Das autoritäre Regime in Tunesien kurbelt die Wirtschaft nicht an, es korrumpiert sie eher
Tunesien gilt als wirtschaftlich sehr erfolgreicher Polizeistaat. Doch die Standardtheorien der Wirtschaftswissenschaft liefern ein trügerisches Bild von der Ökonomie des Landes. Das autoritäre Regime dort ist nicht nur an sich ein Problem, es prägt auch die Funktionsweise der Wirtschaft: Es greift mit einem Gemisch aus Willkür und Verhandlungsbereitschaft in sie ein und legitimiert sich mit Sozialausgaben, die nicht im Budget auftauchen. Korruption und Betrug verbreiten sich und untergraben die Grundlagen eines andauernden wirtschaftlichen Erfolges.
von Béatrice Hibou
Wem soll man glauben? Den Kreditgebern, die in Tunesien den "Musterschüler" des Maghreb, ja der gesamten arabischen Welt sehen? Oder den Menschenrechtsorganisationen, für die das Gegenteil der Fall ist? Man könnte beiden gleichzeitig Recht geben - es gibt zahllose Beispiele für autoritäre Regime, die ökonomisch Erfolg hatten. Doch trotzdem bleibt zu fragen, was man vom heutigen Tunesien lernen kann. Wie sieht die politische Ökonomie des Landes aus?
Das Tunesien des Präsidenten Ben Ali ist zweifellos ein autoritäres Regime und ein Polizeistaat, in dem zahlreiche Menschenrechtsverstöße begangen werden. Es zeichnet sich aus durch das Fehlen von Presse- und Versammlungsfreiheit sowie durch einen politischen Pluralismus, der reine Fassade ist. Aber die Repression, die Angst und die flächendeckende Kontrolle durch die Polizei und die RCD (Sammlung für Demokratie und Verfassung, die Partei des Präsidenten) können allein nicht die Unterwerfung anscheinend der gesamten Bevölkerung erklären. Dafür werden in der Regel drei Gründe angeführt.
An erster Stelle steht die Bedrohung von seiten der Islamisten und das Bedürfnis nach Sicherheit. Auch wenn die islamistische Bewegung mittels brutaler Unterdrückung vollkommen an den Rand gedrängt worden ist, verfängt doch das Argument immer noch in bestimmten Gruppen, insbesondere unter gebildeten Frauen. Dadurch, daß die tunesischen Islamisten die Persönlichkeitsrechte der Frau in Frage gestellt haben, haben sie sich bei dieser sozialen Gruppe dauerhaft in Mißkredit gebracht. Hinzu kommt der algerische Bürgerkrieg, der vom Regime und einer ihm völlig ergebenen Presse weidlich ausgenutzt wird.
Als zweiter Grund wird genannt, daß Tunesien eine echte Sozialpolitik betreibt. Darauf legt die Regierung trotz der Strukturanpassungsprogramme großes Gewicht, da sie genau weiß, daß diese Politik eine wichtige Quelle ihrer Legitimation ist. Dieses Bemühen erklärt, daß manche von den Kreditgebern - etwa dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank - vorgeschriebenen liberalen Grundsätze nur scheinbar befolgt werden. Daß zum Beispiel das Defizit im Staatshaushalt bei den magischen drei Prozent liegt, verdankt sich einer Reihe von Tricks. So wird ein Teil der Subventionen über öffentliche Unternehmen und Banken geleitet, wie sich an der Ausgabe von zweifelhaften staatlichen Krediten und an deren Behandlung zeigt; sie beliefen sich auf fast eine Milliarde Dinar 1997 und auf drei Milliarden 1999 (2 Dinar sind rund 3 Mark) - mit Unterstützung der Weltbank und der Europäischen Union. Und Investitionen in die grundlegende Infrastruktur werden teilweise aus bi- oder multilateralen Hilfen finanziert oder aus Fonds, die im Budget nicht auftauchen.
