Wer Frauen fördern will, muss Männer unterstützen
Fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban-Herrschaft ist die Lage der Frauen in Afghanistan unsicherer geworden. Hilfsprogramme, die nicht beiden Geschlechtern zugute kommen und Männer von der Mitwirkung an den gesellschaftlichen Veränderungen zugunsten von Frauen ausschließen, machen diese rebellisch: Sie gehen zu Opposition und Gegenwehr über.
von Lina Abirafeh
Fortschritt und sozialer Wandel in Afghanistan sind seit langem eng mit der "Frauenfrage" verknüpft. In der Geschichte des modernen Afghanistans hat man die Frauen immer wieder als den Gradmesser für sozialen Wandel betrachtet. Wiederholt hatten die Afghaninnen mit Aufwallungen erzwungener Modernisierung zu tun, begleitet von konservativen Unterströmungen.
Die geopolitische Bedeutung des Landes und die als "Erfolgsgeschichte" gepriesene Intervention der internationalen Staatengemeinschaft führen momentan dazu, dass sich der Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten trübt. Denn eine Gegenreaktion ist im Entstehen begriffen und die "Frauenfrage" noch lange nicht in trockenen Tüchern.
Afghanistan ist gegen Ende 2006 ein Land, in dem das Leben von Frauenrechtsaktivistinnen zunehmend bedroht ist, in dem Mädchenschulen niedergebrannt werden und die sozialen Indikatoren zeigen, dass die Lage für Männer und Frauen gleichermaßen bedrückend ist. Afghanistan hat eine der höchsten Analphabetenquoten und Müttersterblichkeitsraten in der Welt.
Das heutige Afghanistan könnte vor allem in den Städten Frauen mehr Möglichkeiten eröffnen, aber immer weniger Frauen scheinen diese Chancen überhaupt wahrzunehmen. Männer wie Frauen warten ab, wie sich das Parlament und das neu belebte Ministerium für die Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters aufführen werden und welche Veränderungen das für ihr Leben bringen wird.
Fehleinschätzungen über Afghanistan gibt es zuhauf. Es heißt, das Land befinde sich in der "Nachkriegszeit". Aber die Gewalt nimmt zu. Der US-amerikanische Einmarsch in Afghanistan erfolgte mit dem Anspruch, die Frauen zu "befreien", und doch sind weder Frauen noch Männer wirklich frei. Die internationale Staatengemeinschaft fördert Hunderte von Gender-Programmen (geschlechterspezifische Programme), und doch scheinen hiervon nur Frauen und nicht beide Geschlechter erfasst zu werden. Die jüngere Entwicklung in Afghanistan soll insbesondere im Hinblick auf die Befreiung der Frauen ein großer Erfolg sein. Das Land dient der internationalen Staatengemeinschaft als Vorzeigeprojekt, das beweisen soll, wie man einen Staat wieder aufbauen und eine Demokratie begründen kann.
Die Geschichte des Landes macht die bevorzugte afghanische Gangart bei sozialen Veränderungen deutlich und zeigt, welche Gefahren bestehen, wenn man versucht, diese Veränderungen im Schnelldurchlauf vorzuspulen. Periodisch erfolgten konservative Gegenreaktionen, gewöhnlich dann, wenn es einen starken Drang hin zu sozialen Veränderungen gegeben hat, und ganz besonders, wenn diese als importierte (sprich: vom Westen gelenkte) und aufgestülpte Veränderungen wahrgenommen wurden. Konzepte wie Gender (soziales Geschlecht), Demokratie, Gleichheit und andere zeitgenössische Modewörter der Entwicklungszusammenarbeit hat es in Afghanistan schon immer gegeben.
Es handelt sich nicht um westliche Konstrukte. Werden sie aber als solche verkauft, verlieren sie ihre afghanischen Wurzeln. Die Geschichte der afghanischen Gesellschaft zeigt die Stärke des afghanischen Volkes und seine andauernde Fähigkeit, im eigenen Namen und im eigenen Interesse zu handeln.
Afghanistan befindet sich wieder einmal mitten in einem Konflikt aus westlichen Modernisierungskonzepten und afghanischen kulturellen Vorstellungen. Damit soll nicht gesagt werden, dass die beiden nicht miteinander vereinbar sind. Frauen als Gradmesser für sozialen Wandel und Fortschritt in Afghanistan zu betrachten, liegt im Trend. Was sagen aber afghanische Frauen und Männer über den Kurs des neuen Afghanistans? Was halten sie von den sozialen Veränderungen, die in ihrem Land stattfinden? Und was wünschen sie sich?
