Mit den neuen Staatschefs in Algerien und Marokko verbinden sich große Hoffnungen Hoffnungen
Die Länder des Maghreb stehen alle vor großen Problemen, jedoch aus verschiedenen Gründen. Die Misere Algeriens ist das Ergebnis von Jahrzehnten sozialistischer Planwirtschaft und eines blutigen Bürgerkriegs; ihn muß der neue Präsident als erstes endlich beilegen. In Marokko dagegen ist die Zivilgesellschaft stärker; sie drängt den neuen König, die Öffnung des politischen Systems fortzuführen. Zudem belastet die ungelöste Frage der Westsahara das Land. In Tunesien dagegen ist anders als in Algerien und Marokko kein politischer Wandel in Sicht. Hier regiert ein Spitzel- und Unterdrückungsapparat, während es dem Land wirtschaftlich besser geht als seinen Nachbarn.
von Rudolph Chimelli
Wer die wichtigsten Maghreb-Länder und ihre Unterschiede auf die einfachste Formel bringen will, der kann folgendes Klischee benutzen: Marokko ist aristokratisch, Algerien ist proletarisch, Tunesien ist bürgerlich. Wie viele Stereotypen, so enthält auch dieses Wahrheiten - zumindest die, daß die Gegensätze in der Region schwerer wiegen als die Gemeinsamkeiten. Der Maghreb - das arabische Wort bedeutet "der Westen" - existiert nur als geographischer Begriff. Als politische Größe gibt es ihn nicht. Das zehnjährige Bestehen der Maghreb-Union hat daran nichts geändert. Die beteiligten Länder (Algerien, Marokko, Libyen, Tunesien und Mauretanien) treffen ihre Entscheidungen allein nach nationalen Interessen - oft im Konflikt mit den Staaten, die eigentlich ihre Partner sein sollten. Alle schauen nach Europa. Keiner sucht Modelle und Lösungen bei den Nachbarn. Ähnlich sind nicht die Lösungswege, sondern nur die Probleme, denn alle leiden unter hohem Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, Unterentwicklung und Armut.
Wer über den Maghreb berichtet, mußte viele Jahre lang immer wieder das gleiche Lied von Stagnation singen; nichts wandelte sich. Doch in diesem Jahr sind die Dinge in Bewegung geraten. Marokko hat einen neuen König, Algerien zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit einen gewählten Präsidenten, der kein Angehöriger des Militärs ist und ernsthaft die nationale Aussöhnung versucht, und Tunesien hat seine autoritäre Fassade mit den frischen Farben von Neuwahlen renoviert. Sogar Libyen strebt nach langen Jahren der Ächtung aus der internationalen Isolation. Die Hoffnungen, die sich an diese Veränderungen knüpfen, tragen in zwei der Länder Namen: König Mohammed VI. von Marokko und Präsident Abedelaziz Bouteflika von Algerien.
Für den algerischen Staatschef dürfte der Erwartungsdruck am größten sein. Er hat vor seiner Wahl im April und nochmals beim Referendum über das Gesetz zur nationalen Versöhnung im September ein Ende des blutigen Bürgerkrieges versprochen, der das Leben von mehr als 100.000 Algeriern gekostet hat. Alle Terroristen zu der Einsicht zu bewegen, daß ihr Verhalten verbrecherisch und aussichtslos ist, wird nicht einfach sein. Das gilt für den harten Kern der fanatischen Islamisten ebenso wie für die Gangsterbanden, die im Dienste politischer oder materieller Interessen morden und manipuliert werden. Immerhin ist das Vorhaben Bouteflikas nicht aussichtslos, denn die große Mehrheit sehnt sich nach Frieden.
