Aids-Aktivisten zwingen die südafrikanische Gesellschaft, sich den Problemen der Krankheit zu stellen.
KwaMashu, Südafrika. Es ist ein heißer, grauer Sonntag im März. Der sonst von Menschen wimmelnde Bahnhof von Durban liegt nahezu verlassen da – nicht gerade eine geeignete Szenerie für eine Aids- Demonstration. Dennoch sitzt auf dem Boden eine kleine Frau namens Mercy Makhalemele, eine der führenden Aids-Aktivistinnen Südafrikas. Und sie protestiert.
von Mark Schoofs
Makhalemele erfuhr 1993, dass sie HIV-positiv ist. Als sie ihren Mann darüber informierte, stieß er sie gegen einen Topf kochenden Wassers, der gerade auf dem Herd stand, und verbrühte ihren Arm. Sie ging trotzdem zu ihrer Arbeitsstelle, wo sie Schuhe verkaufte, "als ob alles in Ordnung wäre."
Ihr Mann suchte sie dort jedoch auf und befahl ihr, nach Hause zu gehen. Sie solle ihre Sachen packen und verschwinden, denn wie könne er mit jemandem zusammenleben, der HIV-infiziert sei? Das war um 10 Uhr morgens. Um 3 Uhr nachmittags wurde sie von ihrem Arbeitgeber fristlos entlassen.
Ihr jüngstes Kind, Nkosikhona – was "Gott ist da" bedeutet – kam infiziert zur Welt. Makhalemele erinnert sich an einen Besuch im Krankenhaus, bei dem die Krankenschwestern sagten: "Sie ist HIV-positiv. Wir können nichts für sie tun." Makhalemele blieb hartnäckig: "Ich will ja nicht, dass Sie die HIV-Infektion meines Kindes behandeln, sondern die Bronchitis." Die Tochter starb im Alter von zweieinhalb Jahren.
All diese Jahre versuchte Makhalemele beharrlich, die Regierung – und zwar die neue Regierung von Nelson Mandela, welche für manche die fortschrittlichste Afrikas, wenn nicht der Welt ist – dazu zu drängen, den Kampf gegen Aids aufzunehmen.
Erst sah es so aus, als ob das ganz einfach sein würde. Quarraisha Abdool-Karim gehört zu den führenden Aids-Forschern Südafrikas und war die erste Direktorin des Aids-Präventionsprogramms ihres Landes. Sie erinnert sich an eine Aids-Konferenz, die 1992 stattfand und bei der Mandela die zentrale Rede hielt. Abdool-Karim stand nach ihm auf der Rednerliste, aber, so erinnert sie sich, "es gab kaum etwas hinzuzufügen. Er wusste über alle wichtigen Punkte Bescheid, über alles, was es zu tun gab."
Doch danach folgte jahrelanges Schweigen. Bis Ende 1998, als die Infektionsrate unter südafrikanischen Frauen, die zur Schwangerschaftsberatung kamen, auf über 20 Prozent gestiegen war, hielt Mandela nur eine einzige wichtige Rede zum Thema Aids, und zwar vor einem Forum von Wirtschaftsexperten in der Schweiz. Warum Mandela so lange brauchte, bis er sich dem Aids-Problem stellte, gehört zu den unverständlichsten und frustrierendsten Rätseln der Epidemie. Mandela war auf Anfrage nicht zu einem Interview bereit. Selbst sein Freund und Hausarzt, Nthato Motlana, kann sich die Sache nicht erklären.
"Es macht mich so wütend", sagte Motlana in einem Interview 1999. "Ich gehe zu Mandela hin – gerade heute Morgen habe ich mit ihm gefrühstückt – und heize ihm ein." Erbost fügte er hinzu: "Die Reaktion der alten Apartheid-Regierung war eine nationale Schande. Die Reaktion meiner Regierung – und ich bin ein sehr loyales Mitglied des ANC, seit dem achtzehnten Lebensjahr – ist ebenfalls eine Schande."