Die befragten Afghaninnen sind sich bewusst, dass sie zum Guten wie zum Schlechten weitgehend im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit stehen. Während sie die Chancen anerkennen, die ihnen dank dieser Aufmerksamkeit zuteil werden, kam aber auch das Gefühl zum Ausdruck, zum Objekt herabgewürdigt, zum Schweigen verdammt und von der Einflussnahme auf den Lauf der Veränderungen abgeschnitten zu werden. "Frauen in Afghanistan sind heutzutage ein sehr beliebter Gesprächsgegenstand," kommentierte etwa eine der Frauen. Die Männer machen sich Sorgen, weil ihre Gesellschaft wiederum im Umbruch ist, angestoßen durch die in der Welt wahrgenommene Befreiung der Frauen in Afghanistan. Vielen wäre es lieber, wenn sie mehr Zeit hätten, über die Veränderungen und ihren eigenen Platz darin nachzudenken.
Afghanische Frauen brachten ihre Sorge zum Ausdruck, dass die traditionelle Rolle des Mannes als Hauptverdiener durch die Veränderungen ausgehöhlt wird. Diese Sorgen werden bei Männern wie Frauen auch durch die Wahrnehmung genährt, dass Männer im Rahmen der internationalen Hilfsprogramme benachteiligt werden. Beide Geschlechter haben das Gefühl, leeren Versprechungen zum Opfer gefallen zu sein, da das ganze Gerede von Rechten und Chancen (verpackt in Begriffe wie Befreiung und Empowerment) keine wesentlichen Veränderungen in ihrem Leben gebracht hat. "Wir Frauen warten immer noch auf die Veränderung zum Guten", erklärte eine Frau. Ein Mann sagte: "Internationale Organisation erzählen den Leuten von Menschenrechten, aber eigentlich denken sie nur an ihre eigenen Interessen und politischen Ziele anstatt an die Frauen in Afghanistan. Diese Organisationen reden nur und tun nichts."
Afghanische Frauen berichten, dass die Benachteiligung der Männer bei der Planung der Hilfsprogramme auch ihre eigenen Chancen begrenzt hat. "Die Frauen wären besser dran", erklärte eine von ihnen, "wenn auch die Männer Chancen bekämen." Eine andere Frau erläuterte: "Die Männer ärgern sich über die internationalen Organisationen, weil die sich nur um die Frauen kümmern. Die Männer haben das Gefühl, dass ihre Zukunft düster ist." Die Antworten der Männer waren in diesem Punkt sehr drastisch. Viele von ihnen waren nie zuvor gefragt worden, was sie überhaupt von den gerade stattfindenden Veränderungen in ihrem Land halten.
Da sich die Situation in Afghanistan weiter verschlechtert, ist es längst an der Zeit, den vorgeblichen Erfolg der Wiederaufbaubestrebungen einmal unter die Lupe zu nehmen. Zunächst muss man verstehen, was die Veränderungen der letzten Jahre für das Identitätsgefühl und die Beziehungen der Afghanen untereinander bedeutet haben. Dadurch wird das ganze Ausmaß der Unzufriedenheit und Enttäuschung der Afghanen über die internationale Staatengemeinschaft erkennbar.
Hilfsansätze, die darauf zielen, Frauen und ihre Rechte zu stärken, setzen Frauen möglicherweise einem erhöhten Risiko aus. Das gilt besonders im Fall Afghanistans, wo die Rhetorik zur Rechtfertigung des jetzigen Hilfseinsatzes die gleichen Begriffe benutzt, mit denen die Verdrängung der Taliban gerechtfertigt wurde und das war eine militärische Intervention. Weckt man die Erwartung auf Stärkung der Frauen und ihrer Rechte, macht man den Frauen Mut, sich außerhalb der traditionellen Frauenrollen zu bewegen. Das ist zugleich eine Infragestellung der Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Frauen sind stärker bedroht, wenn der soziale Wandel als von außen aufgezwungen empfunden wird. Außerdem leiden die Frauen noch mehr, wenn geschlechterorientierte Hilfsansätze nicht wirklich die Situation beider Geschlechter berücksichtigen, sondern sich nur an Frauen richten.
Die Afghaninnen hatten das Gefühl, im Hinblick auf die Richtung und das Tempo des sozialen Wandels nicht genügend Mitspracherechte zu haben. Daran zeigt sich, dass die Fähigkeit der Frauen, für Ihre Rechte einzustehen, im eigenen Namen zu handeln und Fortschritte zu erzielen, gar nicht berücksichtigt wird. Deshalb sind alle Bemühungen in Richtung Empowerment zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht von den Frauen ausgehen, die man damit erreichen will. Folge ist, dass die Menschen in Afghanistan nicht willens sind, ein Konzept zu übernehmen, dass ihren Prioritäten kaum entspricht.
