Die Erzfeinde Indien und Pakistan auf dem steinigen Weg zur Versöhnung
Seit knapp 60 Jahren kämpfen Pakistan und Indien um die Vormachtstellung in dem als Kaschmir bekannten Himalaja-Gebiet. Mindestens 65.000 Tote hat es bisher in dieser Auseinandersetzung gegeben. Viele Menschen sind des Konfliktes müde. Ein vor zwei Jahren begonnener Entspannungsprozess kommt aber nur langsam voran, weil er immer wieder von Attentaten und Bombenanschlägen überschattet wird. Jetzt hat das schwere Erdbeben vom Oktober die Fronten etwas durchlässiger gemacht.
von Barbara Böttger
Es hatte so gut angefangen mit der Aman Setu, der stählernen Brücke des Friedens an der Waffenstillstandslinie zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs: Nach 58 Jahren war sie wiederaufgebaut worden. Am 7. April 2005 brachte ein Bus die ersten Passagiere über die waffenstarrende Grenze und dann hinüber nach Muzaffarabad. Sie hatten sich durch nichts davon abbringen lassen, ihre Familienangehörigen im anderen Teil Kaschmirs zu besuchen, nicht einmal von einem Selbstmordanschlag auf ihre Unterkunft in Srinagar, der Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu and Kashmir. Die Fotos des brennenden Touristenzentrums gingen neben den Bildern der bewegenden Wiedersehensfeier um die Welt. Sikander Hayat Khan, der Premierminister des pakistanischen Teils, Azad Kashmir (freies Kaschmir) genannt, verglich den hoch-symbolischen Akt der familiären Wiedervereinigung mit dem Einreißen der Berliner Mauer.
Das Erdbeben vom Oktober hat die Brücke wieder zum Einsturz gebracht, und auch der Aufbruchstimmung den Boden entzogen: »Ich bin Premierminister eines Gräberfeldes und blicke aus einem Zelt heraus auf eine Hauptstadt in Ruinen,« erklärte Hayat Khan in Muzaffarabad. Unter den Trümmern war auch ein 73-jähriger Buspassagier begraben, der seinen Traum, einmal diese Waffenstillstandslinie, genannt Line of Control (LoC), überschreiten zu können, mit dem Leben bezahlte.
Dem Volk fällt es offenbar leichter, Barrieren zu überwinden, als den Führern: Der Bericht von Augenzeugen, indische Soldaten am Wachposten der »Friedensbrücke« hätten ihren pakistanischen »Kollegen« beim Aufbau ihres zerstörten Bunkers mit Werkzeugen ausgeholfen, wurde vom Oberkommando in Islamabad sofort dementiert. Soweit wollte man sich in Pakistan vom ehemaligen Erzfeind doch nicht helfen lassen. Dennoch, in ein paar Monaten soll die Brücke gemeinsam repariert und das Geröll von Erdrutschen auf der Straße weggeräumt sein, so dass bald wieder Menschen und Handelswaren die Waffenstillstandslinie passieren können. Dieses Wechselbad ist ein Ausdruck der Fortschritte und Hindernisse auf dem vor zwei Jahren begonnenen Weg zum Frieden zwischen den Atommächten Indien und Pakistan.
Könnte die Erdbebenkatastrophe dazu führen, dass sich auch die Menschen über Grenzen hinweg gegenseitig helfen (dürfen)? Allzu hohe Erwartungen wurden enttäuscht. Pakistan viel härter getroffen hat zwar zum ersten Mal die sofort geleistete materielle Hilfe aus Indien angenommen. Das indische Angebot, über pakistanischen Bergdörfern, die von Indien aus schneller zu erreichen sind, aus indischen Hubschraubern Decken, Nahrungsmittel und Medizin abzuwerfen, lehnte Pakistan jedoch strikt ab. Dies sei zu »sensibel«, lautete die Begründung, die viele Menschen das Leben gekostet haben mag. Vielleicht wären ja dann die »geheimen«, von Satelliten allerdings längst georteten, Lager der Mudschaheddin, die für ein »freies« Kaschmir auf indischem Gebiet kämpfen, offiziell bekannt geworden.
