Für Indien bietet die Liberalisierung des Bildungsmarktes große Chancen
Wo Bildungsnotstand herrscht, werden üblicherweise mehr Bildungsinvestitionen durch den Staat gefordert. Nur dieser könne mit öffentlichen Schulen eine Grundbildung für alle ermöglichen; Privatisierung von Bildungseinrichtungen gehe dagegen zwangsläufig auf Kosten der Armen. James Tooley hat in Indien Privatschulen für Arme entdeckt und untersucht, die den Vorstellungen der Eltern besser entsprechen und gute Ergebnisse erreichen.
von James Tooley
Entwicklungsexperten sind überwiegend der Auffassung, dass es die Aufgabe von Regierungen - gegebenenfalls mit Unterstützung seitens anderer Länder oder internationaler Organisationen - ist, Bildung für alle bereitzustellen. Bei genauerem Hinschauen ist das eigentlich merkwürdig, geht man doch in den meisten anderen Lebensbereichen vom Gegenteil aus. Sogar Persönlichkeiten wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen unterstreichen die entscheidende Rolle der Märkte in unserem Leben. Märkte trügen dazu bei, ein hohes Wirtschaftswachstum zu erzielen, Armut zu reduzieren und uns Freiraum für eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu geben.
Sen gibt zu, dass solch ein Verständnis von der Bedeutung der Märkte für die Entwicklung noch relativ jung ist: "Es gab eine Zeit, die noch nicht allzu lange zurückliegt, in der jeder junge Wirtschaftswissenschaftler 'wusste', welche schwer wiegenden Nachteile Marktsysteme hätten: in allen Lehrbüchern stand die gleiche Liste von Fehlern." Die Ablehnung von Marktmechanismen seitens der Intellektuellen führte häufig dazu, dass radikale Vorschläge gemacht wurden, wie man die Welt mit völlig anderen Methoden organisieren könne (manchmal mit mächtigen Bürokratien und zuvor ungeahnten Steuerlasten). Dabei wurde nie ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass die vorgeschlagenen Alternativen vielleicht noch größere Schwächen aufweisen könnten, als die Märkte. Das intellektuelle Klima hat sich in den vergangenen Jahrzehnten recht dramatisch verändert, und die Vorzeichen haben sich jetzt umgekehrt.
Warum stellt die Bildung hier eine Ausnahme dar? Warum befürchtet die Entwicklungsfachwelt nicht, dass die Armen unter den Folgen der "mächtigen Bürokratien" leiden könnten, von denen Sen spricht, sondern geht vielmehr davon aus, dass die Auswirkungen positiv sein werden? Warum machen sich Entwicklungsexperten keine Gedanken über die von Sen erwähnten potenziell "noch größeren Misserfolge", wenn es um die Bereitstellung staatlich-öffentlicher Bildung geht?
Die Haltung der Entwicklungsexperten in aller Welt ist besonders merkwürdig, wenn man an die erdrückenden Beweise denkt, die es für die Überlegenheit von Privatschulen ganz allgemein gibt. Es sind viele Studien durchgeführt worden, die die Vor-und Nachteile von öffentlichen und privaten Schulen gegenübergestellt und verglichen haben. Sie alle haben die Überlegenheit der privaten Schulen im Hinblick auf Leistung und Kosteneffizienz gezeigt, selbst unter Berücksichtigung verzerrender Faktoren wie der Schulwahl entsprechend dem sozialen und wirtschaftlichem Status. Die Wissenschaftler untersuchten die Frage: "Wie viel mehr Leistung wird in einer privaten Schule zu gleichen Kosten pro Schüler erreicht im Vergleich zur öffentlichen Schule?" Das Ergebnis zeigt, dass die privaten Schulen gegenüber staatlichen Schulen zwischen 20 Prozent mehr leisten (wie in den Philippinen) bis hin zum erstaunlichen 6,74-Fachen (wie in Thailand).
Obwohl diese Studien bereits mögliche Verzerrungen durch den sozioökonomischen Status und das Auswahlverfahren berücksichtigen, scheint die Fachwelt anzunehmen, dass derartige Privatschulen vorrangig der Elite oder der gehobenen Mittelschicht nutzen und deshalb für die Debatten über Hilfe für die Armen nicht von Bedeutung sind. Aber neuere Untersuchungsergebnisse zeigen, dass diese Vermutung haltlos ist und dass in der Tat private Schulbildung den Armen nutzen kann - sogar mehr als den Reichen.