Es ist unbestreitbar, dass die Regierung Mandela schwere Fehler gemacht hat. Zuerst gab die eigensinnige Gesundheitsministerin Nkosazana Zuma ihre Zustimmung zu einem rund 4,4 Millionen Mark teuren Musical für die Aids-Prävention namens Sarafina II, das einen großen Teil des Aids-Budgets auffraß, aber weit und breit als wenig wirksam kritisiert wurde. Der nächste Fehlgriff war Virodene, ein in Südafrika entwickeltes Medikament zur Behandlung von Aids. Es enthielt allen Ernstes ein industrielles Lösungsmittel, das für Menschen schädlich ist. Aber Zuma – und Thabo Mbeki, damals Vizepräsident und mittlerweile Präsident von Südafrika – befürworteten das Medikament. Als der Medicines Control Council, die für Arzneimittelzulassungen zuständige Behörde Südafrikas, Einwände erhob, wischte Zuma diese beiseite, indem sie unterstellte, dass die Behörde mit großen Pharmakonzernen unter einer Decke steckte, welche die drohende Konkurrenz durch Virodene verhindern wollten.
Im Oktober 1998 schließlich hob die Regierung unter dem Namen Partnership Against Aids eine teils öffentliche, teils private Initiative aus der Taufe, die viel Lob erntete, weil sie Firmen, Kirchen sowie Organisationen betroffener Bürger dazu aufrief, den Kampf gegen Aids aufzunehmen. Doch noch während diese Initiative ins Leben gerufen wurde, kündigte Zuma an, dass die Regierung die Gelder für die sogenannte Baby-Impfung streichen würde. Bei der Baby-Impfung handelt es sich um die Gabe des direkt gegen das HIV wirkende Medikament AZT; wenn man es HIV-positiven Schwangeren verabreicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass das Baby mit dem Virus zur Welt kommt. Das Programm sei zu teuer, behauptete Zuma wiederholt, obwohl eine von der Regierung finanzierte Studie ergeben hatte, dass die Abgabe von AZT an schwangere Frauen längerfristig gesehen Kosten senken dürfte, weil die Behandlung von Babys mit Aids sehr teuer ist.
Nicht zuletzt weil sie eine infizierte Tochter hatte, war Makhalemele über die Entscheidung gegen das AZT-Programm besonders erbost. Aber auch im Hinblick auf die gesamte Aids-Politik kommt bei ihr Verzweifelung auf: "In welcher Weise werden wir als bereits infizierte Menschen von den Maßnahmen der Regierung berücksichtigt? Wir passen denen überhaupt nicht ins Konzept, denn alles dreht sich um Prävention." Aus diesem Grund half sie, die Treatment Action Campaign zu gründen, ein Aktionsbündnis gegen Aids, das sich zum Teil an der amerikanischen ACT UP-Initiative orientiert, aber auch an Südafrikas eigener Tradition, politische Ziele durch öffentliche Proteste und Demonstrationen durchzusetzen. Diese Tradition ist natürlich aufs engste mit Mandelas Namen verknüpft.
Wenn Mandela auch nicht viel gegen Aids getan hat, so brachte er doch seinem Land ein politisches System, das auf die Besorgnisse einfacher Bürger reagiert. So hat er politische Aktionen gegen Aids überhaupt erst ermöglicht.
Doch nicht einmal Mandela konnte die ungeheuren Schwierigkeiten beseitigen. Zwar müssen Aktivisten überall der Politik Dampf machen, wenn sie etwas erreichen wollen. Aber in Südafrika haben Aids-Aktivisten es zusätzlich mit einer Gesellschaft zu tun, die infolge der Herrschaft des autoritärsten und rücksichtslosesten weißen Regimes, das es im modernen Afrika gegeben hat, katastrophal aus den Fugen geraten ist. Das größte Hindernis für den Aufbau einer Bewegung gegen Aids ist das Erbe der Apartheid. Die damit verbundenen Probleme sind eine weitaus größere Belastung als die Fehler der neuen politischen Führung. Die Apartheid hat die Menschen des Landes mit Wut, Hass und Verzweifelung vergiftet und so eine Kultur der Gewalt und der Stigmatisierung hervorgebracht, welcher HIV-positive Menschen weiterhin ausgesetzt sind. Das ist deshalb ein Problem, weil die Infizierten, bevor eine Solidarisierung überhaupt stattfinden kann, sich erst einmal dazu bekennen müssen, dass sie das Virus in sich tragen. Dieser Schritt ist überall schwierig, aber in Südafrika riskieren Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Infektion bekennen, körperlich angegriffen, ja sogar ermordet zu werden.