Im übrigen wird Solidarität großgeschrieben. Und tatsächlich: Die Tunesier kritisieren zwar unverblümt die Mittel, mit denen der Nationale Solidaritätsfonds (FNS - bekannt als 26.26., der Nummer seines Postfaches) oder die Tunesische Bank für Solidarität (BTS) finanziert werden, und sprechen dabei offen von Erpressung, aber sie billigen dennoch weitgehend deren Ziele: Hilfe zur Gründung von Kleinbetrieben, Ausbildungsmaßnahmen und grundlegende Infrastrukturmaßnahmen wie Elektrifizierung und Wasserversorgung. Auch hier handelt es sich wieder um Sozialausgaben außerhalb des offiziellen Haushalts. Denn alle Lohnempfänger werden mit einer Amtsabgabe von zwei Dinar monatlich belegt, die der Arbeitgeber abführt, und Geschäftsleute, Freiberufler und wohlhabende Bürger sind verpflichtet, auf diese Konten einzuzahlen - andernfalls sind sie diversen Unannehmlichkeiten ausgesetzt wie Steuerprüfungen, bürokratischen Schikanen oder Schwierigkeiten beim Zugang zu öffentlichen Märkten. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Steuer, allerdings um eine private (der Präsident entscheidet ohne jede Kontrolle des Parlaments oder des Rechnungshofes über die Verwendung der Mittel), die im offiziellen Haushalt nicht ausgewiesen ist. Wie dem auch sei, diese Sozialpolitik und die damit verbundenen Praktiken der Solidarität werden günstig beurteilt - weniger allerdings von den Betroffenen als von den Mittelschichten, an die sich der gesamte Diskurs richtet.
Als dritter Grund für die Ruhe im Land werden das Schweigen und das Gerücht genannt - allseits bekannte und sich ergänzende Instrumente von autoritären Regimen. Keinerlei ungünstige Information wird veröffentlicht. Dies trifft auch ausländische Beteiligte einschließlich der Geldgeber: Obwohl sie Privatisierungen zur Bedingung für Kredite gemacht haben, ist es weder der Weltbank noch der europäischen Kommission gelungen, präzise Daten darüber zu erhalten.
Diese drei Gründe erklären jedoch nicht die weit verbreitete und starke Akzeptanz für den Polizeistaat in Tunesien. Auch wenn ein großer Teil der Sympathisanten der Islamisten, nachdem diese hart unterdrückt und mit ihren Angehörigen aus dem ökonomischen und sozialen Leben ausgeschlossen worden waren, gezwungenermaßen der RCD den Treueeid geschworen hat, so kann doch die Berufung auf die islamistische Gefahr kaum jenen Teil der Bevölkerung überzeugen, der mit dieser Bewegung sympathisiert hat. Und der ist keineswegs unbedeutend - er wurde 1989 offiziell auf 16 Prozent der Wählerschaft geschätzt, im Einzugsbereich von Tunis sogar auf 24 bis 30 Prozent. Zudem: Die Sozialpolitik und die Solidarität sind zwar keineswegs nur Schein. Aber den Tunesiern ist sehr wohl klar, daß es sich hauptsächlich um Rhetorik handelt und die sozialen Maßnahmen ein Gebiet sind, wo Willkür ausgeübt wird, weil das Geld durch die Kanäle der RCD fließen muß. Auch wenn die einheimische Presse zensiert wird, kommen Informationen von außen: Man weiß, daß die Armut viel verbreiteter ist als verkündet, daß die Privatisierungen häufig Günstlingen des Regimes zugutekommen und daß sie, wie übrigens in vielen anderen Ländern auch, mit umfangreicher Korruption verbunden sind. Kurz: Wenn man verstehen will, weshalb sich der Wunsch nach Demokratie nicht öffentlich äußert - selbst wenn er existiert, wie etwa die Klagen über den Fiskus vermuten lassen -, muß man genauer untersuchen, wie das Regime Ben Alis wirtschaftlich funktioniert.