Daher ist es sehr wichtig, einen kontextorientierten Ansatz zu unterstützen und zu fördern, der die afghanische Geschichte und das Tempo und die Muster sozialen Wandels in Afghanistan mit in Betracht zieht. Zu diesem Zweck müssen Ansätze darauf zielen, Begriffe wie "Geschlechter" und Empowerment im lokalen Kontext zu erfassen und dementsprechend die Geschlechterrollen und -beziehungen zu entwickeln. Nur so lässt sich eine Übereinstimmung mit dem Islam und anderen sozialen Rahmenbedingungen erzielen, innerhalb derer sich die Afghanen willentlich bewegen.
Die Aufbauhelfer sollten sich auch bewusst machen, welche Bilder sie verwenden und welche Vorstellungen sie damit möglicherweise hervorrufen. Ein vom Westen aufgezwungenes Programm, bei dem afghanische Frauen als unterdrückte Geschöpfe unter dem Tschador gesehen werden, dient wegen des Eindrucks, den es hinterlässt, der Sache der afghanischen Frauen wenig, ganz besonders bei der derzeitigen weltweit aufgeheizten Stimmung der Furcht/Faszination über die Rolle der Frau im Islam. Frauenrechtsaktivistinnen mahnen zur Vorsicht, um eine Gegenreaktion durch konservative Elemente der afghanischen Gesellschaft zu verhindern.
Eine Agenda zur Befreiung der afghanischen Frau ist schon an sich problematisch. Sie leugnet die Bedürfnisse der Männer und ihre Rolle bei den Veränderungen, die in der Nachkriegszeit die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern verschieben. Das Ausblenden der Geschlechterdynamik könnte zu immer mehr Ungleichheit führen. Dies gilt um so mehr für Gesellschaften wie Afghanistan, die sich eher anhand von Stammes- oder Familienbeziehungen definieren als anhand der Geschlechter.
Die Vernachlässigung der Bedürfnisse der Männer und die ausschließliche Ausrichtung auf die Partizipation von Frauen schafft zusätzliches Konfliktpotenzial: Widerstand der Männer und Beteiligung der Frauen in Alibifunktionen.
Auch Männer haben mit der wachsenden Unsicherheit zu kämpfen, mit Arbeitslosigkeit und Armut. Sie werden die Agenda der internationalen Staatengemeinschaft nicht mittragen, solange sie das Gefühl haben, dass ihnen ein gleichberechtigter Anteil an den Hilfsleistungen versagt bleibt. In dem Maße, in dem sich die Rollen und Chancen der Frauen ändern und erweitern, erleben die Männer eine Bedrohung ihrer Männlichkeit. Sie haben dann kaum eine andere Wahl, als sich aus dem derzeitigen politischen Projekt zurückzuziehen.
Die Frauen sind sich sehr wohl darüber bewusst, dass ihre aktive Teilnahme an Hilfsprogrammen eine Herausforderung für die Männer in ihrer Rolle ist. Spannungen können entstehen, wenn das Gefühl vorherrscht, dass die neu übernommenen Rollen der Frauen nicht im Einklang mit den traditionellen sozialen Strukturen stehen. Die mögliche Gegenreaktion könnte die Frauen in ihre Rollen aus Vorkriegszeiten zurückdrängen oder sie in eine noch ungünstigere Lage bringen als vor dem Krieg. Bei Gender-orientierten Programmen sollten deshalb Männer als Teilnehmer, Berater und Unterstützer mit eingebunden werden. Dadurch würde sich vielleicht die männliche Wahrnehmung der Frau ändern, und es endlich könnte gelingen, die Praktiken abzustellen, welche die Frauenrechte beschränken. Eine der befragten Frauen stellte es folgendermaßen dar: "Wenn die Gesellschaft bereit für Veränderungen ist, werden die Frauen diese selbst einfordern."
Wenn es um die Rolle der Frau geht, ist der Widerstand gegen ausländische Werte (sprich: Kulturimperialismus) am stärksten. Insbesondere wird angenommen, dass die Korrumpierung und Herabwürdigung der afghanischen Frau wesentlicher Teil der westlichen Agenda ist. Dies geht einher mit dem Bild, das die Afghanen noch immer von den westlichen "Freiheiten" (sprich: Partys, Pornografie, Alkohol) haben. Das sieht man an den "Nicht für Afghanen"-Schildern an den Türen von Restaurants in Kabul, in denen Alkohol ausgeschenkt wird, oder an der Vielzahl an Bordellen, die als Restaurants getarnt sind. Solche Freizeitbeschäftigungen erscheinen den Afghanen als ein Angriff auf ihr Afghanentum, auf ihre nationale Identität.
