Die Auflösung staatlicher Institutionen gefährdet den Demokratisierungsprozess
Auch wenn die Wahlen nicht manipuliert werden, bedeutet der Sieg
einer Partei oder eines Parteienbündnisses in Mexiko noch nicht, dass die
Demokratie verankert ist. Eine Erneuerung und Stärkung des Staates und
seiner Institutionen sind nötig, damit er das Allgemeinwohl gegenüber
mächtigen Einflussgruppen schützen kann und erst wirklich zum Staat
aller Bürger wird.
Am 2. Juli 2000 werden in Mexiko Wahlen stattfinden. Es wird sich um ein
herausragendes Ereignis in der politischen Geschichte des Landes handeln. Das
wichtigste ist, dass diese Wahlen ein Kräftemessen sein werden, dessen
Regeln von Gesetzen und Institutionen bestimmt sind, auf die sich alle Parteien
geeinigt haben. Das bedeutet, dass die jetzige Regierung keine Möglichkeit
mehr haben wird, auf den Wahlvorgang und die Stimmenauszählung Einfluss zu
nehmen. Ebenso bedeutsam ist, dass die wichtigsten Parteien über mehr als
genügend Geld verfügen, das nach einheitlichen Kriterien verteilt
wurde. Es gibt also keine illegitimen Privilegien mehr, die es der Partido
Revolucionario Institucional (PRI, Partei der Institutionalisierten
Revolution) jahrzehntelang erlaubt haben, sich den Sieg schon zu sichern, bevor
überhaupt der Wahlkampf eröffnet war. Oft kamen Manipulationen oder
Betrug bei der Auszählung der Stimmen noch hinzu.
von Luis Salazar Carrión
Wichtig ist nicht zuletzt, dass sich im Unterschied zu früher heute drei Parteien gegenüberstehen, die im ganzen Land über Anhänger und Einfluss verfügen und in vielen Gemeinden, Städten und Bundesstaaten die Regierung stellen: die schon genannte PRI, die Partido Acción Nacional (PAN, Partei der Nationalen Aktion) und die Partido de la Revolución Democrática (PRD, Partei der Demokratischen Revolution). Mexiko ist also nach einem langen und von Rückschlägen begleiteten Prozess endlich bei einem Wahlsystem und einem Parteiensystem angelangt, welche wirklich einen Regierungswechsel ermöglichen – eines der wesentlichen Charakteristika der modernen repräsentativen Demokratie.
In diesem Zusammenhang erlaubt es das in allen Umfragen vorausgesagte Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Kandidaten der PRI, Francisco Labastida, und Vicente Fox, dem Kandidaten der Allianz für den Wandel (das ist ein Bündnis zwischen PAN und der kleinen Grünen Partei Mexikos), die Möglichkeit einer Niederlage der Staatspartei nach siebzig Jahren ununterbrochener Vorherrschaft ins Auge zu fassen. Nachdem die PRI in den Parlamentswahlen von 1997 ihre absolute Mehrheit eingebüßt hat, eröffnen die Präsidentenwahlen 2000 die völlig neue Perspektive, dass die Partei, die länger als jede andere im 20. Jahrhundert an der Macht war, schließlich besiegt wird und die Macht abtreten muss. Angesichts der eigentümlichen Charakteristika des politischen Systems in Mexiko ist das viel bedeutsamer und schwieriger als ein normaler Regierungswechsel in einer normalen Demokratie.