Einer der Schlüssel für die Stabilität des tunesischen Systems liegt im Konsum, um nicht zu sagen im Uuml;berkonsum der Mittelschicht. 80 Prozent der Haushalte sind Eigentümer ihrer Wohnungen, eine außergewöhnlich hohe Rate für ein Land mit einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen. Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat das Wachstum des Konsums nicht gestoppt, denn man kann nun alles auf Kredit kaufen. Da es für Konsumentenkredite keine gesetzlichen Regeln und keine Kreditinstitute gibt, haben Supermärkte und Unternehmer solche Kredite zu exorbitanten Zinsen angeboten - manchmal über drei bis vier Jahre. Der Uuml;berkonsum wird so durch eine stetig anwachsende Verschuldung finanziert: Das Geschäftsvolumen einiger Banken ist während der letzten beiden Jahre um mehr als 30 Prozent gewachsen, weil sie Supermärkte und Händler refinanziert haben.
Man kann zwar nicht behaupten, daß diese Situation vom Staat absichtlich herbeigeführt worden ist, aber es ist sicher, daß er sie toleriert und unterstützt. Denn sie dient sowohl der Sozialpolitik als auch dem Ziel, die Bevölkerung zu "entpolitisieren". Einerseits werden Zweitbeschäftigungen für Beamte und Geschäfte auf informellen Märkten eher begünstigt als unterdrückt. Andererseits sind die Besitzer im Einzelhandel gleichzeitig Geschäftsleute, die unter Habib Bourguiba, dem ersten Präsidenten des Landes, zu Geld und Ansehen gekommen sind und danach trachten, ihre ökonomische Stellung und relative Autonomie in den Verhandlungen mit dem Regime zu verbessern. Tatsächlich bilden vor allem Verhandlungen zwischen Wirtschaftssubjekten und dem Staat, und ebenfalls zwischen Bürgern und dem Staat, die Stütze des tunesischen Regimes. Daß es in dem sehr zentralisierten System dennoch Verhandlungsspielräume gibt, erklärt zum großen Teil die Zustimmung der Bevölkerung.
Im einzelnen beruht das Funktionieren des Systems auf dreierlei: auf der Duldung von Mogeleien wie Betrug, Schmuggel, informeller Tätigkeit und Steuerhinterziehung; auf der Willkür des Staates, die gedeckt wird von verschwommenen Gesetzen, von Diskrepanzen zwischen Gesetzen und Ausführungsbestimmungen und von der wohldurchdachten Verwirrung der Verwaltungshierarchien; sowie auf der Korruption. Diese drei Praktiken sind ausreichend verbreitet, so daß praktisch die gesamte Bevölkerung, unabhängig von ihrer politischen Uuml;berzeugung und ihrem Wunsch nach Demokratie, in dieses Verhandlungssystem eingebunden ist.
Ein Beispiel dafür ist das Steuersystem. Einerseits wird laut manchen Schätzungen des Fiskus (dessen Zahlen aber mit Vorsicht zu genießen sind) bis zu der Hälfte der Steuern hinterzogen. Andererseits sind die Steuerkontrollen seit drei Jahren verstärkt worden, um die Einbußen auszugleichen, die infolge des Freihandelsabkommens mit Europa zu verzeichnen waren (sie werden auf 70 Prozent der Zolleinnahmen geschätzt, das heißt 18 Prozent der Staatseinnahmen). Auch ein Rückgang der Öleinnahmen war auszugleichen. Heute beklagen sich die Unternehmer über die Willkür dieser Kontrollen sowie über die Last der nachträglichen Steuerberichtigungen.
Dazu muß gesagt werden, daß drei Jahrzehnte lang die Steuerhinterziehung toleriert worden ist, um die Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie zu fördern. Das lassen die Umstände jetzt nicht mehr zu. Das ändert aber nichts daran, daß die Steuern als Verhandlungsinstrument benutzt werden. Der Steuerbetrug, eine gängige Praxis der allermeisten Unternehmen, wird weiterhin toleriert und sogar begünstigt. Einerseits sind zahlreiche Steuergesetze sehr schwammig, beispielsweise was die Mehrwertsteuer angeht. Andererseits liegt häufig viel Zeit zwischen einer Rede des Präsidenten, der Annahme eines Gesetzes, der Ausführungsverordnung und der Umsetzung, und auch der Inhalt ist keineswegs derselbe. Es kommt nicht selten vor, daß man die Texte bestimmter Entscheidungen vergeblich sucht, obwohl sie sorgsam angewandt werden.