Damit diese Hoffnung politisch wirksam wird, müssen freilich gemäßigte Islamisten einen Anteil an der Verantwortung erhalten. Erst dann läßt sich der See austrocknen, in dem der Fisch des Terrorismus schwimmt. Wie groß dieser Anteil ausfallen soll, darüber wird hinter den Kulissen hart gerungen. Noch schwieriger ist die Frage, wer unter den Gemäßigten dafür in Frage kommt: Die Teilhaber müssen beim islamischen Fußvolk angesehen und zugleich für die Generäle harmlos sein. Offensichtlich kommt Bouteflika mit der Lösung nur langsam voran, denn er regierte ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt noch immer mit dem Kabinett, das er von seinem Vorgänger geerbt hat. Dabei hat der Präsident mehrfach die unmittelbar bevorstehende Ernennung neuer Männer angekündigt, die mit neuen Besen den Augiasstall von Korruption und Unfähigkeit auskehren sollten. Im Oktober drohte Bouteflika den Militärs sogar mit Rücktritt. Das war Theaterdonner, aber der Staatschef weiß, daß mit der Zeit auch sein Vertrauenskapital zerrinnt.
Immer waren die Generäle die wahren Träger der Macht in Algerien. Sie wollen weder diese Macht noch die Pfründe, die mit ihr verbunden sind, aus der Hand geben. Das hohe und mittlere Korps der Funktionäre aus der ehemaligen Staatspartei ist sich darin mit den Militärs einig. Bei einer "nationalen Versöhnung", die wirklich diesen Namen verdient, wollen die Privilegierten aus der oberen Ebene der Hierarchie nicht über den Tisch gezogen werden, auch wenn die islamische Hand am Anfang wahrscheinlich sanft bleiben dürfte.
Doch Bouteflika hat mehr versprochen als Frieden. Etwa ein Drittel der Algerier sind arbeitslos; unter den Jungen unter 30 dürften es 60 Prozent sein. Die Schulen und Universitäten bringen alljährlich neue Divisionen von Absolventen hervor, die keine Stellen finden. Um unproduktive Staatsbetriebe zu sanieren, sind in den letzten drei Jahren 600.000 Beschäftigte entlassen worden. Die durchschnittliche Kaufkraft ist im Laufe des Jahrzehnts um 60 Prozent gesunken. Rund 40 Prozent der Algerier leben unter der statistischen Armutsgrenze. Aus den zehn Millionen Einwohnern des Unabhängigkeitsjahres 1962 sind dreißig Millionen geworden, und die Bevölkerung wächst weiter um 2,2 Prozent im Jahr. Auf der Liste des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), die die "menschliche Entwicklung" eines Landes nach Kriterien wie Sozialprodukt, Gesundheitsfürsorge, Erziehung und Lebenserwartung mißt, nahm Algerien 1998 Platz 82 und 1999 Platz 109 ein.
Fast zwei Drittel der Bevölkerung haben keine persönliche Erinnerung an den Befreiungskrieg gegen die Franzosen. Dieser Mehrheit junger Leute bedeuten nationale Mythen wenig. Bouteflikas Versprechen haben ihnen eine Perspektive geöffnet, zu der Arbeitsplätze, Wohnungen und die materiellen Voraussetzungen für eine Heirat gehören. Aber das Füllhorn des Präsidenten enthält in Wahrheit nicht viel. Das Land lebt von Erdöl- und Erdgasexporten. Sie erbringen 95 Prozent der Ausfuhrerlöse und 57 Prozent der Staatseinnahmen. Algerien verfügt über die zweitgrößten Gasreserven der Erde und steht bei den Ölvorräten an 14. Stelle. Aber eine Volkswirtschaft, die sich in so hohem Maße auf Energieerzeugung stützt, ist von Entwicklungen auf dem Weltmarkt abhängig, welche die Produktionsländer nicht kontrollieren. Zudem verschlingen Zinsen und Tilgung für die 30 Milliarden Dollar Auslandsschulden sowie der Import von Lebensmitteln und Konsumgütern den größten Teil der Einnahmen.
Eine kleine Schicht von Profiteuren - nur schätzungsweise 25.000 mit Beziehungen zu den Mächtigen - hat den Import monopolisiert. Bouteflika nennt die Mitglieder dieser Clique "Herr Zucker, Herr Kaffee, Herr Autoreifen". Insgesamt 85 Prozent der Nahrung müssen eingeführt werden, denn die algerische Landwirtschaft ist als Folge der Übernahme des osteuropäischen Kolchos-Systems in beklagenswertem Zustand. In dem riesigen Land werden nur 7,6 Millionen Hektar bestellt (in der Bundesrepublik 17,2 Millionen Hektar), während 1,5 Millionen Hektar brach liegen. Dabei leben 60 Prozent der Bevölkerung, mehr als 16 Millionen Menschen, von dieser Landwirtschaft. Europas Supermärkte sind voll von marokkanischen Zitrusfrüchten und Olivenöl tunesischer Herkunft, aber niemand im Ausland hat je eine algerische Orange gesehen.
