Es gibt kaum eine Krankheit, die zu so starken Missbildungen führen kann wie die Lepra.
Im Mittelalter sprach man vom “Löwengesicht” - Furcht und Ablehnung gegenüber den Kranken waren die Folge. Professor Dr. Klaus Fleischer ist ehemaliger Chefarzt der Tropenmedizinischen Abteilung der Missionsärztlichen Klinik in Würzburg und Mitglied des Vorstands der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW). Er nimmt die Illusion, dass sich das Image der Krankheit durch neue Behandlungsmethoden grundlegend geändert habe. Leprakranke werden auch heute noch stigmatisiert, obwohl die Heilungschancen sehr gut sind.
Die Fragen stellte Renate Vacker
Ist Lepra die Krankheit, die unserem Ideal von Schönheit am stärksten entgegen gesetzt ist?
Lepra zerstört das schönste Individuelle, das wir haben: unser Gesicht. Sie zerstört die Nase, die Augen, die Augenbrauen und entmenschlicht uns daher. Sie zerstört die Haut, unsere wunderschöne Hülle, die wir haben, um anderen zu gefallen und unsere Individualität, durch die wir wiedererkannt werden.
Diese Spuren der Lepra im Gesicht, an den Augen oder an den Händen kann man nicht durch Schminken überdecken - welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Die Zerstörungen der Lepra sind nicht mit Kosmetik in den Griff zu bekommen, vom Anfangsstadium der Krankheit einmal abgesehen. Ein Mensch mit diesen Zerstörungen wird erkannt als einer, der gezeichnet ist. Er wird sofort Angst hervorrufen bei allen, die ihn sehen, bei seinen Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden, und er wird diese verlieren. Die Öffentlichkeit hat als einziges Mittel, sich selbst zu schützen, das Ausstoßen aus der Gesellschaft gehabt. Das führte zu einer tiefen Verwurzelung des Stigmas in den Regionen, in denen diese Erkrankung noch bis vor Kurzem eine bekannte Erscheinung war. Die Menschen haben all ihre sozialen Kontakte verloren, sie sind völlig verarmt und angewiesen auf die Hilfe, auf das Erbarmen der wenigen Menschen, zu denen sie noch Kontakt haben. Dieses Erbarmen nimmt ab, je länger die Krankheit dauert.
Heute ist Lepra heilbar, und es gibt medizinische Möglichkeiten, etwa operative Eingriffe. Was können Ärzte wieder herstellen?
Die Kombinationsbehandlung der Lepra mit mehreren Medikamenten, die zur Ausheilung der bakteriellen Erkrankung führt, ist eine großartige Entdeckung der Medizin. Sie beendet nicht nur die Infektion, sondern führt zu einer Wiederherstellung der Haut. Sie kann jedoch nicht den darunter liegenden, zerstörten Knorpel der Nase heilen oder die Zerstörung von Nerven, die für den Lidschlag oder die Beweglichkeit Finger notwendig sind, rückgängig machen. Da müssen wir dann mit moderner Chirurgie nachhelfen. Diese Operationen sind heute verfügbar. Zwar nicht für den einzelnen, aber Dienste wie die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe bieten solche Möglichkeiten regional an. Wir können den Lidschlag wieder herstellen und so das Auge schützen oder durch eine Sehnenverpflanzung am Fuß dem Kranken wieder einfache Schritte ermöglichen.
Bei einer Früherkennung bleiben also keine sichtbaren Spuren zurück?
Die Haut kann wieder hergestellt werden, und ich möchte sagen, das Wiederherstellen der Schönheit, des individuellen Gesichts ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch ist in seinem sozialen Bezug notwendigerweise auf sein Äußeres angewiesen.
Was löst die Diagnose Lepra heutzutage bei den Betroffenen aus? Ist sie eher ein soziales oder ein psychologisches Problem?
Bei Betroffenen ruft sie nach wie vor erst einmal Panik hervor und den Versuch, die Lepra zu verheimlichen. Doch das ist die völlig falsche Art und Weise, darauf zu reagieren. Man sollte sehr rasch, im Frühstadium nämlich, medizinische Hilfe suchen. Dann kann man die Erkrankung gut beherrschen. Wenn es erst zu Schädigungen und Behinderungen kommt etwa im Auge, an den Zehen oder Fingern, ist es sehr viel schwieriger zu helfen. Ebenfalls ansetzen muss man beim sozialen Umfeld, muss in der Familie des Kranken aufklären oder in der Nachbarschaft.
Hat sich das Image der Krankheit durch die Heilungschancen verändert?
Nur zu einem Teil. Denn das Bewusstsein, dass Lepra wirklich heilbar ist, ist nicht genügend verbreitet. Wir müssen noch sehr viel tun in Gesellschaften, in denen Lepra noch vorkommt, vor allem in den Ländern des Südens. Damit auch der jungen Generation klar wird, dass Lepra heute kein Schicksalsschlag mehr ist, der hingenommen werden muss, sondern dass man damit rational umgehen kann und sie besiegen kann. Die Gefahr, wegen Lepra ausgestoßen zu werden, ist heute gleich null, wenn rechtzeitig behandelt wird. Keine junge Frau, kein junger Mann braucht sich um Heiratschancen oder Job sorgen müssen, wenn sie oder er einmal eine kurze Lepraerkrankung durchmacht. Man kann sie beherrschen und dauerhaft heilen.