Der Steuerbetrug gibt dem Staat die Möglichkeit, willkürliche Einmischungen in die Wirtschaft zu rechtfertigen, und erlaubt den Finanzbeamten, sich an Prämien zu bereichern, die von der Höhe der Steuerberichtigungen abhängen. Diese sind manchmal derart hoch, daß darüber Verhandlungen zwischen dem Staat und dem Steuerpflichtigen aufgenommen werden - im Falle der größten Zahler direkte Verhandlungen zwischen dem Unternehmens-chef und dem Staatspräsidenten. Eine der größten Firmengruppen des Landes zum Beispiel hätte eine Steuernachzahlung in Höhe ihres drei- oder vierfachen Jahresgewinns zahlen müssen, konnte diese aber um die Hälfte verringern, indem sie etwas auf das Konto 26.26 überwies sowie eine ihrer Gesellschaften an der Börse einführte. Es ist also keineswegs sicher, daß die Unternehmen, wie sie selbst behaupten, in diesem Spiel die Verlierer sind - finanziell gesehen, versteht sich.
Das Bankwesen spielt eine ähnliche Rolle. Darauf läßt sowohl der Zustand der öffentlichen Banken schließen als auch die unablässig wiederholte Beteuerung, der Staat werde niemals den Konkurs einer Finanzinstitution zulassen. Das Ausmaß der faulen Kredite kann in der Tat nur zum Teil mit der verdeckten Finanzierung der Sozialpolitik erklärt werden. Mehr als 60 Prozent dieser Kredite von öffentlichen Banken sind an Private gegangen. Daß die Gesellschaften, die gegründet worden sind, um rückständige Zins- und Tilgungszahlungen einzutreiben, diese Aufgabe erfüllen können, das glaubt niemand - nicht einmal die internationalen Kreditgeber. Auch die "nicht rückzahlbaren Darlehen" gehören zum Wechselspiel zwischen Geschäftswelt und Staat. Sicher haben davon weitgehend die dem Regime nahestehenden Unternehmer profitiert, doch sie sind nicht die einzigen.
Diese Verhandlungen werden von den Wirtschaftsteilnehmern und den Bürgern deshalb mehrheitlich akzeptiert, weil sie tatsächlich Handlungsspielräume eröffnen. Die größten Unternehmen kaufen sich damit gleichsam wirtschaftliche und soziale Autonomie: Sie werden bei ihren Geschäften - auch bei der teilweisen Auslagerung in den informellen Bereich, bei zu niedrigen Steuererklärungen, der Mißachtung der Arbeitsgesetze und protektionistischen Praktiken - nicht behelligt. Den kleineren - etwa Kleinunternehmern, Angestellten und einfachen Bürgern - eröffnen die Verhandlungen die Möglichkeit, am informellen Sektor und der damit verbundenen Schmuggelwirtschaft teilzunehmen, sowie den Zugang zu den Produkten paralleler Märkte.
Hier liegt der Zusammenhang zwischen Uuml;berkonsum, Verschuldung der privaten Haushalte, Korruption und Verhandlungen. Der Schmuggel mit Libyen und Algerien, aber auch der Betrug in den Häfen und der Weiterverkauf von Waren, die Migranten besorgt haben, schaffen Arbeitsplätze und nähren die kleine Korruption. Auch der Wiederverkauf von auf Kredit gekaufter Ware sowie der illegale Vertrieb von Produkten, die für den Export bestimmt sind, nähren den Schwarzmarkt. Wie verbreitet diese Praktiken sind, zeigt der Autohandel, der darauf beruht, daß die Ausgewanderten von Zollzahlungen befreit sind: Von 1987 bis 1997 lieferte er fast 60 Prozent der neu zugelassenen Personenwagen. Auch der Devisenmarkt ist, obwohl die Differenz zwischen dem Schwarzmarktkurs und dem offiziellen Umtauschkurs gering ist, relativ dynamisch. Er wird angekurbelt durch die Uuml;berweisungen der Migranten und der Exporteure. Der informelle Sektor wird nicht nur toleriert, weil er als soziale Abfederung wirkt. Er wird sogar vom Staat ausgestattet, wie die Einrichtung von "informellen" Märkten der Textilbranche in der Moncef Bey-Straße in Tunis oder die Institutionalisierung "libyscher Souks" vermuten lassen.