Damit auch in Algerien eine moderne Agro-Industrie entstehen kann, müssen sich zuerst die Besitzstrukturen ändern. Es scheint kein Zufall zu sein, daß die schlimmsten Schlächtereien der Terroristen, die zur Massenflucht der Bewohner geführt haben, auf den fruchtbaren Böden der Region Mitidscha rund um die Hauptstadt Algier verübt wurden. Ähnlich halfen radikale Islamisten auch bei der Privatisierung unrentabler Industrien. Notorisch ist der Fall des staatlichen Zementwerkes von Meftah, das ständig Defizite und zu viele Arbeitskräfte hatte. Es flog eines Nachts in die Luft. Den Zement liefern seither private Gesellschaften.
Die besonderen Nöte Algeriens sind ohne einen Exkurs in die Vergangenheit nicht zu verstehen. Anders als Marokko oder Tunesien war Algerien vor der Kolonisierung nie ein Staat, auch nicht im islamischen Mittelalter, bevor der Küstenstrich nominell unter die Hoheit der Osmanen in Istanbul geriet. Dem arabischen Geschichtsphilosophen Ibn Khaldun fiel bereits im 14. Jahrhundert "die Schwäche des mittleren Maghreb" auf. Die Herrschaft des Bei von Algier reichte nie über das Hinterland hinaus. Die Berge, die hohen Plateaus, die Wüste gehörten einer feudalen Stammesgesellschaft von Bauern oder Beduinen. Auch sprachlich bestand keine Einheit. Berber-Idiome wechseln regional bis heute mit Dialekt-Arabisch ab. Es gab keine wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Eliten und keine produktive städtische Oberschicht. Als die Franzosen gingen, konnte sich die Befreiungsarmee auf keine Erfahrungen mit Selbstverwaltung oder Autonomie stützen. Das Algerien Bouteflikas hat ein Mehrparteiensystem, wenn auch die Islamische Rettungsfront FIS, die aus den Wahlen Ende 1991 als stärkste Partei hervorging, verboten bleibt. Das Land hat eine freie Presse. Aber eine funktionierende Zivilgesellschaft existiert weder im traditionellen noch im modernen Sinne.
Ganz anders Marokko. Schon der verstorbene König Hassan II. hatte auf geschmeidige Art den Übergang von einem autoritären Regime zu einer parlamentarischen Regierung geschafft. Sein Sohn übernahm eine formale Demokratie, in der es Parteien gibt, ein vom Volk gewähltes Parlament und eine von dem Sozialisten Abderrahmane Youssoufi geführte Koalitionsregierung. Sie ist dem König verantwortlich, aber auch dem Parlament.
Bei der Parlamentseröffnung nannte Mohammed VI. eine deutliche Trennung der Gewalten "die Grundlage der Demokratie". Tatsächlich aber treffen die drei Gewalten in der Person des Monarchen wieder zusammen. Er ernennt den Premierminister und kann wichtige Kabinettssitzungen leiten. Er kann durch königliche Erlasse am Parlament vorbeiregieren. Er ist Vorsitzender des Obersten Gerichts. Und als "Fürst der Gläubigen" (Amir al-Muminin) ist er noch dazu höchste religiöse Autorität des Königreichs. Auch in der Regierung Youssoufi bleiben die wichtigsten Ministerien von Vertrauensleuten des Königs besetzt und sind nicht Teil der Koalitionsabsprachen zwischen den Parteien. Diese sogenannten "Souveränitäts-Ministerien" sind Inneres, Verteidigung, Justiz, Religiöse Angelegenheiten und Außenbeziehungen. Fernsehen und Radio sind fest in Händen der Obrigkeit. Die Presse und politische Sprecher können dagegen im Marokko von heute Skandale anprangern, Mißstände aufdecken, soziales Unrecht anklagen, sogar Verletzungen der Menschenrechte diskutieren. Nur an drei Tabus darf niemand rühren: Die Monarchie in der Person des Königs, der Islam als Staatsreligion und die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko sind heilig.