Makhameles Heimat, die Provinz KwaZulu-Natal, war auf besonders schlimme Weise vom Terror betroffen; denn hier herrschte ein dreiseitiger Krieg zwischen dem weißen Regime, dem African National Congress und der Inkatha Freedom Party. Die Aids-Aktivistin Musa Njoko wuchs in KwaMashu auf, einem menschenverachtenden township außerhalb von Durban. Es ist einer jener Orte, wo die Menschen derart niedergedrückt wirken, dass man meint, sie halten nach einer noch schwächeren Person Ausschau, welche sie treten können. "Die jungen Männer haben mich sehr hart rangenommen", erinnert sich Njoko. "Ich dachte damals, irgend jemanden wird es wegen seiner HIV-Infektion mal richtig schlimm erwischen." Sie war daher "schockiert, aber nicht überrascht", als im Dezember 1998 eine Frau namens Gugu Dlamini, die öffentlich bekannt hatte, dass sie HIV-positiv war, drei Wochen später zu Tode geprügelt wurde. Als Grund gaben einige der Täter an, dass sie Schande über das township gebracht hätte.
Drei Monate nach der Ermordung von Dlamini wurde die Treatment Action Campaign mit einer landesweiten Protestkampagne ins Leben gerufen. Makhamele, die mit Dlamini zusammengearbeitet hatte, beschloss, ihre Demonstranten zum Protest gegen die Stigmatisierung von Aids nach KwaMashu zu schicken. Ungefähr 20 Demonstranten, die T-Shirts mit dem Foto der ermordeten Gesinnungsgenossin und dem Slogan "Nie wieder" trugen, fanden sich in dem Einkaufszentrum des Township ein, einem staubigen Gebäude mit lauter vergitterten Fenstern. Sie hatten um Polizeischutz gebeten, aber da weit und breit keine Polizei zu sehen war, ergriffen sie die Flucht.
Makhamele kam erst gar nicht in KwaMashu an. Sie hatte ein paar Tage zuvor die Eisenbahngesellschaft darum gebeten, die Aktivisten gratis von Durban nach KwaMashu zu befördern. Sie trug ihr Ansinnen ein weiteres Mal vor, als sie im Bahnhof ankam. Wieder war die Antwort nein – und diesmal zerbrach irgendetwas in ihr. Sie setzte sich mitten im Bahnhof nieder und verkündete, sie werde ab jetzt fasten, was sie sieben Tage lang aufrechterhalten würde.
Während sie auf dem Bahnhofsboden sitzt, fängt sie an zu weinen. "Ich werde in eine katholische Mission gehen", sagt sie; "und ich werde dort bleiben, um die Trauer, den Schmerz, die Wut zu heilen, die sich in mir nach sieben Jahren als Aids-Aktivistin in diesem Land angestaut haben."
Die Apartheid war nie nur eine Politik der Rassentrennung, sondern auch ein ökonomisches System, das enormen Wohlstand schuf. Wer von Kapstadt nach Johannesburg reist, kann durchaus den Eindruck bekommen, man sei in London oder New York. Die Villen sehen wie Paläste aus. Die Telefone funktionieren. Die Straßen sind in gutem Zustand. Hier wird sichtbar, dass das Land einen gewichtigen Anteil an gebildeten, wohlhabenden und in Städten lebenden Bewohnern hat – und das sind nicht mehr ausschließlich Weiße –, die der Meinung sind, dass sie das Recht auf eine demokratische, mit anderen Nationen vergleichbar gut funktionierende Gesellschaft haben. Die verhältnismäßig stabile wirtschaftliche Situation bewirkt auch, dass die Menschen zu hoffen wagen, wenigstens in gewissem Umfang lebensverlängernde Medikamente zu erhalten.
