Der Ökumenische Rat der Kirchen vor der 9. Vollversammlung
Es sind diesmal nicht die Globalisierungskritiker, die sich im Februar 2006 in Porto Alegre im Süden Brasiliens zum Weltsozialforum versammeln. Es sind rund 3000 Kirchenmenschen, die unter dem Leitwort »In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt« zur 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) zusammenkommen. Globalisierungskritik und wirtschaftliche Gerechtigkeit stehen dort auch auf der Tagesordnung.
von Tim Kuschnerus
Porto Alegre ist zum Synonym für das Weltsozialforum geworden. Viermal hat diese globale Diskussionsveranstaltung bislang mit jeweils weit über 100.000 Teilnehmenden in der südbrasilianischen Hafenstadt stattgefunden, zuletzt im Januar/Februar 2005. Vom 14. bis 24. Februar 2006 kommen nun 700 Delegierte der nunmehr 347 Mitgliedskirchen des »Ökumenischen Rates der Kirchen« dort zusammen, dazu viele Gäste und Beobachter. Tagungsort ist das moderne Konferenzzentrum der »Päpstlichen Katholischen Universität von Rio Grande do Sul«. Gastgeber sind die lokalen Mitgliedskirchen des ÖRK und der Nationalrat der christlichen Kirchen in Brasilien (CONIC).
Porto Alegre ist auch der Sitz der Kirchenleitung der »Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien« (IECLB). Deutsche Einwanderer hatten sie im Jahr 1824 in der Nachbarstadt Svo Leopoldo gegründet. Bis heute leben im Süden des von der römisch-katholischen Kirche geprägten Landes viele Lutheraner. Unter den Protestanten sind sie jedoch eine kleine Minderheit. 85 Prozent der 25 Millionen Protestanten gehören nämlich Pfingstkirchen an, die in den meisten Fällen nicht mit dem ÖRK zusammenarbeiten (vergl. »der überblick« 1/2005).
Wie das Weltsozialforum organisiert auch der ÖRK in kleinerem Umfang mit dem Mutirvo einen Ort für zahlreiche Workshops, Ausstellungen und Gottesdienste zu aktuellen Themen und Anforderungen, denen sich der ÖRK und die ökumenische Bewegung gegenübersehen. Zielgruppe sind die ökumenische Basis, die Jugend, aber auch die Delegierten selbst. Die täglichen Bibelarbeiten und Gottesdienste stehen allen Teilnehmenden offen.
Die Vollversammlung findet alle sieben Jahre statt. Hauptaufgabe der Delegierten ist es, die Programme und die inhaltliche Orientierung der Arbeit der kommenden Jahre zu überprüfen. Außerdem sind der 150 Personen umfassende Zentralausschuss sowie das Präsidium zu wählen. Zu den 19 deutschen Delegierten gehören Dr. Margot Käßmann, Landesbischöfin und Mitglied des Rates der EKD, und fünf Jugendvertreter. Weitere deutsche Mitgliedskirchen des ÖRK, beispielsweise die Evangelisch-methodistische Kirche oder die Mennoniten, sind ebenfalls vertreten.
»In Porto Alegre, der Wiege des Weltsozialforums, « so ÖRK-Präsident Federico Pagura aus Argentinien, »werden uns die sozialen Bewegungen herausfordern: 'Glaubt ihr auch, dass eine andere Welt möglich, notwendig, dringlich, unentbehrlich ist?'« Im Plenarsaal der Päpstlichen Katholischen Universität stehen auch Globalisierungskritik und Fragen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit (siehe auch den Artikel von Ulrich Möller in diesem Heft) auf der Tagesordnung. Es gibt außerdem Plenarsitzungen zum lateinamerikanischen Kontext, zum christlichen Zeugnis, zur kirchlichen Einheit sowie zum Thema »Junge Menschen überwinden Gewalt«.
