheitsvorkehrungen sind verschärft worden - das war vor allem eine Folge der Drogenpolitik in den USA.
von Andi Rierden
An einem regnerischen Sommermorgen liegt Delia Robinson in ihrem kleinen Zimmer in Fenwick South. Sie umklammert ihre Bibel und beobachtet an der Wand den bläulichen Widerschein des Fernsehers. Die neunundfünfzigjährige Matrone zittert im eisigen Griff eines Fieberanfalls. Sie richtet den Blick auf ein Christusbild über ihrem Fernseher und flüstert immer wieder: "Lieber Jesus, nimm mich noch nicht, jetzt nicht!" Der Wecker auf ihrem Kleiderschrank zeigt Viertel nach Zwei. Sie kneift ihre Augen zusammen und betet innig.
Im Ganzen hat sie zwölf Jahre in diesem Gefängnis verbracht, und je mehr sie darüber nachdenkt, dass sie womöglich hier sterben wird, desto intensiver werden ihre Empfindungen. Gewiss hat sie hier gute, ehrliche Freundinnen gewonnen - sie nennt sie ihre Töchter und Schwestern -, aber hier wird nie ihr Zuhause sein. Zuhause ist vielleicht New Haven oder New London oder Granite Quarry in North Carolina, aber niemals Niantic, der Ort, den die Gefangenen und das Wachpersonal meistens als "die Farm" bezeichnen, weil es ursprünglich einmal eine von Strafgefangengenen betriebene Farm war.
Durch den Nebel ihres Fiebers hört Delia, wie die Tür zu ihrem Gebäudetrakt aufgeht. Sie vernimmt das vertraute Klimpern des Schlüsselbunds am Hosenbein der Wärterin, die ihre Runden macht. Das gleichmäßige Bellen ihres Funksprechgeräts durchbricht die Stille des frühen Morgens. Als Gefangene nimmt Delia solche Störungen hin. "Hier ist schließlich ein Gefängnis und kein Hotel", bekommen die Frauen, die sich beschweren, oft von den Wärtern und Wärterinnen zu hören. "Hättest du nicht das Verbrechen begangen, wärest du hier auch nicht gefangen", reimen diese dann dazu. Delia fällt es schwer, Mitgefangene zu akzeptieren, die sich ständig beklagen. Ihrer Meinung nach machen sie damit allen anderen alles noch schwerer.
Besonders verachtet sie die Störenfriede, die in den anderen Häusern kurze Zeitstrafen absitzen. Das sind die Leute, die durch die Gefängnistore hinein und hinaus schlüpfen, als wären es Drehtüren. Sie kommen von der Straße und sehen aus wie Zombies, spindeldürr und vollgepumpt mit Crack, Kokain oder synthetischen Drogen. "Man erkennt sie an den Abszessen auf ihrer Haut, die sie kriegen, wenn sie verunreinigten Stoff fixen", sagt Delia.
Binnen kurzer Zeit setzen diese Gefangenen dank der stärkehaltigen Gefängniskost und des Junk Foods, das sie aus dem Laden bestellen, Fett an; sie schmuggeln Drogen herein und schlafen mit Frauen, obwohl sie wahrscheinlich draußen einen Freund oder Ehemann haben. Wenn sie entlassen werden, landen sie wieder auf der Straße, werden erneut festgenommen und kommen zurück auf die Farm. Wenn sie sich eingerichtet haben, tun sie sich wieder mit ihren alten Flammen zusammen und relaxen. "Diese Leute machen mich krank", sagt Delia immer, "die sind nichts weiter als ein Haufen Schnorrerinnen."
Delia ist das erste Mal Ende der sechziger Jahre auf die Farm gekommen, unter Anklage wegen Totschlags. Das Opfer war eine Frau, die ein Kind mit Delias Bruder hatte. Delia und diese Frau hatten eines Abends zusammengesessen, hatten getrunken, Karten gespielt und sich gestritten. "Sie war eine Prostituierte und hat ständig mit allen Streit angefangen", betont Delia. Der Streit war eskaliert und in ihrer Wut hatte Delia die Frau erstochen. Sie hatte schon früher wegen tätlichen Angriffen vor Gericht gestanden, aber nie wegen etwas so Schwerwiegendem.