Der Wohlstand Südafrikas entstand allerdings im Zuge einer rücksichtslosen Ausbeutung, die dem Land Armut in riesigem Ausmaß bescherte. Der Prozentsatz an Analphabeten ist erschreckend hoch. Millionen leben ohne Elektrizität und fließendes Wasser. Solche Verhältnisse sind gemeint, wenn Südafrika als ein Land der Extreme oder, in der Formulierung von Mbeki, als zwei Länder innerhalb derselben Grenzen bezeichnet wird. Doch auch diese Charakterisierung vermittelt allenfalls einen schwachen Eindruck von den katastrophalen Zerstörungen, denen das Land ausgesetzt war.
Wenn man verstehen will, was Apartheid bedeutete, sollte man nicht nach KwaMashu, nicht einmal nach Soweto gehen, sondern stattdessen in einen der Aufzüge steigen, die hinunter in die Bergwerksschächte des Witwatersrand fahren. Die Flöze, die hier abgebaut werden, sind vor Millionen von Jahren entstanden. Es ist schwierig, das Gold wirklich zu sehen, aber es ist trotzdem da. Tonnen über Tonnen des wertvollen Metalls sind in meist mikroskopisch kleinen Partikeln in der Erde verteilt. Die Flöze sind eine geologische Gegebenheit, die Südafrika mehr als irgendetwas anderes geprägt hat: Jede Tonne Erde im Witwatersrand enthält nur wenige Unzen Gold. Die reichhaltigsten Lagerstätten aber sind unter den Gesteinsmassen neuerer geologischer Schichten begraben. Daher müssen die Schächte der Minen in Südafrika tiefer vorangetrieben werden als irgendwo sonst – bis zu fünf Kilometer tief -, und die Bergarbeiter müssen entsprechend gewaltige Mengen Aushub an die Oberfläche bringen. Ohne billige Arbeitskräfte wäre es unmöglich gewesen, dabei Gewinne zu machen.
Trotzdem war Gold über lange Zeit hinweg die wichtigste Einnahmequelle des Landes. Die Driefontein-Mine West in Carletonville beispielsweise hat mehr als zwei Millionen Kilogramm Gold aus der Erde geholt. Dem Manager des Bergwerks stellt die Firma eine großartige Unterkunft zur Verfügung: eine eingezäunte Villa samt perfekt gepflegtem Garten.
Auch die normalen Arbeiter leben in Unterkünften, die die Firma zur Verfügung stellt. Im Regelfall ist das ein ungefähr 40 Quadratmeter großer Raum, der mit 14 Etagenbetten und Schließschränken, wie man sie von Turnhallen kennt, vollgestopft ist. Die Männer, die in diesen Räumen wohnen, kommen aus allen Teilen Südafrikas und sind durchweg verheiratet. Ihre Frauen leben allerdings in der Heimat, wo die Bergarbeiter sie nur alle zwei oder drei Monate für ein paar Tage zu sehen bekommen.
Das System wurde vor nahezu hundert Jahren von der Diamanten- und Goldindustrie erfunden. Man drängte die Afrikaner in Reservate ab, wo Steuern auf die Hütten, in denen sie wohnten, sie zur Lohnarbeit zwangen. Die Häuptlinge wurden dafür bezahlt, die Industrie mit Arbeitskräften zu versorgen – aber eben nur mit Männern. Die afrikanischen Beschäftigten mit ihren Familien unterzubringen, wäre teuer gewesen, und außerdem wäre es für die Arbeiter leichter gewesen, Widerstand zu organisieren, wenn sie sich in der Nähe des Bergwerks niedergelassen hätten. Deshalb wurden die Arbeiter in solchen ausschließlich von Männern bewohnten Baracken einquartiert, wie man sie in West Driefontein findet.
Das die Apartheid verankernde Geflecht aus mehr als hundert Gesetzen dehnte im Prinzip das von der Bergbauindustrie eingeführte System auf das ganze Land aus. Zu ihren besten Zeiten beschäftigten die Gold- und Diamantenminen mehr als ein Fünftel aller schwarzen Erwachsenen in Südafrika. Die verhassten Reisegesetze der Apartheid, die die Bewegungsfreiheit der schwarzen Afrikaner einschränkten, entstanden aus den Regelungen, mit denen die Bergwerksgesellschaften das Hin- und Herreisen ihrer Arbeiter zwischen Heimat und Arbeitsplatz steuerten. In den sechziger Jahren zwang die Regierung mehr als drei Millionen Afrikaner in unfruchtbare und entwürdigende Reservate, die Bantustans hießen, ein an Orwell erinnerndes Kunstwort, mit dem man so tat, als ob es sich hierbei um unabhängige Nationen handele.