Um dies zu verstehen, muss man sich einige wesentliche Züge des politischen Systems vergegenwärtigen, das Mexiko geprägt hat, seit in den dreißiger Jahren der damalige "oberste Chef der Revolution" Plutarco Elías Calles die Nationalrevolutionäre Partei, die Vorgängerin der PRI, gründete. Er wollte so die politischen Fraktionen organisieren und disziplinieren, die aus einer großen sozialen Bewegung, der Mexikanischen Revolution in den Jahren 1910 bis 1917, hervorgegangen waren. Für die geballte Macht zunächst des Caudillo und später des Regierungschefs konstruiert, umfasste diese gigantische politische Maschinerie schon bald den größten Teil der politischen Kräfte des Landes und absorbierte kurze Zeit später die Mehrheit der Führer und Funktionäre der wichtigsten Bauern- und Arbeiterorganisationen. Auf diese Weise konnte sich der Staat, der aus der Revolution hervorgegangen war, einen Apparat schaffen, der im Rahmen eines überkommenen, fast feudal anmutenden Klientelsystems ganz unterschiedliche Interessen legitimierte und disziplinierte. Dieser Apparat war gleichzeitig in der Lage, als Wahlkampfinstrument der "Revolutionsregierungen" zu dienen und die schwächlichen unabhängigen oder oppositionellen Parteien dazu zu bringen, dass sie sich freiwillig oder unfreiwillig in seine Abhängigkeit begaben.
So bildete sich ein politisches System heraus, das erfolgreich den Anschein pluralistischer Demokratie zu verbinden wusste mit der autoritären Realität einer ungewöhnlichen Konzentration der Macht in den Händen des jeweiligen Chefs der Exekutive. Dank der Maschinerie einer faktischen Einheitspartei konnte er jahrzehntelang die Legislative, die Judikative und die Vertreter der Kommunen und Bundesstaaten unter Kontrolle halten. Die große Wirksamkeit und Stabilität dieses Systems können unter anderem mit seiner Originalität erklärt werden, genauer gesagt damit, dass es Extreme vermied. Es gab in Mexiko nie eine Ein-Mann-Diktatur wie die Francos, nie eine Militärdiktatur, wie sie so viele lateinamerikanische Länder erdulden mussten, und nie ein totalitäres Regime wie in Ländern des so genannten Realsozialismus.
Weil es den formaldemokratischen Anschein mit einer zwar autoritären, aber auf Institutionen gegründeten Logik verband, konnte sich das mexikanische System lange Jahre auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen. Sein Ursprung lag darin, dass die Forderungen der breiten Massen, die sich in der Revolution erhoben hatten, anerkannt wurden. Zugleich konnte das System teilweise und willkürlich bürgerliche und politische Freiheiten gewähren, wie sie die moderne Demokratie kennzeichnen. An den Wahlen nahmen loyale Oppositionskräfte teil, die zwar nicht die Hegemonie der PRI bedrohten, aber wenigstens bis zu einem gewissen Grad ermöglichten, dass sich ein wachsender gesellschaftlicher Pluralismus Ausdruck verschaffen konnte.
Das erklärt den flexiblen Reformismus, der es erlaubte, das System schrittweise zu erneuern und auf die Interessen und Forderungen einer immer komplexer und aktiver werdenden Gesellschaft einzugehen. Während andere autoritäre Regimes zusammenbrachen oder von den Wogen einer Demokratiebewegung hinweggespült wurden, ermöglichte diese Flexibilität, dass es in Mexiko einen langandauernden, langsamen und zwiespältigen Prozess allmählicher und stets unzulänglicher Veränderungen gab, die in der Regel das Ergebnis von Verhandlungen waren. Dieser Prozess führte schließlich zur Bildung konkurrenzfähiger, pluralistischer Parteien und eines entsprechenden Wahlsystems. Im Gegensatz zu den Staatsparteien sowjetischen Typs ist es der PRI gelungen, solche Reformen zu überstehen, denn sie hat, wenn auch nicht ohne Blessuren und Verschleißerscheinungen, gelernt, wie man Wahlen gewinnt. Zugleich brachten diese Reformen Oppositionsparteien hervor, die zunehmend besser in der Lage waren, die Machtfrage zu stellen.
