Kinder zweiter Klasse
120 Millionen Bauern sind in China als Wanderarbeiter unterwegs, wo sie in den boomenden Städten des Ostens ihr Glück suchen. Auf der Strecke bleiben dabei oft die Kinder, die in der Stadt keinen Zugang zu Schulbildung haben. Jetzt nehmen immer mehr Wanderarbeiter das Heft selbst in die Hand und gründen ihre eigenen Schulen.
von Katrin Fiedler
Xu Zhudi hatte einen unglücklichen Start. Als sie vor 14 Jahren geboren wurde, versuchte ihre Mutter, sie zu töten - aus Verzweiflung, keinen Sohn geboren zu haben. Xu Zhudi überlebte und wurde in eine Pflegefamilie gegeben. Heute deutet nur noch ihr Name Zhudi ( Wunsch nach einem Bruder ) auf ihre Geschichte.
Ihre neue Familie sorgte gut für sie. Da Henan aber eine arme Provinz ist, beschlossen ihre Eltern, nach Nanjing zu ziehen. Xu Zhudi blieb in Henan bei Verwandten zurück. An Schulbesuch war aber nicht zu denken, dafür fehlte das Geld.
Vor einigen Jahren konnte Xu Zhudi endlich zu ihren Eltern nach Nanjing ziehen. Sie hatten Arbeit gefunden und konnten es sich nun leisten, sie in die Schule zu schicken. Die Überraschung folgte auf den Fuß: Städtische Schulen sind nicht verpflichtet, Kinder von außerhalb ihres Einzugsbereichs aufzunehmen, und nutzen diese Situation als lukrative Einnahmequelle: Nur nach Zahlung von horrenden "Verwaltungsgebühren" oder "Spenden" werden auch Wanderarbeiterkinder aufgenommen - und von Lehrern und Mitschülern oft wie Schüler zweiter Klasse behandelt.
Das Beispiel der Schulbildung für Wanderarbeiterkinder zeigt, mit welchen Problemen das Bildungswesen in China derzeit zu kämpfen hat. Der Strukturwandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik hat zu einer eigenwilligen Kombination geführt: Neue, marktwirtschaftliche Elementen sind gepaart mit Überbleibseln aus der sozialistischen Zeit wie dem patriotischen Unterricht in Parteigeschichte. Hinzu kommt, dass China trotz aller wirtschaftlichen Erfolge immer noch ein Entwicklungsland ist. Zwar herrscht seit einigen Jahren eine neunjährige Schulpflicht, doch der universelle Zugang zu Bildung ist keineswegs garantiert. Millionen Landkinder verlassen jedes Jahr vorzeitig die Grundschule, weil sie das Schulgeld nicht aufbringen können. Dieses Problem ist bekannt, und in groß angelegten Kampagnen wird mit staatlicher Unterstützung nun um Spenden für diese mittellosen Kinder geworben. Auf der Strecke blieben dabei aber bisher die Wanderarbeiterkinder.
120 Millionen Bauern haben sich in China auf den Weg in die Städte gemacht, wo sie als Bauarbeiter, Kellnerinnen oder Müllsammler in einem Monat oft den Gegenwert eines bäuerlichen Jahreseinkommens erzielen. Aber: In der Stadt haben sie als illegal zugewanderte Neubürger kein Recht auf einen Platz in einer Bildungseinrichtung, eine Wohnung oder medizinische Versorgung.
Es ist paradox, dass in der Stadt, wo sie ein besseres Leben suchen, ihre Lebensverhältnisse in vielen Bereichen schlechter sind als auf dem Land. Und ihre Kinder, denen sie auf dem Land kaum eine brauchbare Schulbildung ermöglichen konnten, haben oft auch in der Stadt keine Chance, einen Platz in einer Schule zu bekommen. Drei Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter, so wird geschätzt, sind von diesem Problem betroffen.
Xu Zhudi hatte jedoch Glück. Andere Wanderarbeiterfamilien, die aus Henan kamen und in Nanjing eine Henansiedlung gegründet hatten, ging es ähnlich. Sie griffen kurzerhand zur Selbsthilfe: Unter Aufsicht der Distriktregierung richteten die in einem Trainingszentrum tätigen Wanderarbeiter eine improvisierte Grundschule ein. Genau genommen verdiente die Schule kaum diesen Namen: ein baufälliges Gebäude ohne ausreichende Ausrüstung oder Installationen, zudem bei Regen häufig überflutet. Die Situation war so alarmierend, dass Nanjinger Medien davon berichteten. Schließlich nahm sich eine örtliche Hilfsorganisation der Schule an; so konnten die Unterrichtsbedingungen wesentlich verbessert werden. Heute sitzen Xu Zhudi und ihre rund 400 Mitschüler in hellen, trockenen Räumen.