Für viele wird es eine Überraschung sein, dass es solche Privatschulen für die Armen überhaupt gibt. Ich selbst bin erstmals im Rahmen einer empirischen Studie im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh im Januar 2000 auf derartige Schulen gestoßen, im Rahmen eines Forschungsauftrags der International Finance Corporation, der Weltbanktochter zur Unterstützung privater Investitionen in Entwicklungsländern. Nachdem mir klar geworden war, was in diesen Schulen passiert, habe ich dort mit Forschungsarbeiten begonnen und Fortbildung für das Personal angeboten. Dabei wurden in einer Zufallsstichprobe Daten von fünfzehn derartigen selbstfinanzierten Privatschulen gesammelt, die alle in den Slumgebieten von Andhra Pradeshs Hauptstadt Hyderabad liegen. Angesichts der Neuartigkeit des Phänomens will ich hier ein paar Details der bisherigen Untersuchungsergebnisse schildern, um eine Idee davon zu vermitteln, was in Indien geschieht. Denn darin spiegelt sich wider, was in den Entwicklungsländern ganz allgemein vor sich geht.
Es überraschte mich, wie verbreitet solche privaten Schulen sind, die ohne staatliche Unterstützung funktionieren. Offizielle Zahlen aus dem Distrikt Hyderabad zeigen, dass 61 Prozent aller Schüler Privatschulen ohne staatliche Unterstützung besuchen. In den fünfzehn Schulen unserer Stichprobe lagen die monatlichen Schulgebühren zwischen 35 und 175 Rupien, das sind umgerechnet zwischen gut 70 Cent und 3,50 Euro pro Monat. Diese selbstfinanzierten Privatschulen werden von Schülern besucht, deren Eltern man wahrlich nicht als Elite oder Mittelschicht bezeichnen kann. Die Untersuchungen in Hyderabad haben gezeigt, dass 15 Prozent der Väter nicht zur Schule gegangen sind, im Falle der Mütter sind es sogar 30 Prozent. Die große Mehrzahl der Mütter, 63 Prozent, ist entweder gar nicht zur Schule gegangen, oder hat die Schule höchstens bis zur siebten Klasse besucht. Die meisten Väter sind Tagelöhner; sie arbeiten als Händler auf dem Markt, als Lastenträger oder als Rikschafahrer. Nur etwa 15 Prozent von ihnen verrichten eine niedrig bezahlte Bürotätigkeit. Obwohl es in einigen Haushalten zwei oder drei Verdiener gibt - das war so bei etwa 20 Prozent der untersuchten Fälle -, leben etwa 33 Prozent von einem Familieneinkommen unterhalb des Mindestlohns.
Alle diese Schulen sind durchgehend, das heißt sie bieten Betreuung und Unterricht vom Kindergarten bis zur zehnten Klasse an. In allen Schulen ist die Unterrichtssprache Englisch, und sie sind konfessionell ungebunden. Obwohl viele von ihnen wegen ihres Standorts in einem muslimischen Gebiet vor allem muslimische Schüler haben, werden nirgendwo Kinder aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses ausgeschlossen. Es ist interessant, dass alle Schulen, bis auf eine, Kindern aus sehr bedürftigen Familien auch freie beziehungsweise verbilligte Plätze zur Verfügung stellen. Im Durchschnitt lag die Quote dafür bei 15 Prozent der Plätze, und die Kosten dafür beliefen sich auf durchschnittlich 7 Prozent der gesamten Schulausgaben.
Warum wählen arme Eltern in Indien und in anderen Entwicklungsländern Privatschulen, wenn es kostenlose staatliche Schulen als Alternative gibt? Der 1999 erschienene, von der indischen Regierung geförderte Probe-Report gibt einige deutliche Hinweise. Der Bericht beschreibt, was in öffentlichen Schulen für Kinder aus einkommensschwachen Familien schiefläuft. Als die Forscher Schulen ihrer Zufallsstichprobe unangekündigt aufsuchten, waren nur in 53 Prozent der Schulen irgendwelche Unterrichtsaktivitäten zu beobachten. Die Autoren schreiben: "... die Unterrichtstätigkeit ist im Hinblick auf Zeit und Aufwand auf ein Minimum reduziert worden. Und dieses Muster beschränkt sich nicht auf eine Minderheit von verantwortungslosen Lehrern" es ist für den Berufsstand alltäglich geworden.