Sie war halb außer sich, als sie auf die Farm kam. Man steckte sie in die psychiatrische Abteilung, sie bekam Beruhigungsmittel und wurde therapiert. Dann wurde Delia zum Arbeiten in die Küche geschickt, sie wusch Geschirr und gab Essen aus. Wie immer wirkte die Arbeit auf sie wie ein Lebenselixier. Sie hasste Faulheit. Nach einem Monat wurde sie wegen der Schwere ihrer Tat in der Thompson Hall einquartiert. Dort schrubbte sie die Böden, putzte die Fenster und Wände und tat alles, um sich abzulenken und neues Selbstwertgefühl zu gewinnen.
Als in den frühen siebziger Jahren die Black Panther nach Niantic gesteckt wurden, angeklagt wegen Mordes und Erpressung, taten sich einige Gefangene zusammen, um sie zu verteidigen und drohten mit einem Sitzstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Aber Delia wollte mit Gefängnispolitik nichts zu tun haben. "Ich konnte nie begreifen, warum jemand es darauf anlegt, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Ich war da, um meine Zeit abzusitzen und sonst nichts."
Damals gab es auf der Farm etwa hundert Frauen. Die meisten Gebäude, aus denen das Gefängnis bestand, waren unverschlossen und die Gefangenen konnten sich ohne viel Überwachung auf dem Gelände bewegen. Nachdem Delia zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, wurde sie in ein anderes Gebäude, in die Trumbulls, verlegt. Dort traf sie Bobbie Moore - acht Jahre jünger als sie und das direkte Gegenteil von ihr selbst. Bobbies trockener Humor und ihre unglaublichen Geschichten vom Leben auf Hartfords Straßen amüsierten Delia königlich. Schon bald wurden die beiden Frauen gute Freundinnen.
Da sie auch eine Südstaatlerin war, bewunderte Delia an Bobbie die Pfiffigkeit der Hinterwäldlerin, besonders ihre Geschicklichkeit beim Fischen. Sobald das Wetter wärmer wurde, bastelten sich die Frauen aus Bambusrohr und Schnüren Angeln und suchten am Seeufer des Bride Lake nach den besten Angelplätzen. Bobbie watete dann in den See, bis das Wasser ihr bis zur Taille reichte. Sie stopfte Hechte, Barsche und was sie sonst noch fing in ihre Unterwäsche und kam mit reicher Beute an Land. Die Frauen schleppten ihren Fang in die kleine Küche von Fenwick Cottage. Auf einem großen Gasherd briet Delia die Fische im Schmalzteig schön knusprig, kochte ein Paar Suppenknochen aus, röstete Maiskolben, buk Obsttörtchen und servierte sie den Gefangenen und dem Personal an Klapptischen mit Blick auf den See.
Delia kam 1977 unter Anklage wegen Körperverletzung zurück nach Niantic und machte weiter, wo sie aufgehört hatte. Sie bekam ihren alten Job in der Genesungsstation zurück, wo sie als Köchin gearbeitet hatte, und bereitete wieder Gerichte für Gefangene und Personal zu. Wenig hatte sich geändert.
Aber als Delia 1985 erneut hierher kam, sah alles ganz anders aus. Die Zahl der Insassinnen hatte sich versiebenfacht, und die meisten der neuen Gefangenen waren drogensüchtig. Die Sicherheitsmaßnahmen waren schärfer. Die Türen der einzelnen Gebäude waren rund um die Uhr verschlossen, Häftlinge durften nicht mehr fischen gehen. Schwimmen durfte man nur unter strikter Bewachung.
Das Gefängnis hatte mittlerweile das Farmprojekt gänzlich auslaufen lassen. Die hohen Kosten und eine Umorientierung auf zeitgemäßere Konzepte von Rehabilitation hatten zu seinem Ende geführt. Der Wegfall der Farmarbeit als Rehabilitationsmaßnahme förderte die Trägheit unter den Insassinnen. In allen Gebäuden des Gefängnisses schlugen die Frauen die Zeit nun tot, indem sie sich vor den Fernseher setzten. Oder sie verkrochen sich in ihre Zimmer, um über ihre trostlose Lage zu grübeln.