Das »Nein« erklärt sich politisch aus der langen Reihe kriegerischer Konflikte zwischen diesen Nachbarn. Um dieses Stückchen Erde im Himalaja haben sie drei Kriege (in den Jahren 1947, 1965 und 1971) geführt. Und im Jahr 1999 drang die pakistanische Armee heimlich über die Waffenstillstandslinie in unbewohntes Gebiet in Kargil ein, bis die Inder sie zurück drängten. Am Siachen-Gletscher, dem höchsten Schlachtfeld der Welt auf rund 6000 Meter Höhe, hatten sich beide Seiten im Eis verschanzt. Rund tausend Soldaten sind dort gestorben, viele davon als Opfer des Frostes.
Nach dem Angriff pakistanischer Terroristen auf das indische Parlament im Jahr 2002 lagen sich monatelang eine Million Soldaten in Alarmstellung gegenüber, bis schließlich die Vernunft, ein beginnender Wirtschaftsaufschwung und internationaler Druck den drohenden Atomkrieg verhinderten. Heute schweigen die Waffen der in Bunkern verschanzten Gegner, die Grenzbewohner können wieder ohne Angst vor Granaten ihre Felder bestellen und die Kinder zur Schule schicken.
Bedrohlich sind allerdings weiterhin Anschläge im Inneren hinter der Grenzlinie. Trotz offiziellen Waffenstillstands führen »Freiheitskämpfer« so die Bezeichnung der einen Seite, beziehungsweise »Terroristen« auf der anderen unerbittlich ihren Krieg weiter. Pakistan unterstützt, bewaffnet und finanziert diese Kämpfer, die nachts den Grenzzaun der Waffenstillstandslinie überqueren und die indische Armee angreifen. Beide Seiten gehen auch gegen Zivilisten vor, so genannte Verräter wie pro-indische Kaschmiris auf pakistanischer Seite und mit Pakistan sympathisierende Bewohner indischer Bergdörfer.
Die Erdbebenkatastrophe hat nicht nur eine der schönsten Berglandschaften getroffen, sondern auch eines der am meisten militarisierten Gebiete der Erde. Lost Paradise heißt es oft über Kaschmir. Muss man nun hinzufügen lost chances? Denn die Chance, angesichts der gemeinsam erlittenen Erdbebentragödie die Verbundenheit politischmilitärischen Erwägungen voranzustellen, wurde verpasst. Die Separatisten im indischen Teil, die entweder für ein unabhängiges Vereinigtes Kaschmir oder den Anschluss des muslimischen Kaschmirtals an Pakistan eintreten, haben gleich die neue Busverbindung genutzt, um in den pakistanischen Teil zu gelangen und dort Spenden zu sammeln. Sie wurden stürmisch empfangen. Dabei forderten sie, die Grenze so durchlässig zu machen wie es vom pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf und dem indischen Premier Manmohan Singh immer wieder versprochen wird. Inzwischen beginnt sich auch die indische Zivilgesellschaft nicht nur für die eigenen Opfer zu engagieren rund 1500 Tote und mehr als 100.000 Menschen, deren Häuser zerstört wurden -, sondern auch für die im stärker betroffenen Nachbarland. Aber jahrzehntelange Hasspropaganda der Nationalisten auf beiden Seiten und eine traumatische Vergangenheit haben tiefe Gräben hinterlassen, die nicht innerhalb eines zweijährigen Friedensprozesses zugeschüttet werden können.