Die Bemühungen der Wanderarbeiter in Nanjings Henansiedlung, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, sind Ausdruck des traditionellen chinesischen Bildungsbewusstseins, das heute mit Blick auf die Modernisierung der Wirtschaft wieder stärker wird. Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) hat China eine höhere Alphabetisierungsrate als Indien und liegt etwa gleichauf mit Brasilien. Wo man es sich leisten kann, werden Kinder wie Pekingenten - so der Volksmund - mit Wissen und Bildung vollgestopft. Doch bei weitem nicht alle Eltern haben dafür genügend Geld. Immer häufiger nehmen Wanderarbeiter das Heft deshalb selbst in die Hand und errichten einfache Schulen für ihre Kinder. "Ich habe selbst keine gute Ausbildung und kann nur Handlangertätigkeiten ausüben oder im Kleinhandel arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe deshalb nicht mehr aus mir machen können. Aber ich hoffe, dass es meinen Kindern in Zukunft nicht ebenso ergeht. Mein größter Wunsch ist es, dass die Kinder eine gute Zukunft haben. Egal, welche Härten ich auf mich nehmen muss, meine Kinder sollen auf jeden Fall in die Schule gehen", lautete eine typische Antwort bei einer Befragung in Nanjing. Etwa 70 Prozent der Wanderarbeiter haben einen Mittelschulabschluss, das heißt neun oder sogar zwölf Jahre Schulbildung. Damit gehören sie zur ländlichen Elite und wollen es nicht zulassen, dass ihre Stadtkinder weniger Bildung erhalten als sie selbst bekommen haben. Die Elterngeneration der Migranten versucht, ihre Lebensbedingungen nun durch harte Arbeit zu verbessern, für ihre Kinder aber wird das nicht ausreichen.
In Nanjing schicken manche Eltern ihre Sprösslinge jeden Tag vom anderen Ende der Stadt in die Schule in der Henansiedlung. "Sie mögen die Lehrer", erklärt Schulleiterin Yang Xiaojing. Wenn man Yang zuhört, wird schnell klar, dass das größte Kapital der Schule die äußerst engagierten Lehrer sind. Yang, die "von Kindheit an Lehrerin werden wollte", kämpft für jedes einzelne Kind. "Jeder Mensch hat von Geburt an ein Recht auf Bildung," erklärt sie mit Nachdruck. "Wir sehen so viele Kinder, die keinen Zugang zu Schulbildung bekommen. Einmal fanden wir zwei Mädchen, sieben und elf Jahre alt. Beide waren niemals zur Schule gegangen. Sie lebten mit ihrer Mutter in einer verkommenen Hütte aus Holz und Plastikplanen. Unser Ziel ist es, diese Kinder zu vollwertigen, kompetenten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Die Erziehungsziele sind dieselben unabhängig davon, ob es sich um Migrantenkinder handelt oder nicht. Für uns ist es eine Berufung, diese Kinder großzuziehen."
Nicht alle Schulen haben derart engagiertes Lehrpersonal. Manche Wanderarbeiter haben die Ausbildungsmisere als Einnahmequelle entdeckt und betreiben "Schulen" nur zur Gewinnerzielung. Das Lehrpersonal verfügt dann oft selbst kaum über eine Ausbildung. Die Ford Foundation fand bei einer Studie über Migrantenschulen in Peking sogar Schulleiter, die kaum des Schreibens mächtig waren.
Auch in Xu Zhudis Schule reichen die Qualifikationen der Lehrer eigentlich nicht für das aus, was eine Grundschule in Chinas zunehmend wettbewerbsorientierter Gesellschaft heute leisten muss. Zur Zeit hat die Schule 13 Lehrer, und das Gros der 350 Yuan (rund 43 Euro) Schulgebühren pro Kind und Semester wird für Lehrergehälter aufgewandt. Dementsprechend knapp ist das Geld für andere Erfordernisse, etwa Ausrüstung oder Lehrerfortbildung. Viele der Wanderarbeiterschulen werden in abrissreifen Gebäuden betrieben, zudem drängen sich die Schüler in viel zu kleinen Räumen. Inzwischen erhalten einige Migrantenschulen Unterstützung von chinesischen und ausländischen Hilfsorganisationen. Die Schule in der Henansiedlung wird zum Beispiel von der Amity Foundation des chinesischen Christenrates unterstützt.
