Bildung für den Geldadel
Seit 1990 investieren die demokratisch gewählten Regierungen Chiles wieder verstärkt in die Bildung, nachdem das Budget für die Hochschulen unter dem Diktator Pinochet um 40 Prozent gesunken war. Aber viele Studenten sind frustriert, weil das nach der Privatisierung dreigeteilte Bildungswesen nur den zahlungskräftigsten die besten Chancen bietet.
von Ernst Hillebrand
Wie aus heiterem Himmel kam es im Mai 2002 zu schweren Ausschreitungen von Schülern und Studenten in der Innenstadt der chilenischen Hauptstadt Santiago. Eine Woche lang sah eine fassungslose Nation in den Abendnachrichten die Bilder ihrer amoklaufenden Söhne (und ganz weniger Töchter): Studenten bauten Straßensperren, prügelten sich mit Polizisten. Darunter waren auch viele prügelnde 15-Jährige, Halbwüchsige, die mit einer seltsamen Verbissenheit Straßenlaternen zertrümmerten oder Verkehrsschilder knickten. Der Staat reagierte auf diesen sinnentleerten Vandalismus mit der Androhung der vollen Härte des Gesetzes: "Wenn es Jugendliche gibt, die ihr Leben um bis zu zehn Jahren Gefängnis verkürzen wollen", erklärte der Staatssekretär des Innenministeriums im Fernsehen, "dann sollen sie ruhig mit ihren Protesten weitermachen".
Starke Worte - zumal in einem Land, in dem die Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes weitgehend ungesühnt geblieben sind. Selbst die wenigen Verurteilten kriegen die Härte des Gesetzes eher wenig zu spüren. So gönnte sich Alvaro Corbalán erst kürzlich einen sommerlichen Haft-Ausflug in sein Lieblingsseebad Papudo. Der ehemalige operative Chef von Pinochets Geheimdienst CNI, der eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, ließ es sich nicht nehmen, in aller Öffentlichkeit im örtlichen Yachtclub zu speisen.
Genauso wie die Zerstörungswut der Demonstranten überraschte der banale Anlass der Unruhen: die geplante Preiserhöhung der Schüler- und Studententickets im öffentlichen Personennahverkehr um 10 Prozent. Die Ursachen liegen vermutlich tiefer: Es wurde eine Gelegenheit gesucht, um den aufgestauten Frust über das Schul- und Universitätssystem zu artikulieren, das sich für viel zu viele Jugendliche - zumal für die aus den ärmeren Schichten - als Sackgasse zu erweisen droht.
Chiles Bildungssystem wurde, ebenso wie der Rest des Landes, von Pinochets Chicago Boys neoliberal umgekrempelt. Bildung ist eine Dienstleistung, und diese erbringt, so der feste Glaube, der Privatsektor besser als der Staat. Entsprechend existiert in Chile heute auf allen Ebenen des Bildungssystems, vom Kindergarten bis zur Uni, eine klare Dreiteilung: Ein relativ leistungsfähiger, teurer und für die breite Masse nicht zugänglicher Privatsektor, ein staatlich bezuschusster Sektor von weltanschaulich gebundenen privaten Einrichtungen (vor allem der Kirche) und ein von den Gemeinden betriebener öffentlicher Sektor. Hier ballt sich die große Masse der Schüler, hier existieren die größten finanziellen Probleme, hier ist die Rate des Scheiterns am höchsten. Während über 80 Prozent der zum Abitur antretenden Schüler der privaten Schulen die Hochschulreife erlangen, schaffen es in den öffentlichen municipales (aber auch in den weltanschaulich gebundenen Schulen) lediglich 40 Prozent - und dies mit einem weit schlechteren Notendurchschnitt als in den Privatschulen. Die Erklärung ist einfach: Auf zwölf Jahre Schulzeit bezogen, erhalten Schüler der Privatschulen etwa 40 Prozent mehr Unterrichtsstunden als die der öffentlichen Schulen.
Einmal mit der Hochschulreife versehen, wiederholt sich das Spiel, allerdings mit veränderten Vorzeichen: Nachdem die Schüler auf den privaten Gymnasien und in teuren Paukstudios, den sogenannten pre-universitarios, auf Hochschulreife getrimmt wurden, drängen die Kinder der besseren Stände nicht unbedingt in die privaten Unis, sondern in einem hohen Maße in die öffentlichen Universitäten des Landes. Diese verfügen über eine akademische Tradition, internationales Ansehen, staatliche Studienzuschüsse und können relativ gesicherte Berufsperspektiven bereitstellen. 54 Prozent der Studenten der Katholischen Universität Santiago - eine der besten Universitäten Lateinamerikas - stammen aus Familien, in denen die Eltern bereits ein Hochschulstudium absolviert hatten. 20 Prozent kommen aus Unternehmer- und Managerfamilien. Für die Masse der Studenten mit schlechten Noten bleiben die weniger anspruchsvollen öffentlichen Universitäten und das wachsende Angebot an Privatuniversitäten.
