In russischen Gefängnissen und Straflagern herrschen grauenhafte Zustände
Die Zahl der Straflager in Russland hat sich nach Stalins Tod verringert. Doch die Lebensumstände der Strafgefangenen sind eher schlechter geworden, seit die Wirtschaftskrise es den Lagerleitungen unmöglich macht, das Geld für die Versorgung der Häftlinge zu erwirtschaften. Viele Lagerhäftlinge hungern oder infizieren sich mit Tuberkulose. Noch schlimmer sind jedoch die Zustände in den Gefängnissen. Die Überfüllung dort kommt einer Folter gleich, und sie trifft Untersuchungshäftlinge, die jahrelang unschuldig einsitzen können.
von Alissa Turowa
Meine Großmutter Alissa Tille saß während der Herrschaft des letzten Zaren (1894-1917) als 17-jährige Revolutionärin im Butirskaja-Gefängnis außerhalb von Moskau ein. Sie trat dort in den Hungerstreik, weil ein älterer Wärter sie geduzt hatte. Der Wärter war später gezwungen, sich bei ihr zu entschuldigen. Heutzutage aber entschuldigen die Wärter in diesem Gefängnis sich nicht. Hungerstreiks sind ihnen völlig egal, zumal schon die übliche Ernährung in russischen Haftanstalten sich nur geringfügig vom Hungern unterscheidet.
Das Butirskaja-Gefängnis stammt wie viele russische Gefängnisse noch aus der Zarenzeit. Die Zarin Katharina II. ließ es von dem berühmten Architekten Kasakow bauen, der sich auf den Bau von Palästen für die Zaren und den Adel spezialisiert hatte. Das Gefängnis spiegelte damals die fortschrittlichsten Entwicklungen der Zeit wider. Es gab in Haftanstalten keine Abwassersysteme, aber die gab es auch nicht in den Palästen. Heute liegt das Butirskaja- Gefängnis praktisch im Zentrum von Moskau. In seinem Gebäude ist jetzt das Untersuchungsgefängnis Nr. 2 untergebracht. Nach der Oktoberrevolution ließ die neue Regierung die Mauern um das Gebäude abreißen und das Gelände verkleinern; dann ließ sie schamhaft um das Gefängnis hohe Neubauten errichten, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war.
Die Bolschewiki ließen keine Gefängnisse bauen. Erstens hätte dies der Ideologie von der neuen Gesellschaft widersprochen, für die man lieber Pionier- und Kulturpaläste errichtete. Zweitens ersetzte man das nutzlose Einsitzen in Gefängnissen frühzeitig durch "fruchtbare, veredelnde Arbeit" in Lagern - beim Bau von gigantischen Kanälen und beim Holzfällen. Die Lebensbedingungen der zeki - das ist die bürokratische Abkürzung des Wortes ZaKljutschennij, Häftling - aus dieser Zeit können nicht besser beschrieben werden als in den Berichten des Schriftstellers Alexander Solschenizyn.
1953, nach dem Tod Stalins, gewährte Berija, der Stalins Stelle einzunehmen strebte, eine umfangreiche Amnestie. Zahlreiche Straftäter, die infolge der Behandlung in den Lagern verroht waren, zogen nun durch Russland. Sie brachten sogar ganze Städte unter ihre Kontrolle und plünderten sie aus. Viele von ihnen mussten daraufhin in die Lager zurückgebracht werden. Dennoch ist die Anzahl der Lager insgesamt erheblich vermindert worden.
Die Prinzipien des Lebens in den Lagern sind allerdings die gleichen geblieben. Ein Lager war damals ein Betrieb mit einem Produktionsplan; die Lagerverwaltung musste dafür sorgen, dass er erfüllt, ja möglichst übererfüllt wurde. Die Lager lebten von Erträgen aus ihrer eigenen Produktion. Heute aber, da die russische Industrie zusammengebrochen ist, bekommen die Lager auch keine Aufträge mehr und existieren nur auf der Grundlage einer kargen staatlichen Finanzierung. Die Lager werden heute offiziell Besserungskolonien genannt; diejenigen für Minderjährige nennt man Erziehungskolonien. Dort sitzen Verbrecher von 16 bis 18 Jahren, im Falle von schweren Verbrechen schon ab 14 Jahren. Leider führt die "Erziehung" dort eher dazu, dass Minderjährige als Gewohnheitsverbrecher wieder herauskommen. Dies umso mehr, als sie mit 18 Jahren in Kolonien für Erwachsene überführt werden.