Diejenigen Schwarzen, die das Glück hatten, Arbeit in einer Stadt zu finden, wohnten in ausgelagerten townships – in den frühen Zeiten oftmals mit ihren Familien. Das änderte sich jedoch mit der Einführung der berüchtigten Bantu-Gesetze 1964, die vorschrieben, dass alle neu eingestellten männlichen Arbeitskräfte in Massenunterkünften in den townships zu wohnen hatten. Damit war das Modell der Bergbauindustrie zur nationalen Politik geworden, und die Folgen waren entsprechend katastrophal.
"Ich wohnte neben einer solchen Baracke in Soweto und wurde gerufen, wenn es jemanden zu behandeln gab, der ein Messer oder eine Kugel abbekommen hatte", erinnert Motlana sich. "Der Gestank in diesen Behausungen! Sie waren total verdreckt. Die Baracken ließen die Kriminalität blühen und gedeihen, aber nicht nur das. Den Kindern fehlte Disziplin, weil sie keine Väter hatten. Es gab sehr viel Gewalt untereinander."
Die Massenunterbringung führte auch zu einer explosionsartigen Verbreitung von Aids. In kaum einem Land der Welt dehnt sich die HIV-Epidemie gegenwärtig so schnell aus wie in Südafrika. Viele Experten sind der Meinung, dass das System der Wanderarbeit eine der Hauptursachen dafür ist. "Wenn man sich das Ziel setzen würde, eine Geschlechtskrankheit möglichst effektiv zu verbreiten, würde man Tausende junger Männer von ihren Familien trennen, sie in Behausungen nur für Männer isolieren und ihnen leichten Zugang zu Alkohol und käuflichem Sex verschaffen", sagt Mark Lurie, ein südafrikanischer Forscher, der sich mit den Auswirkungen der Wanderarbeit auf das HIV beschäftigt. "Und um die Krankheit auch noch im ganzen Land zu verbreiten, würde man diese Männer hin und wieder zu ihren Frauen und Freundinnen nach Hause schicken. Genau so funktioniert im Prinzip das System der Wanderarbeit bei uns."
In Carletonville arbeitet Yodwa Mzaidume mit Hunderten von Prostituierten, die in illegal errichteten Siedlungen in der Nähe der Bergwerksbaracken wohnen. Sie bringt den Prostituierten bei, sich gegenseitig zu zeigen, wie man Kondome benutzt. Aber es ist schwierig, sie zur Mitarbeit bei irgendetwas anderem zu gewinnen. "Nehmen Sie zum Beispiel Leeupoort", sagt sie und bezieht sich auf eine der illegalen Siedlungen. "Die Menschen haben dort weder Toiletten noch fließendes Wasser. Wenn Sie denen etwas von politischem Engagement erzählen, fragen sie: 'Was kommt für mich dabei heraus?'"
In den USA lautete der Protestschrei der Aids-Aktivisten ganz einfach "Medikamente für Menschen!" Aber in Südafrika sind die Probleme sehr viel komplexer. Mzaidume zählt nur einige auf: "Wanderarbeit, überfüllte Unterkünfte, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. Wie packen wir diese Dinge an? Was können wir tun?" Die Wanderarbeit hat sich in Südafrika so sehr eingebürgert, dass "die Bergarbeiter ihre Familien gar nicht mehr bei sich haben wollen. Sie sagen: 'Wer kümmert sich zu Hause um meine Kühe?'"
Mzaidume hält sich nicht lange mit der Vergangenheit Südafrikas auf, denn was die Ausbreitung des HIV verursacht, ist, wie sie spöttisch formuliert, "Sex mit wechselnden Partnerinnen, nicht Sex mit der Apartheid." Doch bei einer Arbeitslosenrate, die offiziell über 30 Prozent, in Wirklichkeit aber vermutlich noch viel höher liegt, so erläutert sie, "gibt es eine Menge Wut unter den jungen Leuten. Sie sagen, 'Wir sind in einem demokratischen Südafrika, aber wir leben immer noch im Zustand der Apartheid.'"