Alle Universitäten, auch die öffentlichen, verlangen in Chile Studiengebühren. Diese liegen bei den großen und prestigeträchtigen Traditionsuniversitäten durchaus über denen der meisten neu gegründeten Privatuniversitäten. Auch hier ist der Markt gespalten und in ständiger Entwicklung. Vielen galten die Privatuniversitäten in den Anfangsjahren der Privatisierung als Kaderschmieden des "Pinochetismus" und der Großunternehmen. Prototypisch hierfür ist die Universidad de los Andes, die nicht nur durch ihre Lage in einem exklusiven Wohnviertel in den Voranden einen deutlichen Abstand zu den niederen Schichten zu schaffen versuchte. Die Universität gehört - wie einige Gymnasien und eine weitere Universität - der katholischen Laienorganisation Opus Dei und zielte von Anfang an auf ein Publikum aus dem Milieu des Geldadels und der konservativen Funktionseliten Chiles. Allerdings ist auch Opus Dei in diesem Segment nicht mehr allein. Im Jahr 2002 Jahr lieferte sich la Obra, wie Opus Dei in Chile heißt, eine bizarre Übernahmeschlacht um eine weitere Privatuni, welche die Konkurrenz schließlich - versehen mit einer Grundstücksspende eines bekannten Großunternehmers - gewann: Die Universidad Finis Terrae ging an die Legionarios de Christo, eine noch fundamentalistischere und noch mehr an den Eliten orientierte katholische Laienorganisation mit Ursprung in Mexico.
Aber dies ist nur eine Seite des Angebotes. Daneben gibt es ein Segment an Privatuniversitäten, das sich auch an die schwächeren Schüler wendet. Um 450 Prozent stieg die Zahl der Studenten an den privaten Universitäten in den letzten zehn Jahren - und viele dieser Studenten stammen aus ärmeren Milieus der Bevölkerung und der unteren Mittelschicht. Da der Staat für die Privatuniversitäten bisher keine Studienförderung zu leisten bereit ist (allerdings soll sich dies demnächst ändern) müssen viele Studenten nebenher arbeiten - was sicher auch nicht unbedingt dem Studienniveau förderlich ist.
Letztendlich kann man das Bildungssystem Chiles nicht eindeutig bewerten. Wie immer im Leben ist das Glas, je nach Perspektive, halb leer oder halb voll. Denn bei allen Unzulänglichkeiten liefert das Bildungssystem Chiles, vor allem der öffentliche Sektor, doch eine gewisse Chance für einen Bildungsaufstieg. Immerhin ein Viertel der Schüler, die das Schulsystem abgeschlossen haben, gingen im Jahr 2000 auf eine Hochschule. Und 70 Prozent der Studenten, die dieses Jahr ihr Studium aufnehmen werden, stellen die erste Generation von Universitätsstudenten in der Geschichte ihrer Familie dar. Darunter sind nicht wenige Kinder aus Familien, die es im Boom der 90er Jahre schafften, aus der extremen Armut herauszukommen.
Vergleicht man dies mit den Zahlen aus den frühen 60er Jahren, in denen lediglich 0,2 Prozent eines Jahrganges eine Hochschulausbildung vollendete, dann sieht man, welchen Sprung das Land trotz allem gemacht hat. Dies ist vor allem ein Verdienst der Demokratie: Während unter Pinochet die öffentlichen Ausgaben für den Bildungssektor deutlich zurück gefahren worden waren (die Ausgaben für die universitäre Bildung sanken um 40 Prozent), haben die drei Mitte-Links-Regierungen der Concertación seit 1990 diese Ausgaben um 300 Prozent gesteigert.
Auf der anderen Seite bleiben die Defizite: Die Ausbildung ist nicht immer gut. Sie hängt extrem von der Kaufkraft und dem Bildungsstand der Herkunftsfamilien ab. Und sie produziert in vielerlei Hinsicht Absolventen, die niemand braucht und denen niemand Arbeit gibt. Das Land ist überschwemmt mit billig ausgebildeten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, die Taxi fahren, die als Briefträger (für die inzwischen privatisierte) Post arbeiten oder sich von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten retten, immer in der Hoffnung, nicht ganz aus dem System zu kippen.
Und noch immer produziert das chilenische Ausbildungssystem viel zu wenig qualifizierte Fachkräfte, die notwendig wären, um den Sprung von einer auf Rohstoffe gegründeten Dritte-Welt-Ökonomie zu einer wissensbasierten Industriegesellschaft zu schaffen. Lehrer und Dozenten sind oft schlecht bezahlt und die Bildungsperspektiven eines intelligenten jungen Menschen sind - weit mehr als in vergleichbaren Ländern - vor allem von einem abhängig: dem Geld, das er im Rücken hat.
So ist das chilenische Bildungssystem vor allem eines: Ein getreuer Spiegel der chilenischen Klassen- und Rassengesellschaft. Wer arm ist, hat wenig Perspektiven. Wer arm und indianischer Abstammung ist, fast gar keine. "Das Bildungssystems Chiles", so sieht es zumindest der ehemalige Bildungsminister Ernesto Schiefelbein, "ist schlecht und ungerecht". Aber das soll es, siehe PISA, ja auch in anderen Ländern geben.
aus: der überblick 01/2003, Seite 32
AUTOR(EN):
Ernst Hillebrand :
Dr. Ernst Hillebrand ist Projektleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Chile. Von 1990 bis 1996 arbeitete er in Kamerun, Cote d'Ivoire und Benin als Projektleiter der FES.