Nach wie vor steht der Zankapfel Westsahara zwischen Marokko und Algerien. Seit König Hassan II. vor bald einem Vierteljahrhundert das vormals spanische Territorium mit seinem "Grünen Marsch" annektiert hat, unterstützt Algerien die Befreiungsbewegung Polisario. Die Regierung der "Demokratischen Arabischen Republik Sahara" befindet sich in den Flüchtlingslagern im algerischen Tindouf, nahe der Grenze zu Marokko. Militärisch ist der Konflikt längst zugunsten Marokkos entschieden: Gegen den elektronisch geschützten Sandwall, den die Marokkaner um den wirtschaftlich nützlichen und bewohnten Teil der Sahara gelegt haben, rennt die Polisario seit vielen Jahren nicht mehr an. Politisch indessen ist die Sache nicht ausgestanden. Unter vielfachem internationalem Druck mußte sich Marokko auf ein Referendum einlassen, das freilich immer wieder verschoben wird. Der nächste vorläufige Abstimmungstermin ist der Juli 2000. Der frühere König und sein allmächtiger Innenminister Driss Basri haben mehrfach von einem "Bestätigungsreferendum" gesprochen, was den Schluß erlaubt, daß die Marokkaner die Abstimmung erst zulassen werden, wenn an einem für sie günstigen Ausgang kein Zweifel mehr besteht. Der junge König hat nicht zu erkennen gegeben, daß sich an dieser Haltung etwas geändert hat.
Als sowohl in Algier als auch in Rabat fast gleichzeitig ein neuer Präsident und ein junger König das Ruder in die Hand nahmen, erhoben sich Hoffnungen auf eine Beilegung des unfruchtbaren Streits. Bouteflika ist in der marokkanischen Stadt Oujda, dicht an der Grenze zu Algerien geboren. Er hat dort seine Jugend verbracht und hat immer noch gute Verbindungen dorthin. Bei der Beerdigung Hassans II. umarmte Bouteflika den trauernden Mohammed. Bald danach besuchte Driss Basri den Präsidenten in Algerien.
Aber aus der Versöhnung ist nichts geworden. Die seit Jahren heftigsten Unruhen in der Westsahara brachen Ende September in der Provinzhauptstadt Al-Ayoun aus, als Mohammed VI. bereits regierte. Die seit 1995 geschlossene Grenze zwischen Algerien und Marokko bleibt gesperrt. Alsbald erhob Bouteflika schwere Beschuldigungen, daß algerische Terrroristen sich nach Massakern nach Marokko zurückziehen könnten. Ebenso ungehalten verbat sich Marokko in Gestalt von Innenminister Driss Basri die Vorwürfe. Seither sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder erstarrt.
Hinter dem akuten Streit verbirgt sich das tiefere Problem, wer von den beiden die Vormacht in der Region sein soll. Die Marokkaner würden sich als Verlierer fühlen, wenn ein von Algier abhängiges Polisario-Regime die Westsahara übernähme. Ein erweiterter algerischer Machtbereich, der Marokko im Süden umfaßt und bis an den Atlantik reicht, wäre ein Alptraum für Marokko.
Mohammed VI. wohnt nicht im Palast seines Vaters, sondern ist auch als König in der Villa in Saleh bei Rabat geblieben, die er schon als Prinz bewohnt hatte. Zu seinem Büro im Palast fährt er jeden Morgen im Auto. Manchmal sitzt er selbst am Steuer. Es soll sogar vorgekommen sein, daß der König an einer roten Ampel hält. Er hat die Kontrolle des langjährigen Innenministers Driss Basri über den Inlands-Sicherheitsdienst zunächst eingeschränkt, indem er einen Oberstleutnant zu dessen Chef ernannte. Auch der bisherige Verbindungsmann Marokkos zur UN-Mission für das Sahara-Referendum (Minurso) ist abgelöst worden. Er war ein Vertrauensmann Basris. Schließlich ist Basri selbst abgesetzt worden.