Das Ergebnis ist Hass. Njoko, die Aktivistin, die in KwaMashu aufgewachsen ist, erklärt das so: "Sie sehen mich und denken: 'Sie ist eine HIV-positive Frau, wie kommt es, dass es ihr gut geht?' Und dann werden sie mich möglicherweise verprügeln oder umbringen. Wenn man jedoch genauer hinsieht, stellt man fest, dass der Kerl, der prügelt, seit zehn Jahren arbeitslos ist." Manche Männer ließen ihrer Wut freien Lauf, indem sie andere bewusst ansteckten, sagt sie und gibt damit eine weit verbreitete Überzeugung wieder: "Sie sagen, sie wollen nicht alleine sterben, sondern andere Menschen mitreißen. Ich unterstütze diese Haltung nicht, aber Leute, die HIV-positiv sind, haben absolut nichts mehr zu erwarten. Es ist ihnen klar: Sie werden sterben."
Zackie Achmat ist einer der Initiatoren der Treatment Action Campaign. Er hat auch gegen die Apartheidpolitik gekämpft, Studentendemonstrationen organisiert und ist dafür ins Gefängnis gewandert. Obwohl er gemischter Herkunft ist, bezeichnet er sich als Schwarzen, eine Strategie der Solidarisierung. Achmat ist darüber hinaus der führende Kopf der aufblühenden Schwulen- und Lesbenbewegung Südafrikas. Dank seiner internationalen Kontakte konnte er sich die neuesten Medikamente verschaffen, um seine HIV-Infektion zu behandeln. Öffentlich hat er jedoch erklärt, er werde kein Medikament nehmen, das nicht allen Südafrikanern zugänglich sei.
Als er sich bei einem Expertentreffen im Frühjahr 1999, bei dem auch die damalige Gesundheitsministerin Zuma anwesend war, zu Wort meldete, galt er daher als glaubwürdig. Er erzählte der Ministerin von seiner langjährigen Mitgliedschaft im ANC, wies darauf hin, dass die Aids-Bewegung ihre Kritik an den hohen Preisen für Medikamente unterstütze, und bat um einen Termin. Zur Überraschung der meisten Aktivisten sagte sie zu. Nach dem Treffen änderte sie ihre Haltung zur Abgabe von AZT an Schwangere.
Dieser beeindruckende Erfolg machte den Weg für sehr viel weitergehende Veränderungen frei, insbesondere was die Medikamentenpreise anbetraf. Zuma drückte ein Gesetz durch, das es der südafrikanischen Regierung erlaubt, pharmazeutische Patente zu umgehen und lebenswichtige Medikamente zu deutlich niedrigeren Preisen zu kaufen – zum Beispiel von Firmen, die Generika der betreffenden Arzneien herstellen. Damit rückte Südafrika in den Mittelpunkt einer heftigen Kontroverse um die Aussetzung von Patentrechten und Handelsrestriktionen, die dazu beitragen, dass besonders wichtige Medikamente in der Dritten Welt unbezahlbar sind. In diesem Kampf wurden die südafrikanischen Aids-Aktivisten nicht nur von Kollegen in anderen westlichen Ländern und von der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Hilfsorganisation Médecins sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) unterstützt, sondern sie standen auch Seite an Seite mit der eigenen Regierung.
Im Herbst 1998 machte Präsident Mbeki jedoch die für die Aids-Bewegung schockierende Äußerung: "Es gibt eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur, die gegen dieses Medikament unter anderem den Einwand geltend macht, dass es wegen seiner toxischen Eigenschaften tatsächlich eine Gefahr für die Gesundheit darstellt." Es schien ihn nicht zu kümmern, dass AZT in Dutzenden von klinischen Versuchen auf der ganzen Welt getestet worden war, dass die positiven Effekte normalerweise gegenüber den Nebenwirkungen überwiegen und dass Länder mit so strengen Vorschriften wie Deutschland und die USA das Medikament zur Behandlung von HIV zugelassen haben. Eine Studie unter schwangeren Frauen in Südafrika ergab, dass AZT, in Kombination mit einem anderen Medikament verabreicht, nicht mehr Nebenwirkungen auslöst als ein Plazebo. Wie konnte die mächtigste Person Afrikas auf die Idee kommen, AZT sei ein gefährliches Medikament?