Es gab also keinen Zusammenbruch der Institutionen und auch keine Rückkehr irgendwelcher Militärs in die Kasernen. Es gab weder den Tod eines Diktators noch einen Pakt, der ein neues Regime aus der Taufe heben soll. Es gab stattdessen eine langsame, sehr langsame Entwicklung, in deren Verlauf sich Veränderungen in Teilbereichen anhäuften, Fortschritte bei der Liberalisierung erzielt und mehr Rechte erkämpft wurden. Zum Teil wurde dieser Prozess durch demokratische Bewegungen wie die Studentenbewegung von 1968 vorangetrieben, zum Teil auch von oben, wie mit der "Politischen Reform", die das Regime in den siebziger Jahren durchführte. Zum Teil war er das Ergebnis der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung. Diese hatte unter den Krisen zu leiden, die zuerst durch eine übertriebene Abschottung des Binnenmarktes und später durch die Versuche ausgelöst wurden, neoliberale Rezepte anzuwenden. Zum Teil beruhte der Prozess auch auf der Bereitschaft der Regierung, als Ausgleich für die soziale Verelendung in Folge der Strukturanpassungspolitik demokratische Freiheiten anzubieten.
Mit Sicherheit gehört in Mexiko das faktische Einparteiensystem der Vergangenheit an. An seiner Stelle gibt es heute ein System konkurrierender Parteien sowie Gesetze und Institutionen, die einen Regierungswechsel möglich machen und vor allem ermöglichen, dass die Stimmen der Bürger zählen und korrekt gezählt werden. Mit anderen Worten, es ist Mexiko gelungen, von einem autoritären Regime eigener Prägung zu einer repräsentativen Demokratie überzugehen, die die Grundforderungen jeder Theorie der modernen Demokratie erfüllt.
Allerdings haben die Krisen der letzten Jahrzehnte und die schädlichen sozialen Folgen des auf Export ausgerichteten neuen neoliberalen Wirtschaftsmodells die politischen und sozialen Gegensätze verschärft und dazu geführt, dass die staatlichen Institutionen immer weniger in der Lage sind, der wachsenden Probleme Herr zu werden. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen wurden die Fundamente des alten Stände- und Klientelstaats untergraben. So hat sich das Land sicherlich von Mechanismen befreit, die den Bürgern Rechte vorenthalten hatten. Aber weil sich die politischen Kräfte fast ausschließlich auf das Thema Wahlen konzentrieren, versäumen sie, die neuen Institutionen und den neuen Staat aufzubauen, die in der Lage wären, diese Bürgerrechte mit Leben zu erfüllen und sie wirksam zu schützen.
Um diesen Rechten Geltung zu verschaffen – so haben viele Beispiele des Übergangs zur Demokratie in jüngster Zeit gezeigt –, reicht es nicht aus, die autoritären Apparate zu zerstören oder die machtvollen Hierarchien niederzuringen, die sich im Staatsapparat eingenistet haben. Es ist vielmehr unerlässlich, Organe der Staatsmacht zu schaffen, die in der Lage sind, dafür zu sorgen, dass die Gesetze respektiert und eingehalten werden. Der mexikanische Staat besaß schon immer nur schwache Institutionen, was den Patrimonialismus und die Korruption erklärt, die ihn seit jeher charakterisiert haben. Jetzt muss er gleichzeitig von den antiautoritären Bewegungen und von der neoliberalen Politik Schläge einstecken. So ist er schließlich noch weiter geschwächt worden. Der Staat steht unter dem Druck transnationaler Finanz- und Wirtschaftsmächte und gleichzeitig unter dem religiöser und ideologischer Machtzentren, die sich den Prestigeverlust der öffentlichen Institutionen zu Nutze machen. Und er sieht sich herausgefordert durch die Forderungen und Revolten großer Teile der Bevölkerung, die die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Interessen und Hoffnungen ignoriert werden. Hinzu kommen noch die Probleme, die sich aus dem weltweit zunehmenden organisierten Verbrechen ergeben. Daher ist es dringend nötig, den mexikanischen Staat zu erneuern und zu stärken, wenn das Land nicht in Unregierbarkeit und institutioneller und sozialer Auflösung versinken soll.