Jenseits der »Experten-Ökumene« hat wohl die Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001 bis 2010) in den letzten Jahren die größte Aufmerksamkeit erzielt. Auf der letzten ÖRK-Vollversammlung 1998 in Harare, Simbabwe, beschlossen und auf der Zentralausschusssitzung 2001 in Berlin-Potsdam eröffnet, wurde damit ein Thema zur Diskussion gestellt, das sehr viele Menschen betrifft und zur Mitwirkung anregt. Zur Halbzeit sind bereits Erfolge sichtbar: Bis auf die Ebene der Ortsgemeinden ist in vielen Mitgliedskirchen das Nachdenken über den Friedensauftrag der Kirche und zu einer Spiritualität der Gewaltfreiheit vorgedrungen. Methodische Akzente der Dekade beispielsweise sind das Erzählen von Erfolgsgeschichten und ein Internetportal. In Deutschland haben sich sehr viele junge Menschen an den verschiedenen Aktivitäten beteiligt.
Wenn jetzt Zwischenbilanz gezogen wird, erwartet Fernando Enns, stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland und Mitglied des ÖRK-Beratungskreises zur Dekade, dass die Kirchen ihr Potential noch engagierter nutzen: »Ich sehe in den Zivilbewegungen sehr viel mehr innovative und mutige Schritte gegen Gewalt. Und ich wünschte, wir Christinnen und Christen, die Kirchen, wären ähnlich mutig, wenn es darum geht, sich gewaltfrei für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen. Wir haben das größte Netzwerk auf Erden und nutzen es doch so wenig.«
Innerhalb des ÖRK haben aber Konfessionalismus und Partikularinteressen von Mitgliedskirchen weiter zugenommen. Zusammen mit seinen einst finanzstarken Mitgliedern in Europa und Nordamerika müssen der ÖRK und die ökumenische Bewegung einen weitreichenden Verlust an Einfluss und Bedeutung in den westlichen Industrienationen beklagen. Die Einnahmen gehen kontinuierlich zurück, der Mitarbeiterstab und die programmatische Arbeit mussten in den letzten Jahren mehrfach umstrukturiert und reduziert werden.
Auf welche Weise die ökumenische Bewegung im 21. Jahrhundert neu gestaltet werden kann, wurde im November 2003 in Antelias, Libanon, und im Dezember 2004 in Genf auf zwei große Konsultationen beraten. Der Vorsitzende des Zentralausschusses, Aram I, Katholikos der Armenischen Apostolischen Kirche im Libanon, räumte in Genf ein: »Die Menschen sind der institutionalisierten ökumenischen Bewegung überdrüssig. Sie wollen, dass sich die Ökumene aus den engen Grenzen der Institutionen befreit und sich wieder als eine der Zukunft zugewandte Bewegung zeigt.« Generalsekretär Sam Kobia unterstützte diesen Kurs: »Der ÖRK ist bereit, sich zu verändern, aber in diesem Prozess geht es nicht vorrangig um den ÖRK. Es geht um die Neugestaltung der gesamten ökumenischen Bewegung.« Beide haben nur eine Zukunft, wenn sie sich den Herausforderungen stellen und Antworten darauf finden.
Das Reden von der »Krise der ökumenischen Bewegung« mag inzwischen niemand mehr hören. Die Aufgabe jedoch bleibt: Wie kann die Institution ÖRK erneuert werden? Der Zentralausschuss hat sich auf seiner letzten Sitzung im Februar 2005 mit einer Evaluierung der gesamten Programmarbeit befasst. Man wollte herausfinden, welchen Stellenwert die Programme für die Mitgliedskirchen und die ihnen angehörenden Christinnen und Christen haben. Eine derartige Analyse hat es bis dahin nicht gegeben. Ebenso wichtig erscheint eine Evaluierung der schwerfälligen Leitungsstrukturen des Rates.