Durch Informationen aus dem Internet, erzählte eine seiner Sprecherinnen, Tasneem Carrim, der Johannesburger Zeitung Sunday Independent. Mbekis Büro stritt dies ab, doch was Carrim gesagt hatte, klang wie eine zwar treuherzige, aber wahre Antwort. Carrim wurde mit dem Satz zitiert: "Der Präsident ist ständig im Internet." Auf Seiten der Aktivisten hoffte man, dass Mbekis neue Gesundheitsministerin, Manto Tshabalala-Msimang, ihren Chef korrigieren würde, aber zum Entsetzen der Bewegung hat sie sich eindeutig hinter ihn gestellt.
Im township von Carletonville ist der Anteil der Infizierten unter 25-jährigen Frauen mit sechs von zehn erschreckend hoch. Die meisten dieser Frauen werden aller Voraussicht nach schwanger werden. "Warum sollte ihnen nicht die Chance gegeben werden, ein Baby zur Welt zu bringen, das nicht HIV-positiv ist?", fragt Mzaidume. Sie beantwortet ihre Frage voller Bitterkeit selbst: "Es spielt keine Rolle, wie oft Ärzte Vorträge halten. Wenn Politiker etwas nicht wollen, dann gibt es das eben nicht." Mbeki ließ Anfragen für ein Interview mit diesem Autor unbeantwortet.
Weil es so wenige medizinische Beweise gibt, die Mbekis Widerstand gegen AZT untermauern, fragen viele Südafrikaner sich, was die Motive des Präsidenten sein könnten. Möglicherweise haben die langen Jahre des Kampfes gegen die Apartheid bei ihm ein tiefes Misstrauen gegenüber mächtigen weißen Konzernen, wie denen der Pharmaindustrie, hinterlassen. Vielleicht hat er aus jenen Jahren auch eine Unnachgiebigkeit zurückbehalten, die es ihm nicht erlaubt, einen Fehler zuzugeben. Da Mbeki in erster Linie ein Wirtschaftsexperte ist, gehen die Spekulationen überwiegend in diese Richtung.
Die weit verbreitete Ansicht, dass das Apartheidregime vom ANC gestürzt worden ist, ist nur ein Teil der Wahrheit. Ein ganz wesentlicher Grund war der drohende Kollaps der Wirtschaft des Apartheidstaates. Arbeitskräfte wie Verbrauchsgüter zu behandeln, funktionierte, solange die Industrie hauptsächlich ungelernte Belegschaften benötigte.
Doch der technische Fortschritt ließ den Bedarf an ausgebildeten und langjährig beschäftigten Arbeitern ständig steigen. Das in der Apartheid gründende System der Wanderarbeit erwies sich immer mehr als Nachteil, wie auch die Politik, Schwarzen nur ein Minimum an Schulbildung zukommen zu lassen. "Wenn diese Idioten sich dazu hätten durchringen können, auch nur 100 schwarze Ingenieure pro Jahr auszubilden", sagt Aggrey Klaaste, der Herausgeber der Zeitung Sowetan, "dann wäre dieses Land heute phänomenal gut dran."
Südafrika war alles Andere als gut dran, als der ANC die Macht übernahm. Das Bruttosozialprodukt ging zurück. Die Inflation lag bei über 15 Prozent. Immer mehr Kapital wanderte ab. Und die unproduktiven Ausgaben für Polizei und Verteidigung, welche ein immer heftigerer schwarzer Widerstand erforderlich gemacht hatte, belasteten das Land mit großen Schulden.