Gibt es Länder, in denen die Lepra gängige Schönheitsvorstellungen beeinflusst hat?
Lateinamerika könnte ein solches Beispiel sein, wo wir auf der einen Seite das mit dem Machismo verbundene Schönheitsideal des Mannes haben, und wo sich auf der anderen Seite Frauen in unendlich vielen Schönheitskonkurrenzen präsentieren. In einer Gesellschaft, in der Schönheit zu einem außerordentlichen Wert bei Männern und Frauen stilisiert ist, ist die Angst, sich mit Schmutzigem anzustecken, über Gebühr hoch. Mit Lepra assoziiert man Orte, wo die Underdogs, die ganz Armen, die “Schmutzigen” wohnen. Davon will man sich entfernt halten. Wer plötzlich Lepra an sich zeigt, wird um so tiefer stürzen in seiner Verzweiflung, und die Reaktion seines sozialen Umfelds wird nicht Mitleid sein, sondern Flucht, Distanz, Ausgrenzung. Das Maß der Beschäftigung mit der Lepra hängt von der Häufigkeit ab, mit der sie noch vorkommt. Wenn wir herüberbringen, dass Lepra heilbar, aber nach wie vor da ist, ist diese Aufklärung das Wichtigste. Und in Lateinamerika gibt es die Krankheit nach wie vor.
Schönheitsideale werden international vermarktet, wie zum Beispiel im Film oder in der Popmusik. Ist das ein Hindernis oder eher ein positiver Punkt bei der Bekämpfung des Stigmas und beim offenen Umgang mit Lepra?
Nehmen wir Indien. Dort bedeutet Schönheit ebenmäßige Haut und das gleichmäßige, spiegelbildgleiche Gesicht ist ein besonderes Schönheitsideal. Man muss nur einmal einen indischen Film sehen, der für unseren europäischen Geschmack oft viel zu weich und nur auf Schönheit ausgerichtet erscheint. Die Lepra ist genau das Gegenstück dazu, weil sie eine Zerstörung dieses Ebenmaßes zeichnet. In diesem Fall ist das Stigma besonders schwer zu überwinden. Das internationale Schönheitsideal des gleichmäßigen Gesichts, das sich auch in unserer tagtäglichen Waschmittelwerbung und Häuslebauerreklame darstellt, spricht immer die ideal gepflegte Haut und die Ebenmäßigkeit an. Gerade dies ist für die Bekämpfung des Stigmas kein Vorbild.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht in der Lepra in absehbarer Zeit kein Problem mehr für die öffentliche Gesundheit. Bei einer Rate von 1:10.000 sei die Lepra “eliminiert”, so der Fachbegriff der WHO. Sehen Sie darin eine Chance für mehr Offenheit im Umgang mit der Krankheit?
Nur sehr begrenzt. Es wird sich eher eine völlige Gleichgültigkeit und ein Nichtwissen über das Problem Lepra ausbreiten. Die WHO hat gesagt, diese Krankheit ist bewältigt, also gehen wir zu anderen Themen über. Was wir aber brauchen, ist nicht Gleichgültigkeit, sondern Wachheit. Das heißt, wir müssen ein Minimum an Wissen erhalten, dass es die Lepra weiterhin gibt. Wir müssen das Wissen erhalten, dass diese Erkrankung wieder hochkommen kann, wenn wir nicht die noch betroffenen Millionen auch zukünftig betreuen. Die Lepra ist in den Massenslums der Großstädte - und ein Drittel der Weltbevölkerung lebt dort bereits unter oft unwürdigen Bedingungen - jederzeit in der Lage, wieder zurück zu kommen.
Warum gibt es keine bekannten Persönlichkeiten, die einmal Lepra hatten und nun für die Betroffenen sprechen, wie etwa bei HIV und Aids?
Lepra war immer eine Erkrankung der ganz Armen. Die oberste Hygieneregel, nämlich der Abstand von Mensch zu Mensch, ist dabei unterschritten. Es ist das engste Zusammenleben von vielen Menschen in einer kleinen Hütte unter Slumbedingungen, das zur Lepra führt, durch engen körperlichen Kontakt. Menschen, die eine besondere Leistung vollbracht haben als Führungspersönlichkeit, als Wissenschaftler, als Unternehmer müssen in der Regel nicht in derartiger Enge unter solchen Umständen leben. Es ist anders als bei Aids: Hier finden wir aufgrund besonderer sexueller Aktivität, man denke an Sportler wie “Magic” Johnson, eine unausgesprochene Anerkennung: was für ein toller Kerl, der konnte sich sexuelle Freiheit leisten. Es schwingen ein Stück unterschwellige Bewunderung und manchmal auch Neid mit. Er hat später eben Pech gehabt, sich die Infektion zu holen. Diese stille Anerkennung gibt es bei Lepra nicht.
aus: der überblick 04/2004, Seite 74