Zu verschiedenen Zeiten in der afghanischen Geschichte wurde der Widerstand gegen solche Umgestaltungsversuche überwiegend von den Bewohnern der ländlichen Gebiete angeführt und richtete sich gegen eine städtisch orientierte Regierung oder einen Militärapparat. In der gegenwärtigen Lage ereignen sich die Zusammenstöße vor allem in den Städten. Das liegt zum einen daran, dass die internationale Staatengemeinschaft in den Städten Quartier bezogen hat.
Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass die Landbevölkerung in die Städte vertrieben worden ist. Die alte städtische Elite, die in der Vergangenheit starke Bestrebungen im Hinblick auf sozialen Wandel eher begrüßt hat, hat seitdem Afghanistan größtenteils verlassen. Die Bevölkerung Kabuls besteht in der Mehrzahl aus Afghanen ländlicher Herkunft. Einst ein liberales städtisches Zentrum, ist Kabul in der so genannten Nachkriegszeit zu einem Ort der Gewalt geworden und damit zu einem Ort, wo sich zunehmend eine konservativere Ordnung durchsetzt.
Der jüngste Anstieg der Gewalt ist die Reaktion vieler Afghanen auf die von ihnen so empfundene Besatzung. Der frühere afghanische Präsident, Professor Burhanuddin Rabbani, ist zum unverblümten Kritiker des westlichen Kulturimperialismus avanciert und argumentiert, dass dieser den Islam korrumpiert und Afghanistans Entwicklung als unabhängiges Land aufhält. "Wir betrachten das als eine Verschwörung gegen unsere Religion, unsere Freiheit und Sicherheit. Sie sprechen über Frauenfragen, während Tausende von Frauen sterben und sich niemand um sie kümmert.
Trotzdem hören sie nicht auf, von moralischer Korruption zu sprechen. Sie sind nicht hierher gekommen, um Afghanistan wiederaufzubauen, sondern um uns zu korrumpieren... Das Regime, das unser Land regiert, stellt sich gegen die Wünsche der gesamten Nation... In Afghanistan sollte die politische Orientierung durch unsere Nation und nicht durch ein fremdes Land vorgegeben werden. Die Politik der gegenwärtigen afghanischen Regierung ist in den Augen des afghanischen Volkes inakzeptabel. Wir müssen unsere Freiheit schützen. Wenn uns ein fremdes Land Hilfe zukommen lässt, sollte diese nicht an Bedingungen gekoppelt sein. Wenn die Geberländer Forderungen an uns stellen, sollten wir solche Hilfe ablehnen."
Die Helfer hätten gut daran getan, sich erst mit einigen wichtigen Facetten der Entwicklung in Afghanistan vertraut zu machen. Die Bedeutung einer kontextabhängigen Analyse sollte nicht unterschätzt werden. Sie würde nämlich zeigen, dass afghanische Frauen durchaus fähig sind, für sich selbst einzutreten. Es gab auch immer schon einen afghanischen "Feminismus".
Wenn man sich dazu durchringen würde, mehr Zeit mit Zuhören zu verbringen (anstatt über das Zuhören zu reden), würden diese Risse aufgedeckt und man könnte sie in einer konzertierten Aktion wieder reparieren. Das Zuhören würde auch gegen die Symbole und Vorurteile helfen, auf denen die falschen Vorstellungen über Afghanistan gründen. Auch ein gesundes Maß an Bescheidenheit wäre hilfreich.
Falls afghanische Frauen wirklich der Gradmesser für sozialen Wandel in Afghanistan sind, denn ergeben die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan ein recht düsteres Bild. Zu welch scharfer Gegenreaktion es kommen kann, zeigt beispielsweise die Ermordung der Frauenrechtlerin Safia Hama Dschan. Die Frauenbeauftragte des Ministeriums für Frauenfragen in der Provinz Kandahar wurde am 26. September 2006 erschossen. Man nimmt an, dass sie wegen ihres Engagements zugunsten der Frauenrechte ins Visier geraten ist. Afghanische Frauengruppen haben sich getroffen, um ihrer Besorgnis Ausdruck zu verleihen und die Rechte der Frauen jenseits aller Rhetorik zu sichern. Dass diese Bewegung von innen kommt, ist ein kleiner Lichtblick.
aus: der überblick 04/2006, Seite 50
AUTOR(EN):
Lina Abirafeh
Lina Abirafeh ist Gender- und Entwicklungsberaterin.
Sie promoviert zur Zeit an der "London School of Economics" über
Konflikte und gender-bezogene Gewalt in verschiendenen Ländern.