Obwohl er in einem kommunistischen Elternhaus aufgewachsen ist, hat Mbeki einen aggressiv kapitalistischen Kurs vorgegeben. Auch wenn er der südafrikanischen Wirtschaft damit eine schwere Bürde auflegt, wirbt er bei internationalen Investoren um Vertrauen, indem er weiterhin stoisch die Schulden aus der Apartheid-Zeit abträgt. Darüber hinaus hat er dem Land eine strikte Haushaltsdisziplin verordnet, um sich die Unterstützung von Weltfinanzinstituten wie dem Internationalen Währungsfonds zu sichern. Diese Politik zahlt sich möglicherweise langfristig gesehen aus, aber sie hat zunächst einmal dazu geführt, dass die Regierung mit leeren Händen dasteht. Aids-Medikamente sind jedoch sehr teuer. "Die Regierung hat panische Angst davor, sich auf das Wagnis der Finanzierung von Behandlungen einzulassen", sagt Achmat, "denn sie glaubt, dass das viel zu teuer wird."
Das wäre sicherlich richtig, wenn die Regierung die kostspieligen Medikamenten-Kombinationen subventionieren würde, die die Zahl der Aids-Toten in den USA reduziert haben. Aber es gibt Kompromisslösungen. Einige der Folgekrankheiten (sogenannte opportunistische Krankheiten), an denen Menschen mit Aids schnell sterben können, lässt sich mit relativ preiswerten prophylaktischen Medikamenten vorbeugen. Der Grund, weshalb die Regierung solche Arzneien nicht zur Verfügung stellt, liegt darin, dass "die infizierte Bevölkerung nicht über die Behandlungsmöglichkeiten informiert ist und daher auch keinen Druck auf die Regierung ausüben kann", sagt Achmat. "Unser Kenntnisstand ist mit dem in Europa und Nordamerika nicht zu vergleichen." Als die Treatment Action Campaign mit ihrer Arbeit begann, erinnert er sich, dachten die Leute, AZT sei eine politische Partei.
Diese Situation verändert sich zunehmend, vor allem weil Aids-Aktivisten das Thema in die Medien getragen haben. Zwei mächtige Gewerkschaften haben sich hinter die Treatment Action Campaign gestellt, und auch die Wissenschaft selbst drängt die Regierung zum Handeln. Es gibt nämlich ein neues Medikament namens Nevirapine, das die Übertragung des Virus von der Mutter auf das Kind genauso wirksam zu verhindern scheint wie AZT, allerdings zu viel geringeren Kosten. Das Medikament wird gegenwärtig in Südafrika erprobt. Es wird daher für die Regierung immer schwieriger, untätig zu bleiben.
Schon jetzt lässt sich eine allgemeine Veränderung erkennen. Menschen mit HIV sind zunehmend sichtbar. Makhamele zum Beispiel hat sich nach einer fünfmonatigen Erholungszeit zurückgemeldet und moderiert mittlerweile zusammen mit einem Co-Moderator Beat It!, eine landesweit ausgestrahlte Fernsehsendung zu dem Thema, wie man mit dem Virus lebt. Am Welt-Aids-Tag im Dezember 1999, erzählt sie, waren "überall in den Medien Aids-Gesichter zu sehen." Eines von ihnen ist Lucky Mazibuko, der für den Sowetan arbeitet und als der erste offen HIV-positive Zeitungskolumnist des Landes bekannt wurde. Er wohnt in dem township, nach dem seine Zeitung benannt ist, und hat sich zu einem Magneten für Menschen entwickelt, die einen Ansprechpartner suchen. Vor kurzem erhielt er einen Brief, der deutlich macht, dass ein Einstellungswandel gegenüber HIV-positiven Menschen eingesetzt hat.
"Der Brief war von einer älteren Dame, die von ihrem HIV-positiven Sohn erzählte, welchen sie jedoch verstoßen und aus dem Haus geworfen hatte. In der Zwischenzeit hatte sie eine Arbeit als Hausangestellte bei einer weißen Familie angenommen, und es stellte sich heraus, dass auch die Tochter ihres Arbeitgebers HIV-positiv ist. Ein Teil ihrer Arbeit besteht darin, diese Tochter zu pflegen – ihren Sohn sah die Dame erst wieder, als er begraben wurde."
In einem Land mit mindestens 3,6 Millionen Infizierten hat ein altes afrikanisches Sprichwort eine neue Bedeutung bekommen: "Etwas, was Hörner hat, lässt sich nicht verstecken." Die Kranken und die Toten zwingen Südafrika sich der Epidemie, sich selbst und seiner brutalen Vergangenheit zu stellen.
aus: der überblick 03/2000, Seite 44
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.