Paradoxerweise haben sich gerade die Fortschritte der Demokratisierung und die Errungenschaften eines wettbewerbsorientierten politischen Pluralismus bisher als Hindernis für diese dringende Reform des Staates erwiesen. Der Übergang von einem System, in dem die Wahlen nicht einmal ihrer rein symbolischen Funktion gerecht wurden, zu einem System, in dem sie entscheidend für die Regierungsbildung sind, hat die übertriebene Erwartung geweckt, dass alle Probleme und Konflikte durch Wahlen gelöst werden könnten. Das hat auch zu einer unnötigen Polarisierung geführt, die Übereinkünfte und Kompromisse erschwert oder gar ausschließt. Jetzt wird Politik im Sinne von Verhandlung und Übereinkunft verachtet und lieber als Konfrontation antagonistischer Kräfte verstanden, als unversöhnlicher Kampf zwischen Licht und Finsternis.
Diese Verbissenheit ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich die PRI-Regierungen nur langsam und widerwillig dazu bequemt haben, die Chancengleichheit bei den Wahlen zu akzeptieren. Statt weitsichtige Initiativen zu ergreifen, die gezeigt hätten, dass man bereit ist, die autoritäre Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues, wirklich demokratisches System zu begründen, haben diese Regierungen es vorgezogen, Verhandlungen über partielle, unwesentliche Themen zu führen. Demokratische Fortschritte wurden als bloße Zugeständnisse an die Opposition begriffen, anstatt als Erfolg, den sich alle politischen Kräfte zugute halten können. Dementsprechend haben die neuentstehenden Parteien schließlich ihre Erfolge als Siege der Demokratie begriffen und ihre Niederlagen mit einem Rückfall in den Autoritarismus gleichgesetzt. Auch deshalb erscheint die Demokratie nicht als ein Raum, in dem alle politischen Kräfte wirken, sondern als eine Ansammlung verschiedener Fahnen, hinter denen sich ausschließlich und ausschließend bestimmte Parteien scharen.
Aus diesen Gründen haben im gegenwärtigen Wahlkampf die Führer der PAN und der PRD, Vicente Fox und Cuauhtémoc Cárdenas, ihre gesamte Strategie auf die Vorstellung begründet, dass jeder von ihnen die einzige Möglichkeit für den Übergang zur Demokratie repräsentiert (als ob man diesen Übergang mit dem Sieg eines Kandidaten oder einer Partei gleichsetzen könnte). Dementsprechend stellen sie die PRI und ihren Kandidaten als Feinde und Hindernisse für die Demokratie selbst hin. Obwohl die neue Sozialdemokratische Partei sich bemüht, diese Polarisierung zu durchbrechen, hat sich so eine plebiszitäre Logik durchgesetzt, in der es weniger um Programme und Versprechen von Parteien als vielmehr um die Frage geht, ob die Regierung demokratisch oder autoritär sein soll. Cárdenas hat sich aus mehreren Gründen verschlissen und muss feststellen, dass Fox als Kandidat diese reine Opposition besser repräsentiert als er, diese vorgebliche demokratische Sauberkeit. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Kandidaten der PRI und dem der Allianz für den Wandel lässt es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu, fundierte Voraussagen über den Wahlausgang zu machen. Jeder von ihnen kann einen sehr knappen Sieg erringen. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Einerseits ist es angesichts der Traditionen und des Milieus, dem die Beteiligten entstammen, sehr wahrscheinlich, dass die Verlierer – wer auch immer sie seien – versuchen werden, die korrekte Auszählung der Stimmen in Zweifel zu ziehen, und von Betrug sprechen werden, ohne solchen beweisen zu können. Im Gegensatz zu Chile, wo unlängst trotz eines knappen Wahlergebnisses der Unterlegene ohne weiteres seine Niederlage eingestanden hat, werden in Mexiko sowohl Labastida als auch Fox unter starken Druck geraten, die offiziellen Ergebnisse nicht anzuerkennen, wenn ihre Niederlage knapp ausfällt. Das würde bedeuten, das Wahlsystem aufs Spiel zu setzen, das alle Mexikaner so viel Mühe und Geld gekostet hat. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten, die damit zu tun haben, dass die Akteure sich nicht mit den Regeln identifizieren, die sie selbst ausgehandelt haben – wird die neue Regierung, egal ob die PRI oder die Opposition sie stellt, sicher nicht über eine ausreichende Mehrheit im Kongress verfügen, um die Reform der staatlichen Strukturen anzugehen. Daraus folgt, dass sich der Niedergang der staatlichen Strukturen mit großer Wahrscheinlichkeit beschleunigen wird. Die Strategie der Parteien wird im Wesentlichen weiter darauf hinauslaufen, diesen Niedergang auszuschlachten, um die jeweilige Regierung in Verruf zu bringen und sie zu schwächen. Wie schon zu Zeiten der Regierung Zedillo führt das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Regierung und Opposition zu einer Politik der Konfrontation, in deren Rahmen es fast keinen Anreiz mehr gibt, zusammenzuarbeiten, aber viele Beweggründe, die Verbitterung und das Misstrauen zu vertiefen – sowohl gegenüber den Parteien und zwischen ihnen als auch gegenüber den staatlichen Institutionen im Allgemeinen.
Es sollte daher darum gehen, über die Wahlen hinauszublicken und über Wege und Methoden nachzudenken, wie Mexiko seine junge repräsentative Demokratie konsolidieren kann, wie ihm erspart werden kann, in das Extrem eines Ein-Mann-Caudillismo abzugleiten (im Stil von Fujimori in Peru oder Chávez in Venezuela) oder aber in Unregierbarkeit und Auflösung der Institutionen, was dann wiederum die Suche nach dem rettenden Caudillo verlockend macht. Es ist offensichtlich, dass das größte Manko der neuen mexikanischen Demokratie darin besteht, dass es keinen wirklichen Rechtsstaat gibt, dem es gelingt, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen und ihnen Respekt zu verschaffen.
Das große Paradox vieler Demokratisierungsprozesse in jüngerer Zeit – auch im Fall Mexikos – besteht darin, dass man die moderne Demokratie verankern will, also die Regeln, die die Souveränität des Bürgers ermöglichen, ohne dass es wirklich Institutionen gibt, die in der Lage sind, jedermann die Grundrechte zu garantieren, ohne die dieser Bürger nicht souverän sein kann. Das Problem besteht also gar nicht darin, ob die Stimmen gezählt werden und etwas zählen, ob die Wahlergebnisse ohne weiteres anerkannt werden oder ob die Opposition an die Regierung gelangen kann. Selbst wenn all dies genau eingehalten wird, kann der Wahlvorgang völlig entstellt werden. Solange es keine Gleichheit vor dem Gesetz gibt und die extreme sozioökonomische Ungleichheit fortbesteht, werden die einen sich Privilegien verschaffen und die anderen an den Rand drängen, so dass Volkssouveränität und Allgemeinwohl illusorisch bleiben.
Anders ausgedrückt: In diesen jungen Demokratien steht die Geltung der egalitären Regeln des allgemeinen Wahlrechts und der Bürgerbeteiligung im Widerspruch zu staatlichen Institutionen, die eher Privilegien, Sonderinteressen, Klientelsysteme, Abhängigkeit und Rechtlosigkeit fördern – also radikale Ungleichheit, die den Sinn und die Funktion von Wahlen pervertieren muss. Wenn ein Staat keinerlei öffentliche Einrichtungen hervorbringt, die alle in die Lage versetzen, gleiche Bürger zu sein, sondern wenn er stattdessen exklusive Privilegien zuteilt, dann dient er nur den Interessen der Einflussreichen und nur die Mächtigen bekommen Sicherheit und Recht. Die Mehrheit erhält nur das denkbar mieseste Erziehungs- und Gesundheitswesen, bleibt Willkür und Korruption ausgesetzt.