Schwarzmarkt, Schmuggel, Betrug, Steuerhinterziehung und Korruption sind zweifellos weniger dissidentes Verhalten, mit dem der Staat spielt, um sich zu konsolidieren - wie dies in Marokko der Fall ist -, sondern sie sind in Tunesien Verhandlungsinstrumente, die von beiden Seiten geschaffen werden, um autonome Handlungsspielräume zu gewinnen: Autonomie der Wirtschafts- und Gesellschaftssubjekte gegenüber dem Staat, aber auch des Staats gegenüber seiner sozialen Basis. Die Wirtschaft wird also nicht einfach der zentralen Macht unterworfen. Statt damit das Fehlen von Protest gegen das autoritäre Regime zu erklären, muß man auf die Verschleierung der Macht hinweisen und auf die Chancen für einen Großteil der Bevölkerung, Autonomie zu gewinnen.
Doch diese Analyse darf weder dazu führen, das autoritäre Regime zu rehabilitieren, noch dazu, dem "Musterschüler" der internationalen Kreditgeber eine gute Note zu verleihen. Wenn die Ökonomie auf diese Art funktioniert, sind die Folgen häufig schädlich.
Zunächst und vor allem in bezug auf das Vertrauen. Die ständigen Sonntagsreden und das Fehlen jeglicher Kritik und jeder schlechten Beurteilung in der Öffentlichkeit nimmt sowohl den verkündeten Ergebnissen als auch den vorgeschlagenen Politikmaßnahmen ihre Glaubwürdigkeit. So sind beispielsweise zahlreiche Unternehmer davon überzeugt, daß der Handel noch gar nicht wirklich liberalisiert worden ist und es immer noch ausreichend Mittel gibt, um dem befürchteten Abbau des Protektionismus zu entgehen. Dieses Phänomen erklärt zum großen Teil die Schwäche der einheimischen Investitionen und, als Folge davon, die der ausländischen. Trotz der von der euro-mediterranen Partnerschaft erhofften Wirkungen waren die Zahlen von 1998 enttäuschend - besonders wenn man in Rechnung stellt, daß die Privatisierung der beiden Zementwerke Tunesien allein 409 Millionen der insgesamt 610 Millionen Dinar an Auslandsinvestitionen außerhalb des Energiesektors eingebracht hat.
Schädlich sind auch die Folgen für die ökonomische Struktur. Tunesien zeichnet sich dadurch aus, daß große Unternehmensgruppen und Holdings fehlen; ihre Existenz ist nicht einmal im Handelsrecht vorgesehen. Das ist eine der unmittelbaren Folgen der geschilderten Phänomene: einerseits der verschleiernden Rechnungsführung und des Bemühens der Besitzer, ihre Geschäfte zu kontrollieren, andererseits des Mißtrauens des Regimes gegenüber jeder ökonomischen Macht, die groß genug wäre, ihm Paroli zu bieten. Es ist offensichtlich, daß es sich leichter mit kleinen Betrieben verhandeln läßt als mit großen Unternehmensgruppen; und genauso ist es leichter, mit oder zwischen kleinen Unternehmen zu "tricksen" als innerhalb eines großen. Das erklärt zweifellos, weshalb die größte tunesische Unternehmensgruppe nicht aus einer einzigen Gesellschaft besteht, sondern aus rund fünfzig untereinander verbundenen.