"Trotz aller Anstrengungen kann die Qualität der Ausbildung an diesen Schulen nicht mit den etablierten staatlichen Schulen mithalten, obwohl sie ähnliche Lehrpläne haben", sagt Zhang Liwei, der bei der Amity Foundation das Projekt in der Henansiedlung betreut. Die Erziehungsbehörden stehen hier vor einem Dilemma: Die meisten Schulen für Wanderarbeiterkinder können nur bestehen, weil sie eine kostengünstige, das heißt einfache Ausbildung anbieten. Sollten diese Schulen die gleichen Standards wie staatliche Schulen erfüllen, wären die Meisten von ihnen nicht überlebensfähig.
Überhaupt ist die rechtliche Situation der privaten Wanderarbeiterschulen schwierig. Aufgrund unzureichender Räumlichkeiten, Hygiene und Unterrichtsvoraussetzungen können viele dieser Schulen nicht vom Staat anerkannt werden. Andererseits können die Behörden wegen des Mangels an Alternativen und der gesetzlichen Schulpflicht kaum eingreifen. "Wir sind vielleicht illegal, nicht aber verfassungswidrig", fasst ein Schulleiter die Rechtslage zusammen. "Alle Kinder haben ein Recht auf Bildung." Über 100 Wanderarbeiter-Schulen gibt es allein in Peking, mit einer Schülerzahl zwischen sieben und 1300.
Die Unterstützung von Schulen für Migrantenkinder ist für die Amity Foundation Teil ihres Engagements gegen die Armut im Land. Zur alten ländlichen Armut ist neue, städtische hinzugekommen. Zhang Liwei: "Diese Kinder wurden größtenteils in Nanjing geboren. Als Erwachsene werden sie sagen: Ich bin Nanjinger." Also auch eine Frage des Lokalstolzes? Natürlich. Vor allem aber ist man besorgt, dass sich mit den ungelösten Problemen der Wanderarbeiter - von denen der Zugang zu Bildung nur eines ist - sozialer Sprengstoff anhäufen könnte. Unter der Oberfläche schlummert ein großes Unruhepotenzial. "Als ich einige der Geschichten dieser Kinder las, voll von Vorwürfen über die Vernachlässigung, denen sie ausgesetzt waren, wurde mir klar: die Saat des Hasses ist bereits gesät", so Zhang Liwei.
Nicht nur als Ausbildungsinstitutionen, sondern vor allem auch als Orte der Geborgenheit sind die Schulen für Wanderarbeiterkinder wichtig. "Dort genießen die Schüler nicht nur eine Ausbildung, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl," berichtet Zhang Liwei. "Ich mag es hier, weil mein Status in einer normalen Schule ein anderer wäre," sagt ein Junge aus Guangxi in einer Migrantenschule in Peking. "Mein Leben wäre anders." Aus Gesprächen mit den Kindern wird schnell klar: Die Kinder wollen in die Schule gehen, vor allem diejenigen, denen eine Ausbildung nur unter Schwierigkeiten ermöglicht wird.
Inzwischen schenkt der Staat dem Problem der Wanderarbeiterkinder mehr Aufmerksamkeit. Die Registrierung privater Schulen ist wesentlich einfacher geworden, und die Gebühren, die reguläre Schulen von Migrantenkindern verlangen, sind zum Teil erheblich gesenkt worden. Die enorme Zahl der Wanderarbeiter und ihrer Kinder macht deren Bildung auch zu einem genuinen Entwicklungsproblem. "Es geht um die nächste Generation der chinesischen Landbevölkerung. Wenn das Problem ihrer Ausbildung nicht gelöst wird, steht China vor einem großen Problem, das sich direkt auf den Entwicklungsprozess niederschlagen kann", erläutert Zhang Liwei.
Mit der Errichtung von Grundschulen für Wanderarbeiterkinder ist es auf Dauer nicht getan. Xu Zhudi und ihresgleichen wachsen schnell heran, und in Nanjings Henansiedlung verlangt die Elternschaft bereits die Einrichtung einer Mittelschule. Heute geht Xu Zhudi bereits in die fünfte Klasse, wo sie Seite an Seite mit wesentlich jüngeren Schülern lernt. Dennoch macht die Schule ihr offensichtlich Spaß. "Mathe ist mein Lieblingsfach", verrät sie mit einem scheuen Lächeln. Jeden Morgen fährt Xu Zhudi mit dem Fahrrad zur Schule, wo sie auch zu Mittag isst. An normalen Tagen kommt sie nach fünf Uhr nachmittags nach Hause. Was hat sie vor, wenn sie die sechsjährige Grundschulzeit beendet hat? "Ich möchte auf die Mittelschule gehen", sagt sie zuversichtlich.
aus: der überblick 04/2002, Seite 53
AUTOR(EN):
Katrin Fiedler:
Dr. Katrin Fiedler ist Sinologin und arbeitet seit 1999 im Hongkonger Büro von "The Amity Foundation", einer Stiftung des chinesischen Christenrates für Entwicklungsaufgaben und soziale Belange.