Das vom Erdbeben besonders heimgesuchte kleinere pakistanische Kaschmir ist der unbedeutendere und bisher politisch ruhigere Teil. Es bietet kaum wirtschaftliche Aussichten, so dass viele der drei Millionen Einwohner im Kernland Pakistans oder im Ausland arbeiten. Die Bevölkerung klagt über die Bevormundung durch die Zentralregierung in Islamabad, und das Militär und wünscht sich eine offene Grenze zum indischen Teil. Dass Erdbebenopfern auf der indischen Seite der Kontrolllinie sofort von ihrer Armee geholfen wurde und der »Wohlfahrtsflügel« der Terrororganisation Lashkar-e-Toiba vielfach die erste effektive Hilfe geleistet hat, wird das Gefühl vieler Kaschmiris verstärken, in einer Notlage von der pakistanischen Regierung eher rhetorisch als praktisch unterstützt zu werden.
Die Auseinandersetzung zwischen den Nachbarn finden vor allem in dem fast doppelt so großen indischen Teil Kaschmirs mit seinen zehn Millionen Einwohnern statt. Dieses Kernland des ehemaligen Fürstentums wird von Indien als legitimer Teil der Indischen Union angesehen. Nach dem Rückzug der britischen Kolonialherren 1947 hatte sich der damalige Maharadscha für den Anschluss an Indien entschieden, obwohl die Kaschmiris zumeist Muslime sind, die Inder hingegen mehrheitlich hinduistisch. Das löste den ersten Krieg aus und führte zur Teilung Kaschmirs. Eine Resolution der Vereinten Nationen hatte 1948 einen Volksentscheid darüber gefordert, welchem Land sich Kaschmir als Ganzes anschließen wolle. Pakistan war für die Abstimmung, Indien dagegen. Es hat sich seitdem immer mehr zur rüden Besatzungsmacht entwickelt, die die anfänglich festgeschriebene Autonomie schrittweise einschränkte. Je weniger die Bevölkerung von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen konnte, desto mehr entfremdete sie sich von der Zentralregierung in Neu-Delhi. 1989 schließlich versuchten junge Kaschmiris, sich mit Waffengewalt ihr Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen, nachdem muslimische Parteien darüber geklagt hatten, dass die Wahl zum Parlament des Bundesstaates im Jahr 1987 gefälscht worden sei.
Einer von ihnen ist Syed Shabbir Shah. »Freiheit ist unser Geburtsrecht« steht über dem Eingang des Büros seiner Partei. Diese hatte er gegründet, nachdem er aus 22-jähriger Haft davon 20 Jahre ohne Prozess in indischen Gefängnissen entlassen worden war und der Gewalt abgeschworen hatte. Seither versucht er, die verschiedenen Flügel der Separatisten zu vereinigen. »So wie Indien einst von den Briten beherrscht worden ist, herrschen jetzt die Inder über uns Kaschmiris«, meint Shabbir Shah. Er wünscht sich zwar einen Dialog mit der indischen Regierung. »Zuerst muss jedoch die Situation in unserem Land verändert werden: Menschen werden in der Haft gefoltert und getötet, es kommt zu den schlimmsten Grausamkeiten durch die indische Armee und die Polizei.« Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international bestätigen diesen Befund. Mindestens 65.000 Tote hat der Kampf um die Unabhängigkeit Kaschmirs bisher gekostet, ebenso viele Verletzte. Frauen wurden vergewaltigt, Männer und Waisenkinder sind verschwunden, rund 270.000 Hindus wurden vertrieben.
Was als nationaler Befreiungskampf vor 16 Jahren begonnen hatte, wurde in den neunziger Jahren immer mehr von Islamisten geprägt. Den Kaschmiris schlossen sich nun ausländische, zum Teil Al-Qaida-nahestehende Mudschaheddin an, die nach dem Sturz der Taliban Afghanistan verlassen mussten und nun von Kaschmir aus ihren Dschihad gegen die Ungläubigen führen. Einen Tag nach dem Erdbeben noch haben sie nahe der Waffenstillstandslinie neun Hindus angeblich Verräter umgebracht. Etwas später hat sich zum ersten Mal eine weibliche Selbstmordattentäterin neben einer Straße, auf der die Armee Hilfsgüter transportierte, in die Luft gesprengt. Sie wollen den Friedensprozess auf jeden Fall verhindern. Diese Devise vertreten sie sogar öffentlich.