Es geht hier überhaupt nicht um den Umfang des Staatsapparats, der neoliberalen Dogmatikern so viel Kopfzerbrechen bereitet, sondern um die Funktionsweise seiner Institutionen. Wenn wir vom mexikanischen und vom lateinamerikanischen Staat sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit einem einzigartigen "Leviathan" zu tun haben, mit Institutionen, die von parasitären Sonderinteressen, die sich in ihnen eingenistet haben, und von der Inkompetenz schlecht ausgebildeter und schlecht bezahlter Bürokraten geschwächt werden. Daher ist die Stärkung der Autonomie des Staats und seiner Institutionen -auch wenn das paradox erscheint -eine Voraussetzung für die Konsolidierung der Demokratie. Denn nur, wenn die Staatsmacht gegenüber privaten Interessen genügend autonom ist, können staatliche Institutionen wirklich die Interessen der Allgemeinheit mittel- und langfristig repräsentieren und durchzusetzen.
Der scheinbare Widerspruch liegt hier darin, dass Demokratie ja gerade bedeutet, dass die staatlichen Institutionen sich gegenüber den Interessen und Meinungen der Zivilgesellschaft öffnen. Ohne eine solche Öffnung kann es keine sinnvolle Mitbestimmung der Bürger geben. Aber damit überhaupt von Staatsbürgern die Rede sein kann, muss der Staat seine Autonomie als Quelle öffentlicher Dienstleistungen und Gemeinschaftsgüter durchsetzen, ohne Einzelne bevorzugt zu behandeln und erst recht ohne sich zur Geisel reiner Privatinteressen zu machen (auch nicht der Fraktion, die an der Regierung ist). Nur diese Autonomie gestattet es ihm, sich mit schwierigen Problemen und Konflikten auseinanderzusetzen und auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, die trotz des Widerstands bedeutender Teile der Gesellschaft nötig sind.
In autoritären Systemen werden fast immer staatliche Institutionen für privilegierte Privatinteressen benutzt. Man darf also nicht die Selbstherrlichkeit solch autoritärer Systeme verwechseln mit der Autonomie und Effizienz von Staaten, die dank dieser in der Lage sind, ihren Bürgern die Bürgerrechte zu garantieren. In Mexiko war das alte autoritäre System ein Ausdruck der Schwäche der öffentlichen Institutionen. So gelang es ihm zum Beispiel niemals, ein auch nur halbwegs effizientes Steuersystem einzuführen.
Eine Politik, die den Staat stärkt und ihm die nötige Autonomie verschafft, versetzt ihn erst in die Lage, für seine Bürger Güter und Dienstleistungen hervorzubringen, die eine Grundvoraussetzung für eine stabile Demokratie sind. In Mexiko wie in anderen Ländern der Dritten Welt bedeutet das, Maßnahmen zu treffen und eine Politik zu verfolgen, die nicht nur mit Wahlergebnissen legitimiert und gestützt werden können. Es ist leicht nachzuweisen, dass der Kampf um Wählerstimmen die Parteien eher zu einer kurzfristigen, populistischen Perspektive verleitet und sie sich deshalb wenig darum kümmern, was mittel- und langfristig wirklich im Interesse der Allgemeinheit liegen könnte.
Die Parteien selbst lassen sich so leicht von den unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder und von Kreisen in Dienst nehmen, die sich Privilegien sichern können, die in offenem Widerspruch zu dem Gedanken stehen, den Staat und seine Institutionen zu stärken. Auf diese Weise wird beispielsweise eine Steuerreform, die nötig ist, um dem Staat die erforderlichen Mittel für seine Aufgaben zu verschaffen, immer wieder vertagt, weil sie Wählerstimmen kostet.