Es gibt außerdem Sonderlager für Mitarbeiter der Polizei, für hohe Beamte und ähnliche Personen. Diese Lager wurden nicht nur eingeführt, um diesen Beamten besondere Haftbedingungen zukommen zu lassen, sondern auch, weil sie in einem normalen Lager sicherlich von Mitinsassen getötet würden. Weiter gibt es Sonderlager für Ausländer, die aus "Entwicklungsländern" (wie Russland selbst) kommen. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind nicht viel besser als in denen für russische "Eingeborene". Die Arbeit dort besteht im Schneiden von Schachfiguren aus Holz; der Verdienst beträgt ungefähr 4 Rubel pro Tag. Nach Abzug von Kost und Logis bleiben 22 Kopeken fürs Einkaufen im Gefängnisladen - das ergibt 6,6 Rubel oder rund fünfzig Pfennige im Monat.
Aufgrund dieser Lebensbedingungen in den Lagern sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche gibt es häufig Hungeraufstände. Darüber hinaus treten sogar die Mitarbeiter der Lager, das heißt die Wachmänner, zuweilen in einen Streik oder Hungerstreik, weil sie kein Essen mehr für die Insassen haben. Und selbst sie warten auf ihren Lohn oft monatelang.
Spezielle Lager gibt es auch für Tuberkulosekranke und HIV-Infizierte. Die Lage der dort einsitzenden Kranken ist für einen Westeuropäer einfach unvorstellbar. Im Lager Nr. 10 für Tuberkulosekranke zum Beispiel schlafen kranke Häftlinge zu zweit auf einem Schlafplatz, obwohl die Betten, wenn es sie denn gibt, eigentlich nur für einen bestimmt sind (normalerweise gibt es in Gefängnissen nur mehrstöckige Holzpritschen, in denen mehrere Menschen dicht aneinander gedrängt schlafen). Die Enge führt zum Luftmangel. Die Tuberkulosekranken müssen sich deswegen mit frischer Luft versorgen, indem sie der Reihe nach an ein Kippfenster treten.
Da der Staat Ende 1995 den Lagern laut der Zeitung Izvestija 13 Milliarden Rubel schuldete, sind diese Zustände nicht verwunderlich. Ich glaube nicht, dass sich die Schulden seitdem wesentlich vermindert haben. Wenn es um die Entscheidung geht, welche Schulden zuerst beglichen werden sollen - die bei ausländischen Banken, Lohnschulden bei den Lehrern oder die beim Gesundheitswesen -, werden natürlich die bei ausländischen Banken vorrangig behandelt. Als das Zweitwichtigste wird der Krieg in Tschetschenien angesehen. Und während öffentliche Krankenhäuser mehr schlecht als recht finanziert werden, mangelt es in Gefängniskrankenhäusern einschließlich der für Tuberkulosekranke an Arzneimitteln, Röntgenfilmen und sogar Verbandsmaterial.
Die Häufigkeit der Tuberkuloseerkrankungen ist während der "demokratischen Revolution" in Russland sprunghaft angestiegen; das liegt zum großen Teil an den Entlassenen aus Lagern und Gefängnissen, die die Infektion im Land verbreiten. Die Häufigkeit der Tuberkuloseerkrankungen liegt in Lagern 40 mal höher als im Landesdurchschnitt, und die Sterblichkeitsrate aufgrund von Tuberkulose in den Lagern übertrifft den Landesdurchschnitt um das 17-fache.
In der Epoche Gorbatschows wurden die so genannten LTP, Arbeits- und Entziehungsanstalten, eingeführt. Sie waren nicht für Straftäter, sondern für alkoholabhängige und deswegen eine Zwangsbehandlung "benötigende" Menschen bestimmt. Im Grunde genommen waren das die gleichen Gefängnisse mit demselben Stacheldraht, den gleichen Wachen und derselben Zwangsarbeit. Es gab jedoch einen erheblichen Unterschied: In diese Anstalten wurde man zur "Behandlung" gebracht und deswegen ohne Gerichtsverfahren und ohne eine bestimmte Frist für die Entlassung - eben "bis zur Genesung". Das war genauso wie im Fall der psychiatrischen Anstalten, die traurige Berühmtheit erlangt haben: Dorthin wurden Menschen auf Antrag von Nachbarn, Familienmitgliedern oder der "Öffentlichkeit" gebracht.