Offenbar finden sie aber immer weniger Unterstützung im Volk und bei ihren pakistanischen Gönnern. Die Zahl der Anschläge auf Armee, Polizei, Politiker und Zivilisten ist seit 2003, als sich Indien und Pakistan auf einen Waffenstillstand an der Demarkationslinie geeinigt hatten, auf die Hälfte zurückgegangen: »Nur« noch 1313 Menschen wurden in diesem Jahr bis Anfang Oktober bei bewaffneten Zusammenstößen getötet.
»Die Kaschmiris sind zwischen den Gewehren der beiden Seiten gefangen. Es sind die Zivilisten, die dazwischen im Kreuzfeuer stehen«, erläutert Mehbooba Mufti, eine mutige Frau und Mutter zweier Töchter. Sie ist die Vorsitzende der Regierungspartei von Jammu and Kashmir und zugleich Abgeordnete im indischen Zentralparlament. In die Politik gegangen ist sie, als islamistische Fundamentalisten Frauen bedrohten, wenn sie sich nicht mit der den ganzen Körper verhüllenden Burka bekleideten. Sie widersetzte sich gemeinsam mit anderen Frauen dieser Bekleidungsvorschrift, die in Kaschmir bisher nicht üblich war. Sie propagiert anstelle einer Konfliktstrategie ihren Politikstil des healing touch, des Heilens alter Wunden.
Mehbooba Mufti verurteilt nicht nur die Menschenrechtsverletzungen der indischen Armee und der Paramilitärs, sondern kümmert sich auch um die Familien der Opfer, die Witwen mit ihren Kindern und die Waisen. »Die Lösung liegt nicht nur bei einer Seite, ich meine die Polizei und die Sicherheitskräfte auf der einen und die Aufständischen auf der anderen«, betont sie. »Wir müssen sehen, dass die meisten der jungen Leute aus der Nachbarschaft, die ein Gewehr haben, eigentlich nach Hause gehen wollen, wenn man ihnen einen ehrenhaften Rückweg eröffnet.« Deshalb finde der Dialogprozess statt, »der uns Kaschmiris das Gefühl gibt, dass wir nicht kapitulieren müssen für den Frieden.« Die Menschen seien der Waffengewalt überdrüssig. »Sie möchten Touristen sehen, sie wünschen sich Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung.«
Während des Wahlkampfes für das indische Parlament ist die Politikerin dreimal nur ganz knapp gezielten Bombenanschlägen auf ihre Person und ihre Begleiter entgangen. Das hat sie keineswegs davon abgehalten, schon kurz danach wieder öffentlich aufzutreten und beispielsweise trotz Todesdrohungen die Passagiere des ersten Busses zur »Friedensbrücke« zu begleiten. Wer Politik mache in diesem Land, sei so etwas gewöhnt, kommentiert sie kühl.
Die Regierung hat den Mudschaheddin ein Angebot gemacht: Wer die Waffen abgibt, erhält drei Jahre lang Geld für eine Wiedereingliederung und wird anschließend beim Aufbau einer neuen Existenz unterstützt. Bisher hat die größte Gruppe, die Hizbul Mujahidin, solche Angebote lauthals abgelehnt. Jetzt, nachdem ein Teil ihrer Infrastruktur im pakistanischen Teil Kaschmirs unter Trümmern begraben liegt, haben auch sie sich zu einem vorübergehenden Waffenstillstand mit den Indern bereit erklärt. Die anderen Terrorgruppen zeigen, obwohl geschwächt, indes demonstrativ ihre Schlagkraft.