Schließlich hat das Folgen in bezug auf die politische Effizienz. Die Verbindung von Willkür in der Wirtschaft mit einem autoritären Polizeistaat erklärt zum Großteil die Trugbilder im Bereich der Liberalisierung und im Programm "Auf den Stand bringen" (mise à niveau), das die Wettbewerbsfähigkeit der tunesischen Unternehmen mit Blick auf die Freihandelsvereinbarungen mit der Europäischen Union verbessern soll (dieses Programm hat die tunesische Regierung mit finanzieller Unterstützung der Weltbank und der Europäischen Kommission eingerichtet). Davon haben die dynamischsten Unternehmen profitiert, denn sie erhalten Subventionen für Investitionen, die sie sowieso mehr oder weniger eingeplant hatten. Die anderen nutzen das Programm meist nur, wenn sie nach Möglichkeiten der Finanzierung oder der Beratung und Expertise suchen oder ihre Autonomie sichern wollen. Daher werden in diesem Rahmen nur wenige Investitionen getätigt, und daher ist der Anteil von Unternehmen so groß, die im Programmverlauf nicht über die Diagnose hinauskommen. Vor allem aber übernehmen die Firmen nicht notwendigerweise Strategien, die den vorgegebenen Zielen dienen, also der Modernisierung des Produktionsapparates und der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Investitionen gehen weniger in die Industrie als in Dienstleistungen wie Versicherung und Tourismus, in den Handel - etwa mit Nahrungsmitteln und Textilien - und in die Landwirtschaft, insbesondere die Viehzucht. Das Kapital sucht Sektoren unter Importschutz (hier beteiligen sich manchmal Auslandsinvestoren, die nur am Zugang zum tunesischen Binnenmarkt interessiert sind), steuerliche Vorteile (die Landwirtschaft wird praktisch nicht besteuert) oder schnelle Kredite wie für den Tourismussektor und die Landwirtschaft; oder es fließt in Spekulation wie die mit Agrarland oder mit Grundstücken, die touristisch von Interesse werden könnten.
Manche Beobachter fürchten, Tunesien könne zu einer reinen "Zwischenhandels-Ökonomie" werden. Diese Sorge ist zwar gegenwärtig nicht vordringlich, aber auch nicht ganz abwegig. Das Land hat häufig die Rolle eines Zwischenhändlers zwischen Europa und Afrika oder dem Osmanischen Reich gespielt. Zu den noch schwach ausgeprägten Tendenzen des Wandels im Handelswesen infolge der Liberalisierung und des Programms mise à niveau kommen nun Tätigkeiten im Re-export, insbesondere von Altwaren, sowie die Einrichtung von Freihäfen. Schließlich wächst auch das Handelsbilanzdefizit trotz zahlreicher Maßnahmen der Verwaltung, die das bremsen sollen. So wird die Entladung von Waren verzögert, man verlangt von den Importeuren, ihre Tätigkeit aufzugeben oder einzuschränken, und man erfindet alle möglichen Warenbestandsaufnahmen und Uuml;berprüfungen von Normen.
Diese schädlichen Effekte für die Wirtschaft werden verstärkt durch zwei ziemlich neue Phänomene. Zum einen steigt die Arbeitslosigkeit. Niemand glaubt an die offiziell verkündete Rate von 15 Prozent; man schätzt sie allgemein auf rund 20 und unter Jugendlichen sogar auf 30 Prozent. Vor allem die Arbeitslosigkeit unter jungen Hochschulabgängern wächst (das sogenannte Marokko-Syndrom). Es fällt schwer zu erkennen, wie diese jungen Menschen sich umstandslos in das Verhandlungsspiel einfügen sollten. Das ist ohne Zweifel für den Staat das größte politische Problem.