Als neue Arbeitsform sind in Porto Alegre so genannte ökumenische Gespräche geplant. Delegierte und akkreditierte Beobachter werden sich in diesem Rahmen auch mit dem Prozess der ökumenischen Umgestaltung (reconfiguration) befassen. Dieser soll nicht nur eine neue Struktur hervorbringen, sondern auch neue theologische Impulse und ein neues Selbstverständnis. Weitreichende Verfassungsänderungen können in Porto Alegre aber nicht beschlossen werden. Entsprechende Vorschläge hätten bereits vom Zentralausschuss im Februar vorbereitet und den Mitgliedskirchen sechs Monate vor der Vollversammlung zugeleitet werden müssen. Geplant ist lediglich eine Verfassungsänderung, wonach über Anträge auf Mitgliedschaft im Konsensverfahren entschieden wird.
Eine Änderung der Geschäftsordnung wurde vom Zentralausschuss ebenfalls beschlossen. Abstimmungen in Plenar- und Ausschusssitzungen sollen demnach nicht mehr aufgrund von Mehrheiten, sondern nach dem Konsensprinzip entschieden werden. Die Einführung dieses Verfahrens war eine der Empfehlungen der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK. Schon lange hatten orthodoxe Kirchen beklagt, dass sie in dem von westlich-protestantischem Ethos geprägten ÖRK zu wenig Gehör fänden und in Konfliktfällen immer überstimmt worden seien (vergl. »der überblick« 3/98). Der ÖRK stand vor einer Zerreißprobe, und die große russische orthodoxe Kirche drohte mit Austritt.
Die Spaltung konnte abgewendet werden. Kritiker befürchten jedoch, dass strittige Fragen und Konflikte, etwa Debatten über Sexualität, dem Konsensprinzip zum Opfer fallen werden. Das bestreiten die Befürworter. Es gehe vielmehr um einen Geist des offenen Zuhörens und eine neue Gesprächskultur. Auch könne eine Mehrheit von 85 Prozent eine formale Abstimmung einfordern. Einig ist man sich darin, dass das neue Verfahren viel Übung und Zeit benötigt. Allen Delegierten wird ein Handbuch zum Konsensverfahren zur Verfügung gestellt. Doch manche stellen auch die bange Frage, ob ÖRK überhaupt noch die Zeit hat, sich so lange und intensiv mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn die Genfer Ökumene eine Zukunft haben soll, sind weitreichende und mutige Veränderungen nötig. Hierzu gehören eine Verschlankung der Institution und ihrer Leitungsstrukturen und eine weitreichende Reduktion der Programmarbeit. Der ÖRK sollte seine Funktion als weltweite, ökumenische Plattform stärken und bis auf wenige Ausnahmen keine eigenen Programme durchführen. Nicht zuletzt sollten völlig neue Formen der Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche, mit der Pfingstbewegung und weiteren Akteuren im ökumenischen Kontext entwickelt werden.
Wird sich die Aura von Porto Alegre auf die ÖRK- Vollversammlung übertragen? Das Weltsozialforum bekräftigte immer wieder: Eine andere Welt ist möglich! Das Leitwort der Vollversammlung erscheint ähnlich. »In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt.« Die Berufung auf Gottes Gnade verdeutlicht zwar, dass nicht wir Menschen allein diese Welt verändern können. Aber, so schreibt die mexikanische Theologin Elsa Tamez in einer Meditation über das Leitwort: »Wenn Gott an uns in Gnade handelt, wird auch von uns erwartet, dass wir so handeln, und zwar gegenüber unseren Brüdern und Schwestern, die sich der Gnadenlosigkeit dieser Welt ausgesetzt fühlen.« Nicht mehr, aber auch nicht weniger darf von der Vollversammlung erwartet werden.
aus: der überblick 04/2005, Seite 66
AUTOR(EN):
Tim Kuschnerus
Tim Kuschnerus ist evangelischer Theologe. Er hat neun Jahre als Referent für Menschenrechte und Ökumene im Kirchenamt der EKD in Hannnover gearbeitet. Seit 2001 ist er Leiter des Referats für »Weltweite Programme, Osteuropa und Nahost« im Evangelischen Entwicklungsdienst.