In den LTP tranken Menschen, die das wollten, weiter wie zuvor. Dies war möglich, da erstens die LTP im Gegensatz zu den Lagern keine eigenen Produktionseinrichtungen hatten, sondern die Alkoholiker unter Bewachung zur Arbeit an Betriebe und Baustellen ausgeliehen wurden, wo man mühelos Wodka bekommen konnte. Zweitens konnten bei der zunehmenden allgemeinen Korruption die Wächter geschmiert werden, so dass auch auf diesem Wege leicht Wodka zu bekommen war. Wenn gute, qualifizierte Arbeitskräfte in diesen Anstalten wirklich "trocken" wurden, also auf Dauer zu trinken aufhörten und entlassen wurden, versuchte man ihre Haftdauer dadurch zu verlängern, dass man sie am letzten Tag zum Trinken animierte.
Allerdings wurde in Moskau eine Anstalt dieser Art gebaut, in der die Lebensbedingungen etwas besser als in den anderen LTP waren. Nach der Aufhebung der LTP ist diese Anstalt in das Untersuchungsgefängnis für Frauen Nr. 6 umgewandelt worden. Dies ist noch das zivilisierteste Untersuchungsgefängnis in Moskau; die Haftbedingungen sind dort viel besser als in den übrigen Gefängnissen. Nach dem Gesetz wird die Haft im Zuchthaus als schwerere Strafe betrachtet als die im Lager. Als strengste Strafanstalt gilt das Wladimirskaja-Gefängnis.
Wie sind nun die Haftbedingungen in üblichen Gefängnissen, insbesondere in Untersuchungsgefängnissen? In sogenannten SISO - kurz für Sledstwennij ISOlator, Untersuchungsgefängnis - werden Menschen festgehalten, die auf ihr Gerichtsverfahren warten und juristisch gesehen noch als unschuldig gelten. Denn Artikel 49 der Verfassung der Russischen Föderation lautet: "Jeder eines Verbrechens Verdächtige gilt als unschuldig, bis seine Schuld nach den Vorschriften des föderalen Gesetzes bewiesen und durch ein in Kraft getretenes Gerichtsurteil festgestellt ist." Unter den Häftlingen sind in der Tat viele Unschuldige, die wegen einer aus der Luft gegriffenen Anklage inhaftiert sind. Und sie sitzen dann nicht tage-, sondern jahrelang im SISO ein.
In SISOs werden Häftlinge unter Bedingungen gehalten, die einer Folter gleichkommen. Und das ist keine Übertreibung. A. Wolkow, der ehemalige Leiter des SISO Nr. 2 - das ist das Butirskaja-Gefängnis, wo einst meine Großmutter einsaß -, hat die Lage im Sender "Offenes Radio" im September 1994 beschrieben. Und man sollte nicht glauben, dass sich die Situation seitdem verbessert hätte; wie die allgemeine wirtschaftliche Lage Russlands ist in Zusammenhang damit auch die Lage in den Gefängnissen noch schlechter geworden.
Das Hauptproblem aller SISO in Russland ist die extreme Überbelegung. Laut Wolkow kamen im Butirskaja-Gefängnis durchschnittlich auf einen Menschen 0,75 Quadratmeter Fläche. Die Häftlinge dort haben kaum Platz zum Stehen. Schlafen muss man in drei Schichten, die restlichen 16 Stunden muss man stehen wie in einem überfüllten Bus. In den Zellen sind hundert und mehr Menschen zusammengepfercht.
Im Fernsehen wurden die Zellen des Butirskaja-Gefängnisses im Sommer gezeigt: Halbnackte Menschen stehen bei wahnsinniger Hitze dicht gedrängt beieinander und stecken sich dabei gegenseitig mit allen möglichen Hautkrankheiten an. Von April an ist es nicht möglich, ein Streichholz in den Zellen anzuzünden, da es aufgrund von Sauerstoffmangel nicht brennen kann. Für Herzkranke, Asthmatiker oder einfach schwächliche Menschen ist ein Aufenthalt in dieser Atmosphäre mit dem Tod gleichbedeutend. Manche geschwächte Untersuchungsgefangene sind bereit, ein Verbrechen, das sie nicht begangen haben, zu gestehen, um möglichst schnell aus dieser Todeskammer in ein Lager zu kommen, wo man draußen arbeitet und an die frische Luft gehen kann. Manche Häftlinge sind mit Geschwüren übersät, die unter diesen Bedingungen nicht heilen können. Außerdem gibt es keine Salben für ihre Behandlung. Es gibt überhaupt kaum Arzneimittel, und wenn, dann aus Beständen humanitärer Organisationen und mit abgelaufenem Verfallsdatum.