Auf die gleichen Hindernisse trifft eine Politik, die die öffentliche Verwaltung besser und professioneller machen, das staatliche Bildungswesen reformieren und seine Qualität verbessern, die Polizei und Justizorgane erneuern und ihnen wirkliche Durchsetzungskraft verleihen will. Genauso ist es, wenn der Staat im Finanzwesen, in der Industrie oder im Handel seine Aufsichts- und Regelungsaufgabe effizienter gestalten will. In all diesen Bereichen wird die aus den Wahlen hervorgehende neue Regierung kaum alleine die nötigen Aufgaben angehen können. Sie wird sich vielmehr gezwungen sehen, von Fall zu Fall undurchsichtige Verhandlungen mit Interessenvertretern aus der Wirtschaft, der Gesellschaft oder den Parteien zu führen oder gegebenenfalls die Schwierigkeiten einfach auszusitzen.
Aus all dem ergibt sich, dass für die Konsolidierung der Demokratie in Mexiko Übereinkünfte nötig sind, die es ermöglichen, den Staat und seine Institutionen zu stärken und autonom werden zu lassen, um ihn so wirklich zum Repräsentanten des nationalen Allgemeinwohls zu machen. Es sind Übereinkommen unter den politischen Parteien nötig, die dem Kampf um Wählerstimmen Grenzen setzen und ihn zu einem zivilisierten Wettstreit legitimer Gegner machen. Unabhängig von den ideologischen und programmatischen Differenzen müssen die gesellschaftlich notwendigen Aufgaben einig und gemeinsam angepackt werden. Vereinbarungen müssen dafür sorgen, dass es trotz der für die Demokratie unerlässlichen Ungewissheit, wer die Wahl gewinnen wird, nicht zum Zusammenbruch der Institutionen und zu einem Zustand der Unregierbarkeit kommt.
Das Besondere am Übergang Mexikos zur Demokratie besteht darin, dass er ein fast versehentliches Resultat von Reformen ist, die Wahlen zu einem immer heißer umkämpften Freiraum werden ließen – etwa im Unterschied zu Spanien, wo die Wende mit einem großen Pakt der relevanten politischen Kräfte begonnen hat. Deshalb ist behauptet worden, dass es sich eher um einen herbeigewählten als um einen ausgehandelten Übergang gehandelt habe. Natürlich sind neben den immer heftigeren Wahlkämpfen auch Verhandlungen geführt worden, um das Fachwerk der Institutionen und Gesetze, die den Wahlvorgang regeln, zu verbessern. Was es nicht gegeben hat, ist ein ausdrücklicher Pakt (oder mehrere) – ein Pakt, der dem ancien régime ein Ende gesetzt und ermöglicht hätte, dass man sich den Regeln des demokratischen nouveau régime unterwirft. Da es auch nicht zu einem Zusammenbruch der Institutionen und zur Rückkehr von Militärs in ihre Kasernen gekommen ist, fragen sich viele Mexikaner, wann der Übergang begonnen hat und ob er schon vorüber ist, während ein großer Teil der parteigebundenen Opposition weiterhin ihren eigenen Triumph mit dem der Demokratie gleichsetzt.
Diese Konfusion fördert den Irrglauben, dass eine bloße Niederlage der PRI auf nationaler Ebene dem Land eine gefestigte Demokratie bescheren wird. Ein Irrglaube, der nicht nur herbe Enttäuschungen nach sich ziehen, sondern auch dazu beitragen kann, dass die Fähigkeit des Staats, seine elementaren Funktionen zu erfüllen, sich weiter verringert. Im Unterschied zum Übergang in Spanien, der mit einem Pakt begann und in Wahlen gipfelte, wird der Übergang in Mexiko, der mit immer heftigeren Wahlschlachten begann, sich institutionell nur dann konsolidieren können, wenn die nötigen Pakte geschlossen werden, damit Mexiko sich endlich zu einem echten sozialen Rechtsstaat wandeln kann.
aus: der überblick 02/2000, Seite 47
AUTOR(EN):
Luis Salazar Carrión:
Luis Salazar Carrión ist Professor an der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko, Präsident des Instituto de Estudios para la Transición Democrática und Mitherausgeber der Zeitschrift Nexos.