Der bewaffnete Kampf fordert einen hohen Preis: Die riesigen Friedhöfe der so genannten Märtyrer und die zerstörte Gesellschaft Kaschmirs sprechen eine deutliche Sprache. Eine ganze Generation ist mit alltäglicher Gewalt aufgewachsen. Zum Beispiel die Familie eines Teppichknüpfers, die im indischen Teil Kaschmirs, in ihrem Häuschen in Srinagar lebt. Die sechs Töchter sitzen in einem Raum auf dem Boden und fertigen Stickereien für Tischdecken und Kleider. Die 16-jährige Foxiza besucht eine High School und will später als erste der Familie aufs College gehen. Sie erzählt, was ihrem Onkel passiert ist. Damals war sie noch sehr klein, erinnert sich aber genau: »Unser Onkel wurde von der indischen Armee getötet. Sie dachten, er sei ein Aufständischer, aber er war kein Kämpfer, er war ein Maurer. Er wurde direkt vor unseren Augen getötet. Sie warfen Granaten von außen in das Haus, aber vorher haben sie uns noch herausgelassen. Drei Menschen kamen dabei ums Leben, direkt vor uns. Es war ein großer Schock damals.« Der Sohn Gulzar ist nicht zu Hause. Er arbeitet gerade als Touristenführer. Mit zwölf Jahren musste er die Schule abbrechen, um durch kleine Jobs mitzuverdienen. Wenn es Frieden gibt, möchte er unbedingt aufs College.
Srinagar, einst eine blühende Stadt zu Füßen des malerischen Dal-Sees, der mit seinen mit Schnitzereien verzierten hölzernen Hausbooten eine Attraktion darstellt, galt früher als ein Paradies im Himalaja. Heute gleicht der Ort mit seinen zahlreichen Stützpunkten der indischen Armee und Panzerwagen eher einer belagerten Stadt.
Neue Sympathien hat der Armee sicher der überzeugende Einsatz nach der Erdbebenkatastrophe eingebracht, ebenso wie ihr härteres Vorgehen bei Menschenrechtsverletzungen in den eigenen Reihen. Erheblich entspannen könnte sich die Lage noch, wenn wie angekündigt die meist aus anderen Teilen Indiens stammenden Soldaten, die nicht Kaschmiri sprechen und Hindus oder Sikhs sind, mit der Zeit durch eine eigene kaschmirische Polizei ersetzt werden.
Ein weiteres ungelöstes Erbe des Bürgerkrieges ist die Vertreibung von 270.000 hinduistischen Kashmiri Pandits (brahmanische Gelehrte) auch aus dem indischen Teil Kaschmirs Anfang der neunziger Jahre. Sushil Kaul Vakil und seine Frau Sunita waren damals die Herausgeber der Samachar Post, der zu dem Zeitpunkt einzigen englischsprachigen Tageszeitung. »Wir waren pro-indisch und kritisierten Pakistans Rolle beim Schüren der Gewalt im Tal,« berichten sie. »Wir wurden von den Kämpfern bedroht, sie kamen in unser Büro mit einem Gewehr unter dem Mantel und zwangen uns, in der Zeitung anzukündigen, wenn für den nächsten Tag ein Streik im Tal geplant war.«
Aber das war erst der Anfang. »Eines nachts spielten die Moscheen Kassetten, dass die Hindus weggehen und ihre Frauen und Töchter hier lassen sollten. 'Verlasst Kaschmir! Das ist unser letzte Aufruf!' Alle waren furchtbar erschrocken, die meisten haben daraufhin den Ort verlassen.« Es begann der Exodus der Hindus. Auch Sushil Kaul Vakil und seine Frau Sunita bekamen es mit der Angst zu tun: »Als schließlich Menschen umgebracht wurden, sahen wir uns genötigt, das Tal zu verlassen. Nur mit unserem Handgepäck flogen wir nach Delhi. Meine Familie ging nach Jammu. Sie mussten alles zurücklassen und kamen mit leeren Händen. Nun leben wir seit anderthalb Jahrzehnten außerhalb Kaschmirs. Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land.«
Inzwischen hat sich die Lage gebessert. Der wegen einer Rotationsvereinbarung nach drei Jahren Regierungszeit Ende Oktober 2005 zurückgetretene Ministerpräsident von Jammu and Kashmir, Mufti Sayeed (der Vater der Abgeordneten Mehbooba), fuhr einen anderen Kurs. Er hatte sich auf die Fahne geschrieben, das alte Konzept der Kashmiriyat zu stärken, das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubens-, Kultur- und Denktraditionen. In Delhi gab er anlässlich eines Hindufestivals ein großes Essen und lud die Pandits zur Rückkehr nach Kaschmir ein. Außerdem feierte er in einem Himalajaort mit Journalisten ein christliches Weihnachtsfest und wanderte mit ihnen trotz der Gefahr eines Anschlags auf sein Leben zu einer wiedereröffneten christlichen Kirche. Er fuhr ferner in die mehrheitlich muslimische Region von Kargil und setzte sich dort für ein neues Pilgerzentrum zu Ehren einer mythologischen Heldin aus dem Hinduepos Mahabharata ein. Zugleich sicherte er der buddhistischen Minderheit zu, Pilgerreisen ins pakistanische Taxila zu ermöglichen.