Einmal wurde im Fernsehen die Sonderzelle des Butirskaja-Gefängnisses für geisteskranke Straftäter gezeigt. Es war eine genauso riesige, überfüllte Zelle, in der sowohl wirklich psychisch kranke Menschen zusammengepfercht waren als auch Mörder, die eine psychische Krankheit simulierten, um einer Strafe zu entgehen.
Die Wachhabenden, die finanziell nur etwas besser als die Häftlinge stehen, sind bestechlich. Wie Wolkow selbst sagte, muss ein Häftling zahlen, damit der Wachhabende ihn zum Arzt bringt. Das Gefängnis stellt eine Zeitung pro Zelle zur Verfügung - für hundert Menschen. Manchmal bringen die Verwandten der Insassen ihnen Fernseher. Manchmal bekommen Gefangene von ihnen auch Pakete mit Essen, allerdings ist dieses nicht häufiger als einmal pro Monat gestattet. Um das Essen zu erhalten, muss man außerdem in einer riesigen Schlange warten, in der man ab 5 Uhr morgens, manchmal sogar noch früher anstehen muss.
Von diesen Essenspaketen und der Nahrung aus dem Laden, einem winzigen Geschäft innerhalb des Gefängnisses, leben die Insassen - aber nur die, die Verwandte und Geld haben. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, wie man mit der ausgegebenen Nahrungsration, die offiziell mit der Summe 1 Rubel berechnet wird, überhaupt überleben kann. Die Hauptnahrung ist die so genannte balanda, eine dünne Suppe aus gekochtem Getreide. Das Brot kann man nicht essen: Wenn man es aufschneidet, findet man unter der Kruste statt Brotkrume kleine harte Krümel. Ein ehemaliger Häftlinge hat mir erzählt, dass er während seines fast zweijährigen Einsitzens in SISO Fleisch nur 15 bis 20 Mal bekommen habe, und dann in der Qualität von Abfall und in winzigen Mengen. Und das, obwohl Fleisch oder Fisch offiziell jeden Tag in der Häftlingsration von SISO, die staatlichen Prüfungsinstanzen vorgelegt wird, enthalten ist. Tee bekommen die Häftlinge nie.
Ein Treffen mit den Verwandten wird den noch nicht verurteilten Insassen nach Ermessen des Untersuchungsrichters nicht häufiger als zweimal pro Monat gestattet. Um die Erlaubnis für ein Treffen zu bekommen, müssen die unglückseligen Verwandten von nachts an Schlange stehen. Zudem sind sie während dieser Zeit Beleidigungen und Demütigungen ausgesetzt. Allerdings kann man sich auch einen Platz in der Schlange kaufen - man muss nur das Geld haben.
Nach den Worten meiner Klienten kann man im Gefängnis alles kaufen: Wodka, Drogen, Zigaretten. Gleichzeitig dürfen Häftlinge aber kein Geld bei sich haben. Allerdings haben die Leute, die vor ihrer Haft schon Geld hatten, auch im Gefängnis Geld. Eine mehr oder weniger anständige Zelle, die nicht so überfüllt ist wie die üblichen, heißt spez; um dort einsitzen zu können, muss man 100 Dollar pro Monat bezahlen. Einmal ist es vorgekommen, dass das Essen, als die Finanzierung ausgefallen war und die Lieferung ausblieb, von Verbrecherbanden von außerhalb ins Gefängnis geliefert wurde. Die Verbrecherwelt ist in so hohem Maße mit der Politik verflochten, dass es manchmal schwer fällt festzustellen, wo die Macht des Staates beginnt und die der Mafia endet.
Im SISO Nr. 1, das nach dem Namen der Straße, wo es sich befindet, Matrosskaja Tischina genannt wird und wie das Butirka-Gefängnis einen schlechten Ruf hat, sitzen ungefähr 5000 Menschen ein. Nach Schätzungen meiner Klienten kommen dort in einer Allgemeinzelle, einem so genannten obschak, auf einen Häftling 0,2 Quadratmeter Fläche. In einer Zelle mit 28 Betten werden 128 bis 130 Menschen "gehalten". Läuse, Wanzen, Krätze und Luftmangel sind an der Tagesordnung; ebenso Eitergeschwüre, die so lange nicht heilen, dass manchmal - wie im Fall eines meiner Klienten - der Beinmuskel durchfault. Die Häftlinge schlafen in vier Schichten neben- und übereinander auf den Betten, von denen immer zwei oder drei zusammengefügt sind, sowie unter den Pritschen. Die restliche Zeit stehen sie nebeneinander, dicht gedrängt, die Ausdünstungen voneinander einatmend, einander mit allen denkbaren Krankheiten ansteckend, einander und die ganze Welt hassend. Das alles kann sich ein normaler Mensch gar nicht vorstellen.