Andere begannen mit Kokain, Heroin und Marihuana zu handeln, das sie über den Besucherraum oder mit Hilfe von Mitgefangenen, die vom Hafturlaub zurück kamen, einschmuggelten. Der Drogenhandel führte zu sporadischen Razzien - angeführt von einer Gruppe von Wachleuten, die von den Gefangenen als die Schlägertruppe bezeichnet wurden. Sogar Zimmerpflanzen wurden konfisziert, nachdem das Wachpersonal herausbekommen hatte, dass die Blumentopferde ein ideales Drogenversteck war. Delia, die es liebte, ihr Zimmer mit Ablegern von Buntnesseln und Efeu zu schmücken, wurde eines Tages angewiesen, ihre Pflanzen nach draußen oder in den Hinterhof zu bringen.
Trotz all dieser Spinnerei, wie sie es nennt, hat Delia das Gefühl, vom Glück begünstigt zu sein. Die letzten sieben Jahre hat sie in Fenwick Süd gewohnt, dem heimeligsten und friedlichsten von allen Häusern in Niantic. Die meisten der Frauen auf ihrem Stockwerk sitzen wegen Mord, Totschlag, Raubüberfall oder Körperverletzung ein. Da es der Trakt für langjährige Strafen ist, schmücken ihn die Frauen wie ein Zuhause - mit Zierpflanzen vor der Eingangstür und auf der vergitterten Terrasse und Spitzengardinen an vielen Fenstern. Die Privat- sphäre wird hier respektiert. Es ist der Trakt, den die Wärterin Dunn für einen Besuch auswählt, wenn sie Regierungsbeamte durch das Gefängnis führt, denn da ist es fast immer blitzsauber.
Auf einem Stück Grasland mit Blick auf den Bride Lake gelegen, macht Fenwick einen stattlichen Eindruck, zumindest von außen. Innen ist das Gebäude aufgeteilt wie zwei sehr große Doppelhaushälften. Wobei die nördliche und die südliche Hälfte grundverschieden sind - sowohl was das Aussehen als auch was die Klientel angeht. Fenwick Süd hat wegen seines friedlichen Wesens schon vor langer Zeit den Spitznamen "verschlafenes Tal" bekommen. Im Gegensatz zu den Insassinnen auf der Nordseite sind die Frauen, die hierher geschickt werden, im allgemeinen viel älter und haben bei ihrer Verhaftung ein von Familie und Verantwortung geprägtes Leben hinter sich. Wayne Keck, ein Sozialarbeiter in Fenwick Süd, hält die Frauen, für die er zuständig ist, für untypisch im Vergleich zu den übrigen. "Das sind nicht die, die Probleme machen", sagt der frühere Militärgeistliche, während er in seinem Büro am Vordereingang des Hauses sitzt. "Das sind Leute, für die aufgrund des Charakters ihrer Verbrechen der Schmerz ein ständiger Begleiter ist. Viele dieser Frauen empfinden noch etwas für die Menschen, die sie umgebracht haben."
Keck nennt sich selbst Major Dad, ein Titel, den manche Frauen als Beleidigung empfinden. Doch er und Delia haben tiefen Respekt voreinander. Manchmal, wenn im Haus ein Problem auftritt, das Zwietracht heraufbeschwören könnte, spricht er zuerst mit Delia, um sich ein klares Bild der Lage zu verschaffen, bevor er entscheidet, was zu tun ist. Sie ist keineswegs eine Petze, sondern sie hat ein klares Bild von ihrer Umgebung und ist immer in der Lage, eine Portion gesunden Menschenverstand ins Spiel zu bringen. Delia ihrerseits vertraut fest auf Kecks Fähigkeiten, und dafür ist er dankbar. "Das Schwierigste für einen männlichen Sozialarbeiter in einem Frauengefängnis ist, das Vertrauen der Insassinnen zu gewinnen", sagt Keck. "Viele von diesen Frauen sind vergewaltigt worden, und wenn man auf sie zugeht, reagieren sie komisch. Die größte Anforderung ist für mich, sie zu überzeugen, dass nicht alle Männer gleich sind."
Viele der Frauen in Fenwick Süd arbeiten hart, um ihren Familien draußen Geld schicken zu können. Sie haben Jobs als Lochkartenstanzerinnen, im Gefängnisladen, oder sie helfen den Lehrern bei der Arbeit in der Gefängnisschule. Wer schon alles ausgeschöpft hat, was das Bildungsprogramm des Gefängnisses zu bieten hat, kann als letzte Möglichkeit Fernlehrgänge belegen in so verschiedenen Berufsfeldern wie Anwaltsgehilfin und Tierärztin. Die Motiviertesten unter den Frauen sammeln die Zertifikate und Diplome wie Bildchen von Baseballspielern.