Abgesehen von den Mudschaheddin, deren Ziel ein islamischer Staat ist, bieten inzwischen alle Parteien den Kashmiri Pandits eine Rückkehr in die Heimat an. Ein gedeihliches Zusammenleben gelingt bisher aber nur in wenigen geschützten Siedlungen. Für viele der abgewanderten Hindus, die mittlerweile über ganz Indien verstreut oder im Ausland sind, bieten diese Siedlungen keine attraktive Zukunftsperspektive. Nur wer immer noch in erbärmlichen Lagern in Delhi oder Jammu, der Winterhauptstadt des Bundesstaates Jammu and Kashmir lebt, wird sich wahrscheinlich zur Rückkehr entschließen.
Die Atmosphäre in Srinagar ist infolge des Annäherungsprozesses mit Pakistan spürbar friedlicher als in den neunziger Jahren. Es gibt zwar wegen der Gefahr von Terroranschlägen auf »westliche Unterhaltungskultur « immer noch kein Kino, Theater oder andere abendliche Unterhaltungsangebote, aber es kommen inzwischen wieder Touristen. Zudem zittern die Bewohner nicht mehr, wenn ein Familienmitglied nicht bis 18 Uhr nach Hause gekommen ist. Auch Hochzeiten dürfen wieder bis weit in die Nacht hinein gefeiert werden.
Aber beide Seiten scheinen nach und nach einzusehen, dass ihnen die Konfrontation nichts gebracht hat. Pakistan hat in Kaschmir keinen Zentimeter Terrain erobert, musste dagegen hinnehmen, dass Ostpakistan - mit mehr als der Hälfte der Bevölkerung der einstigen Gesamtnation -sich unter dem Namen Bangladesch für unabhängig erklärt hat - als Folge des von Indien unterstützten Unabhängigkeitskampfes.
Auch Indien kann seine, in den Augen vieler Kaschmiris als Okkupationsregime empfundene kostspielige Politik in Kaschmir nicht auf Dauer aufrechterhalten. Würde man den Konflikt mit den Separatisten im Kaschmirtal friedlich lösen, könnte das die Spannungen zwischen der Hindumehrheit und der muslimischen Minderheit abbauen. Der starken Opposition der Hindunationalisten, deren Stärke sich aus dem Hass auf Muslims und Pakistan speist, gingen die Argumente aus. Ist also dauerhafter Frieden zwischen Indien und Pakistan möglich? Ein Traum, mag sein, aber er wird von vielen Menschen auf dem Subkontinent geträumt. Vielleicht auch von dem geläuterten pakistanischen Staatschef General Pervez Musharraf, der einst in Neu-Delhi geboren wurde, und dem indischen Premier und Ökonomen Manmohan Singh, der in Gah, einem Dorf, das heute zu Pakistan gehört, zur Welt kam. Nach jahrzehntelanger Erbfeindschaft, nach Terroranschlägen und Naturkatastrophen sind die Chancen für einen Versöhnungsprozess heute besser denn je.
aus: der überblick 04/2005, Seite 59
AUTOR(EN):
Barbara Böttger
Barbara Böttger ist Soziologin. Sie arbeitet als Journalistin und Buchautorin und hat sich auf Südasien spezialisiert.