Sogar im Krankenhaus des Matrosskaja Tischina schläft man in Betten zu zweit, manchmal sogar in Schichten. Es ist außerordentlich schwierig, zum Arzt zu kommen und noch schwieriger, ins Krankenhaus verlegt zu werden. Man muss nicht einfach krank sein, man muss ein Behinderter sein oder sich in einem solchen Stadium der Krankheit befinden, dass man sich schon nicht mehr auf den Beinen halten kann. Bitten eines sich schlecht fühlenden Menschen an die Wachhabenden, ihn zum Arzt zu führen, werden nie beim ersten Mal erfüllt. Die Ärzte antworten bei praktisch allen, sogar bei sehr schweren Krankheiten auf eine Anfrage des Anwalts: Der Häftling "kann unter den Bedingungen des Untersuchungsgefängnisses gehalten werden". Ich hatte einmal einen Klienten im Alter von 22 Jahren, der als Asthmatiker den gesetzlichen Status "Behindert von Kindheit an" hatte und ohne ein Inhalationsgerät nicht auskommen konnte. Auch in Bezug auf ihn antworteten die Ärzte, dass er im Gefängnis "gehalten werden kann".
Nach den Schätzungen der Insassen des Matrosskaja Tischina werden in dem Gefängnis etwa 600 HIV-Infizierte festgehalten. Sie werden mit den anderen zusammengesteckt, und Gnade ihnen Gott, wenn die anderen zeki von ihrer Infektion erfahren. Dann besteht die Möglichkeit, dass sie die Kranken töten. Es gibt dort zur Zeit mehr als tausend Tuberkulosekranke. Für sie gibt es natürlich auch nicht genug gesonderte Zellen.
Die Verhältnisse zwischen den Insassen gestalten sich genau so wie in den Zeiten von Solschenizyn. Das Innenleben in Gefängnissen, Lagern und Untersuchungsgefängnissen verwalten pahani und avtoriteti - Strafgefangene, die von ihrem "Hofstaat" umgeben sind. Die Masse der einfachen Menschen werden muschiki genannt. Auf der niedrigsten Stufe der Gefängnisgesellschaft stehen maschki und petuchi - Männer, die zu homosexuellen Handlungen gezwungen sind. Das Leben eines petuch beginnt mit der ersten Vergewaltigung. Wer einmal zum petuch geworden ist, ist gezwungen, jedes Verlangen zu bedienen. Wehren darf er sich nicht.
Es ist wichtig, noch von einer besonderen Art Lager zu berichten, den Filtrationslagern. Sie existieren an Orten, wo Kriegshandlungen stattfinden - zum Beispiel in Tschetschenien. Dorthin kann jeder Beliebige gesteckt werden, ohne dass seine Rechte oder sein Leben garantiert sind. Keiner weiß, was dort vorgeht. Nach einigen Informationen wird dort auf alle Insassen nach Belieben eingeprügelt, manche werden einfach getötet. Über normale Lebensbedingungen und Ernährung kann man hier schon gar nicht mehr sprechen.
Nach dem Beschuss des Weißen Hauses, des Obersten Sowjets der UdSSR, im Jahr 1992 haben Verwandte von Menschen, die in Gefahr standen, in die Fänge des Staates zu geraten, den auch im Westen bekannten Menschenrechtler Kowalew um Schutz gebeten. Kowalew, der damals Jelzin unterstützte und Vorsitzender der Kommission der Duma für Menschenrechte war, antwortete nur abfällig: "Ich verteidige keine gemeinen Verbrecher!" Man sollte sie aber verteidigen, weil auch ein Verbrecher ein Mensch ist. Er verdient eine Strafe, aber keine mittelalterliche Folter, die ihn entweder töten oder in ein verrohtes, wildes Tier verwandeln kann.
aus: der überblick 01/2000, Seite 33
AUTOR(EN):
Alissa Turowa:
Alissa Turowa ist Anwältin und Strafverteidigerin in Moskau.