Als eine der ältesten und angesehensten unter den Gefangenen mit langen Haftstrafen hat sich Delia im Gefängnis eine große und weit verzweigte Familie aufgebaut; sie besteht aus "Töchtern" und "Enkelinnen", aus "Schwestern" und "Tanten". Ihr Zuhause, eines von zwei Einzelzimmern im "verschlafenen Tal", strahlt Gastlichkeit aus. Es ist blassblau getüncht und etwa 2,10 mal 3,60 Meter groß, mit einem Fenster am Kopfende, neben dem Fernseher. Eine rote Zeder vor dem Fenster schützt vor der Sonne, so dass das Zimmer das kühlste im ganzen Gebäude ist. Auf ihrem Kleiderschrank sitzen bunte Stofftiere, die eine ehemalige Insassin und eine ihrer adoptierten Töchter, die an Aids gestorben ist, ihr gehäkelt haben. Delias Lieblingstier ist ein himmelblauer Papagei in einem Käfig, der an der Decke hängt. Sie nennt ihn Mr.Tweetie Bird. Mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks nimmt sie den Vogel und den Käfig einmal im Monat herunter, wäscht sie in einem großen Becken in der Pförtnerloge auf der gegenüber liegenden Seite des Eingangsbereichs und beseitigt alle Gerüche und Flecken von Zigarettenrauch.
Mindestens zweimal in der Woche schrubbt sie den Linoleumboden ihres Zimmers, bis er glänzt. Sie benutzt einen kniehohen Tisch als Toilettentisch und als Sitzgelegenheit für Besucher. Am Rand des Tisches stapelt sie ihre Gospel- Tonbänder in alphabetischer Reihenfolge: Shirley Caesar, James Cleveland, The Mississippi Mass Choir. Über einer Dose mit Zimtkugeln und Pralinen für ihre Besucher hängen ihre Lieblingsfotos an der Wand, darunter eines von einem bemerkenswert gut aussehenden schwarzen Prediger und Schnappschüsse von ihren Patenkindern.
Briefe von Verwandten und ehemaligen Mitgefangenen bündelt Delia in einer Ecke der Frisierkommode. Etwa zweimal in der Woche erhält sie Besuch von draußen. Am Morgen vor einem Besuchstermin bittet sie immer eine ihrer "Töchter" in ihr Zimmer, damit sie ihr Haar frisiert und ihre Fingernägel lackiert; auch die Fußnägel, falls sie Sandalen tragen will.
Mit einer Größe von einem Meter siebzig und mehr als neunzig Kilo Gewicht ist Delia schwer zu übersehen. Ihr Leibesumfang treibt ihren Blutdruck in die Höhe und verschlimmert ihre Zellulitis. Es fällt ihr schwer, sich zu bücken, und oft braucht sie einen Stock zum Gehen. Ihre Gesundheits-probleme werden dadurch verschlimmert, dass sie seit Jahrzehnten Zigaretten raucht, eine Angewohnheit, derer sie sich schämt. Oft verzieht sie das Gesicht, wenn sie an einer halbgerauchten Kippe zieht, drückt die Zigarette aus und faucht: "Ich hasse diese blöden kleinen Dinger."
Eine von Delias loyalsten Töchtern, Katie Molina, wohnt am Ende des Flurs. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehrmals am Tag nach ihrer "Ma" zu sehen. Katie ist zu 35 Jahren Haft verurteilt, weil sie ihren Mann mit einer Armbrust erschossen hat. Ruhelos und arbeitsam wie sie ist, lebt sie ihre Fürsorglichkeit und ihre Leidenschaft für Hexerei und Naturmedizin aus, indem sie als Delias persönliche Krankenschwester auftritt. Manchmal findet Delia, wenn sie am Morgen aufwacht, einen Zettel mit einer Notiz und einem Smily- Gesicht auf ihrem Tisch, vielleicht auch ein paar Blumen und Kräuter aus dem Garten, den Katie und ihre Freundin Lori im Frühling hinter Fenwick angelegt haben. Katie schimpft oft mit ihrer Ma, weil sie zuviel ungesundes Zeug aus dem Gefängnisladen isst. Das Anstaltspersonal und die anderen Gefangenen äußern des öfteren Zweifel an Katies Charakter, aber Delia braucht Hilfe, und sie sieht geflissentlich über die Schwächen ihrer Mitmenschen hinweg, wenn sie ein wenig Güte an den Tag legen.
