Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburger edition 2007. 450 S.
von Odile Jolys
Wer der monokausalen Erklärungsmuster der größten Katastrophen unseres Jahrhunderts überdrüssig ist seien es etwa die Versuche, Massenmorde mit dem reinen Kampf um Ressourcen oder mit ethnischen Konflikten erklären zu wollen , sollte das Buch von Jacques Sémelin lesen, das uns den Weg von der Idee bis zum puren Akt des Tötens erschließt.
Der Professor am Institut für Politikwissenschaft in Paris will das "Rätsel des Genozids lösen und verständlich machen. Dafür bezieht er das Wissen der Soziologie, der Geschichte, der Ethnologie und der Psychologie ein. Dies erlaubt ihm vor allem, den Blickwinkel zu erweitern. Seine Analyse bewegt sich sowohl auf der Ebene von Staaten und Gesellschaften, als auch von Individuen, die den Massenmord umsetzen. Und wenn man nicht den reinen Wahnsinn als Argument gelten lassen will, muss man annehmen, dass die Menschen ihren Taten einen Sinn geben. Diesen Sinn, und wie er in die Tat umgesetzt wird, das untersucht Sémelin.
Für ihn ist der Massenmord ein Prozess, den man von seinem Anfang bis zu seinem Ende untersuchen soll. Er rechtfertigt es in überzeugender Weise: Es gibt keine deterministische Kausalität zwischen den verschiedenen Ereignissen, zwischen einer Intention und ihrer Umsetzung. Innerhalb des Konflikts kann sich eine neue Entwicklung ergeben. Und das Individuum behält bis zur Vollstreckung der Tötung die Freiheit, nein zu sagen. Sémelin stützt seine Untersuchung des Massenmordes im 20. Jahrhundert auf drei Beispiele: den Holocaust, den Genozid an den Tutsis in Ruanda und die ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina. Durch den Vergleich ist es ihm gelungen, ein Raster zu entwickeln.
Die Dramaturgie der fünf ersten Kapitel erzeugt eine Spannung, die selten in einem wissenschaftlichen Buch zu finden ist. Am Anfang steht das Wort: Die Bereitschaft zu Massenmord entspringt einem Diskurs, den ein politischer Führer in einer Gesellschaft entwickelt, deren kollektives Selbstbild sich infolge eines Traumas in der Krise befindet (für die Deutschen zum Beispiel der Versailler Vertrag und die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre). Die zentrale Rolle spielt dabei die Angst vor einem Feind. Die Gruppenidentität wird in Abgrenzung zu den anderen neu definiert. Dabei wird schnell der Ruf nach Reinheit laut. Der soziale Körper muss von den Verrätern und der Bestie gesäubert werden. Die Angst ist der Zünder, die anderen sind die tödliche Gefahr, der Massenmord wird als Selbstverteidigung gesehen.
Im zweiten Kapitel untersucht Sémelin die Bedingungen innerhalb der Gesellschaft, die für die Umsetzung der Taten notwendig sind. Die Intellektuellen schaffen dafür die ideologischen Werkzeuge. Sie sind diejenigen, welche der Krise einen Interpretationsrahmen geben. Dann treten Politiker auf die Bühne: Aus der Idee wird Staatspolitik. Aber, so warnt Sémelin, der Ruf zum Genozid ist noch kein Genozid. Hitler hatte in einer Rede am 30.01.1939 davon gesprochen, aber noch war nichts entschieden, noch nichts organisiert. An der Macht wird die Propaganda effektiver. Die Angst wird größer. Ein Klima der Gewalt entsteht. Die herrschende Meinung setzt sich durch: Der Drang zur Konformität ist zu groß. In den drei Beispielsländern versagen selbst die religiösen Kräfte. Es entwickelt sich sogar eine neue Sakralität, die sich eine Heilung von der Gewalt verspricht.
Welcher regionale und internationale Kontext begünstigt den Massenmord? Das ist das Thema des dritten Kapitels: Am wichtigsten erscheint der Krieg: Er wird die Umsetzung der Gewalt ermöglichen. Der moderne Krieg, der die Grenze zwischen Militär und Zivil verwischt, verstärkt die Angst, bringt die Bestätigung, dass der Feind im Inneren und im äußeren identisch ist, hebt die Hemmungen auf und versteckt den Massenmord. Die Passivität der internationalen Gemeinschaft verschlimmert die Lage der Opfer.
Im vierten Kapitel untersucht Sémelin den Entscheidungsprozess, der zu Massenmord führt, die Mobilisierung der Armee und Polizei sowie die Bildung der Milizen für diesen Zweck. Er betont stets die Autonomie der jeweiligen Akteure, insbesondere der lokalen Machthaber, die den Massenmord beschleunigen oder die Ziele abwandeln können.
Sémelin zeigt, dass sich selbst in der Umsetzung neue Dynamiken entfalten können. Im fünften Kapitel ist alles bereit, damit das Töten beginnen kann. Der Moment, wo alles umkippt, ist die Bildung einer Gruppe von Tätern. Man wird zum Henker in situ, auf dem Schlachtfeld. Aber um immer wieder zu töten, müssen sich die Täter psychisch aufrüsten. Dies erfolgt durch den Willen zur Gehorsamkeit gegenüber der als legitim angesehenen Hierarchie und durch die Solidarität innerhalb der Tätergruppe. Der Täter muss vom Gemeinwohl, vom Sinn seiner Taten überzeugt sein. Die Ideologie verstärkt sich also weiter durch die Tat. Sémelin beschreibt auch ausführlich die Techniken und Strategien, die den Tätern beim Morden helfen und fragt nach dem Sinn der Grausamkeit. Die Palette der Antworten ist groß, bis zu sadistischer Lust. Wann man anfangen sollte, Massenmord als Genozid zu bezeichnen, thematisiert er im letzten Kapitel.
Wenn das Ziel die Beseitigung einer Bevölkerungsgruppe ist, geschieht dies entweder durch Vertreibung der Massenmord gilt als Warnung wie im Fall der ethnischen Säuberung in Bosnien oder durch die tatsächliche Vernichtung der Gruppe. Das sind für Sémelin die eigentlichen Genozide. Was Sémelin hier geschrieben hat, ist ein Beispiel guter Wissenschaft: klarer Schreibstil und die Erwähnungen der Forschungsergebnisse vieler anderer, die er würdigt, kommentiert, ergänzt oder widerlegt. Es ist nicht die Fülle der Kenntnisse, die uns klüger machen, vielmehr die brillant strukturierte Anordnung und Bewertung des Wissens. Mit dieser Arbeit über das Rätsel des Genozids sind wir in unserer Kenntnis der Menschheit ein Stück weiter gekommen.
aus: der überblick 03/2007, Seite 169
AUTOR(EN):
Odile Jolys
ist Redakteurin bei "der überblick".