Reformen des politischen Systems Marokkos, die tiefer greifen würden, zeichnen sich aber noch nicht ab. Die "spanische Lösung", ein gleitender Übergang von einem autoritären Regime zur konstitutionellen Monarchie, wird oft von Kommentaren beschworen. Häufig spricht der König von den sozialen Problemen des Landes, von den Sorgen der Slum-Bewohner, von der Rückständigkeit des flachen Landes, von der Arbeitslosigkeit. Es stört ihn nicht, wenn er "König der Armen" genannt wird.
Wunder kann Mohammed VI. jedoch ebensowenig vollbringen wie sein Premierminister Youssoufi. Die Verwaltung, über deren Unfähigkeit und Korruption alle klagen, verschlingt die Hälfte der Staatseinnahmen. Für die Bedienung von 22 Milliarden Dollar Auslandsschulden müssen weitere 30 Prozent der öffentlichen Mittel aufgewandt werden. Für Sozialreformen bleibt wenig übrig. Linke Sozialisten in der Regierung hatten sich ein "politisches Budget" gewünscht, mit einem Defizit bis zu fünf Prozent, um der Regierung populäre Schubkraft zu verschaffen. Aber daraus ist nichts geworden.
Marokko ist kein Ölland. Noch sind 85 Prozent der Dörfer ohne Strom, 70 Prozent ohne einwandfreies Trinkwasser, und fast 60 Prozent sind nicht auf einer befestigten Straße zu erreichen. Nicht einmal jeder zweite Marokkaner kann lesen und schreiben. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit 26 Prozent beziffert, ist aber höher, besonders auf dem Land. Immer wieder kampieren arbeitslose Hochschulabsolventen und Akademiker vor Regierungsgebäuden, manchmal wochenlang. Seit Mohammeds Thronbesteigung sind sie zahlreicher als je zuvor. Sand gibt es in Marokkos Wüsten und im Getriebe dort genug, aber in der politischen Sanduhr des Landes und seines Monarchen sind die Reserven begrenzt.
In Tunesien hat sich durch die jüngsten Wahlen wieder einmal gar nichts verändert. Präsident Zine al-Abidine Ben Ali bleibt Alleinherrscher. Seine Partei, der jeder sechste Tunesier angehört, ist praktisch mit dem Staatsapparat identisch. Sie dominiert das Parlament, in dem die erlaubten sechs Oppositionsparteien dank einer Sonderregelung zwar 20 Prozent der Sitze besetzen durften, aber völlig ohne Einfluß sind. Die Islamisten sind im Gefängnis oder in der Emigration. Die meisten der 2000 politischen Häftlinge Tunesiens, von denen Amnesty International in seinem jüngsten Bericht spricht, dürften Islamisten sein. Zeitungen, Fernsehen und Hörfunk sind gleichgeschaltet. Der Unterdrückungs- und Bespitzelungsapparat arbeitet gnadenlos. "Wenn nicht ich einer von ihnen bin, dann bist du es", lautet ein Witz, mit dem in Tunesien viele Gespräche beginnen.
Aber es geht den Tunesiern besser als den Nachbarn im Maghreb. Wirtschaftlich hat das Land in den zwölf Jahren, seit Ben Ali den Staatsgründer Bourguiba abgesetzt hatte, große Fortschritte gemacht - obwohl es nur über wenig natürlichen Reichtum verfügt. Bei jährlichen Wirtschaftswachstumsraten um die fünf Prozent ist der Lebensstandard höher als in Algerien oder Marokko. Die Lebenserwartung steigt, und auf 1500 Menschen kommt ein Arzt. Unter den Jugendlichen gibt es so gut wie keine Analphabeten mehr. Beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank gilt Tunesien als Musterknabe. Und den meisten Einwohnern des kleinen Landes genügt schon ein Blick über die nah gelegene algerische Grenze, um zu begreifen, daß sie die Wunderkinder des Maghreb sind.
aus: der überblick 04/1999, Seite 6
AUTOR(EN):
Rudolph Chimelli:
Rudolph Chimelli ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und lebt in Paris.