Schüttelfrost und Fieber sind Delia in die Knochen gefahren, und Hitze- und Kältewellen durchfluten an diesem regnerischen Morgen ihren Körper. Mühevoll greift Delia nach unten, nimmt ihren Stock und klopft gegen die Wand, um die Aufmerksamkeit von Bonnie Foreshaw zu erregen, ihrer ältesten Freundin im Haus. Bonnie, eine Jamaikanerin, ist eine auffällige Erscheinung, groß gewachsen, mit langen Rasta-Locken, die bis zur Taille reichen. Bonnie sitzt die längste Strafe im ganzen Gefängnis ab - 45 Jahre für den Mord an einer Schwangeren. Sie hat einen Rechtsanwalt eingeschaltet, um ein Revisionsverfahren zu beantragen in der Hoffnung, dass das Urteil auf Totschlag gemildert wird. In Sekundenschnelle zieht sie den Bademantel über ihr Nachthemd und stürzt in Delias Zimmer. "Mein Gott, Miss D., was ist los mit Ihnen?" Sie nimmt eine Wolldecke vom Fußende des Bettes und legt sie ihrer Freundin sorgsam um die Schulter.
In der Zwischenzeit sind andere Bewohnerinnen zu Delias Tür geströmt, unter ihnen auch Marie Rossignol. Maries Geschichte in der Farm ist legendär. In den sechziger Jahren saß sie eine Strafe wegen Prostitution ab. Dann war sie drogensüchtig, und später musste sie ihren zehnjährigen Sohn einer Pflegefamilie überlassen. Nach all dem kennt sie wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst die Abgründe der Gefangenschaft. Mit einer Decke über der Schulter kommt sie den Flur hinuntergehumpelt, auf einen Krückstock gestützt. Sie wirft einen Blick auf ihre langjährige Freundin und schreit zum Büro der Wachhabenden herüber: "Wenn sie nicht schnell jemand ins Krankenhaus bringt, gibt es hier gleich eine Meuterei!"
Delia verbringt zehn Tage im Lawrence & Memorial Krankenhaus in New London. Dutzende von Blumensträußen werden abgeliefert. Sie freundet sich mit den Krankenschwestern an und mit der redseligen weißen Dame im Bett nebenan. Aber sie hütet sich, jemandem zu erzählen, wo sie wohnt - etwas, das Gefängnisinsassen schnell zu vertuschen lernen.
Der Aufenthalt im Krankenhaus gibt ihr Zeit, nachzudenken und eine wachsende Unruhe zu besänftigen. In einigen Wochen soll sie vor dem Bewährungsausschuss erscheinen, das erste Mal seit sieben Jahren. Und das bedeutet, sich mit der einzigen klaffenden Wunde zu befassen, die in ihrem Leben niemals heilen wird: Die Erinnerung, wie sie ihren einundzwanzigjährigen Sohn, ihr einziges Kind, erstochen hat. Oft wünscht sie, das sei nur ein Traum, aus dem sie einfach erwachen könnte. Er hatte sie und ihren Lebensgefährten jahrelang miss-handelt. Aber trotzdem, wenn doch nur... Gewiss wird der Bewährungsausschuss in ihrer Erinnerung graben wie in einer Ruine voller Geister. Delia hat diese Ängste wochenlang mit sich herumgetragen, bis sie sie zum Zusammenbruch und in ein Krankenhausbett gebracht haben, wo ununterbrochen und mit voller Lautstärke Seifenopern laufen und die weiße Frau neben ihr pausenlos über ihre Enkel redet.
Sobald ihr Fieber zurückgeht und ihr Blutdruck wieder stabil ist, kehrt Delia zu ihrer Familie ins "verschlafene Tal" zurück. Zwei ihrer Töchter haben ihr Zimmer mit Luftschlangen und Gute-Besserung-Karten dekoriert, und Katie und Lori haben ein großes Schild an ihre Tür gehängt: "Willkommen zuhause Miss D."
aus: der überblick 01/2000, Seite 49
AUTOR(EN):
Andi Rierden:
Andi Rierden ist Dozentin für Journalistik an der Fairfield University und schreibt regelmäßig für die Sunday New York Times. Wir entnehmen diesen Beitrag leicht gekürzt dem ersten Kapitel von Rierdens Buch "The Farm: Life Inside a Women's Prison."