Zum anderen beobachtet man eine Privatisierung des Staates. Sie ist zwar nicht neu, jedoch immer enger mit einer Kriminalisierung des Staates verbunden. Die beschriebene kleine Korruption eröffnet Verhandlungsspielräume; in den vergangenen Jahren hat sich jedoch eine große Korruption in der Umgebung des Präsidenten Ben Ali entwickelt. Bis vor kurzem hat sie das Funktionieren des Marktes nicht beeinträchtigt, aber nun scheint das der Fall zu sein. Denn "die Klans", wie man die Umgebung des Präsidenten allgemein bezeichnet, intervenieren nicht nur bei der Vergabe von Großaufträgen und machen dabei Beute. Sie schalten sich auch in die Grundstücks- und Immobilienspekulation ein und betätigen sich bei der Privatisierung von Staatsbetrieben und der Vergabe von Konzessionen als Vermittler, ja als Aktionäre. Dies könnte erklären, warum selbst die Kreditgeber keinen Zugang zu den Informationen darüber bekommen. Die Clans dringen mit traditionellen Mitteln wie dem Klientelismus in das Wirtschaftsleben ein, häufig jedoch auch mit Praktiken wie Bestechung, dem erzwungenen Zusammenschluß mit Unternehmern auf den interessantesten Märkten oder der Zahlungsverweigerung gegenüber Lieferanten. Weitere Mittel sind die Gründung von privaten Monopolen oder Duopolen - so für die Reisen nach Mekka, Grundnahrungsmittel und das Internet - sowie die umfangreiche Nutzung von "nicht rückzahlbaren Darlehen".
Das Problem liegt nicht in erster Linie darin, daß Mittel aus der Wirtschaft abgeschöpft werden - das Regime hat sehr wohl begriffen, daß man die Gans, die goldene Eier legt, nicht töten darf. Das Problem liegt vielmehr darin, daß Mißtrauen, Attentismus und Verschleierung gefördert werden. Vor allem verändert sich die Art des Regierens. Das administrative Umfeld verschlechtert sich. Ministerien und Behörden werden von verschiedenen Clans kontrolliert. Auf diese Weise verwischen nicht nur die Grenzen zwischen öffentlich und privat, sondern die Macht wird immer stärker zentralisiert. Das zeigt sich paradoxerweise in ihrer Verdoppelung: Alle wichtigen Entscheidungen müssen nicht nur von den zuständigen Behörden getroffen werden, sondern auch von "Karthago" (Tunis); das führt zu Verzögerungen und Blockaden. Denn daß jede Entscheidung vom Conseil ministériel restreint, dem verkleinerten Ministerrat - dort treffen sich die zuständigen Minister, vor allem jedoch die Berater des Palastes -, ja vom Präsidenten selbst sanktioniert werden muß, schürt den Kleinmut der Verwaltung. Die Privatisierung und Kriminalisierung des Staates könnten so mittelfristig die Verhandlungsmechanismen und Autonomieräume untergraben, die eine der Grundbedingungen für die Folgsamkeit der Tunesier sind.
So besorgniserregend diese Entwicklungen auch sein mögen, es besteht kaum die Gefahr, daß sie das Urteil der Kreditgeber beeinflussen. Die werden höchstwahrscheinlich an einer günstigen ökonomischen Beurteilung Tunesiens festhalten. Sie reagieren vor allem sensibel auf makro-ökonomische Daten wie darauf, daß das Haushaltsdefizit und die Inflation anscheinend unter Kontrolle sind und die Wechselkurspolitik behutsam vorgeht. Sie achten nicht auf die Mittel, mit denen diese Ergebnisse erzielt wurden, und sind im übrigen besessen von Stabilität und Sicherheit. Trotzdem hat die Asienkrise vom Sommer 1998 klar zutage treten lassen, welche Gefahren damit verbunden sind, daß die Kreditgeber die politische Ökonomie der Länder verkennen, in denen sie intervenieren.
aus: der überblick 04/1999, Seite 51
AUTOR(EN):
Béatrice Hibou:
Béatrice Hibou ist Spezialistin für die Wirtschaft Afrikas am Centre d'études d'Afrique noire in Bordeaux. Zuletzt hat sie das Buch "La privatisation des états" (Paris 1999) herausgegeben. Ihren Artikel entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion leicht gekürzt der Zeitschrift "Critique Internationale" Nr. 4 vom Sommer 1999.