Noch bedeutsamer ist, dass der Bericht auf die Existenz von Privatschulen zum Nutzen von armen und einkommensschwachen Familien hinweist und eingesteht, dass die an staatlichen Schulen festgestellten Mängel in den Privatschulen so nicht auftreten. In den allermeisten Privatschulen - die ebenfalls unangekündigt besucht und nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden - gab es "fieberhafte Unterrichtsaktivitäten". Dieser Unterschied ist so krass, dass die Mehrheit der Eltern angab, dass sie bei gleichen Kosten für den Besuch einer staatlichen oder einer privaten Schule ihr Kind lieber zur Privatschule schicken würden.
Was also haben die Privatschulen zu bieten, dass Eltern und Kinder sie so erstrebenswert finden? Gibt es Merkmale der privaten Schulbildung, die im öffentlichen Schulwesen fehlen? Das erste entscheidende Merkmal, das Privatschulen den öffentlichen Schulen voraus haben, so der Bericht, ist das Prinzip der Rechenschaft: "In einer Privatschule sind die Lehrer gegenüber der Schulleitung verantwortlich (die sie entlassen kann) und indirekt auch gegenüber den Eltern (die ihre Kinder abmelden können). In einer staatlichen Schule ist die Kette der Verantwortlichkeit viel schwächer ausgeprägt, weil die Lehrer eine feste Anstellung haben und ihr Gehalt und ihre Beförderung unabhängig von ihrer Leistung sind. Dieser Unterschied wurde von der überwiegenden Mehrzahl der Eltern mit aller Deutlichkeit wahrgenommen."
Verantwortlichkeit gegenüber den Eltern setzt voraus, dass diese eine aktive Wahl treffen können, - und die Studie in Hyderabad fand viele deutliche Hinweise darauf, dass Eltern von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch machen - und dass Schulleiter sich bewusst sind, dass sie sich auf einem Markt mit scharfer Konkurrenz befinden und entsprechend handeln müssen. Auf die Frage an die Eltern, wie viele andere Schulen sie sich vor der Entscheidung für die jetzige Schule ihres Kindes angesehen hatten, gaben alle an, sich zumindestens noch für eine weitere interessiert zu haben. Die größte Gruppe, 45 Prozent, hatte sich zuvor über zwei andere Schulen informiert. Etwa ein Drittel hatte sich für eine einzige weitere Schule interessiert. Aber immerhin ein Viertel hatte auch drei und mehr andere Schulen angesehen.
Welche Faktoren beeinflussen die Schulwahl dieser Eltern? Im Rahmen der Untersuchung in Hyderabad wurden die Eltern gebeten, verschiedene Faktoren danach zu gewichten, welchen Einfluss sie auf die Wahl der Schule hatten. Auffällig ist, dass das Kriterium Englisch als Unterrichtssprache für 90 Prozent der Eltern sehr wichtig war, und weitere 6 Prozent gaben an, dass es für sie bei der Auswahl der Schule ziemlich wichtig gewesen sei.
Natürlich sind sich die Schulträger der Elternwünsche bewusst und berücksichtigen diese. Etwa 75 Prozent der Schulträger gaben an, dass sie mehr als drei Mitbewerber auf dem Markt haben - obwohl interessanterweise keiner der privaten Schulträger die staatlichen Schulen als Konkurrenz betrachtete. Indem sie Englisch als Unterrichtssprache anbieten, gehen die Privatschulen auf diesem umkämpften Markt auf die Wünsche der Eltern ein. Aber sie gehen noch weiter. Im Verlauf der Untersuchung in Hyderabad fanden wir Privatschulen für Kinder aus einkommensschwachen Familien, die das Korsett des staatlichen Lehrplans für die Klassen eins bis vier komplett aufgegeben hatten. Sie konzentrieren sich stattdessen ganz auf Englisch und Mathematik. Sie hatten nämlich erkannt, dass die Eltern genau das wollen und die Kinder das brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt später einmal Erfolg zu haben.
Obwohl also Privatschulen Vorteile für die Bevölkerung haben, die - wie weithin akzeptiert - mit den öffentlichen Schulen mehr schlecht als recht versorgt wird, setzt sich kaum jemand wirklich für diese Schulen ein. So schreckt auch der Probe-Report vor einer Empfehlung zurück, den Privatschulen eine entscheidendere Rolle zukommen zu lassen. Das Forschungsteam schreibt, dass der Bericht ein "relativ rosiges" Bild von privaten Schulen male, wo die "Verantwortlichkeit gegenüber den Eltern" zu "einem hohen Maß an Unterrichtsaktivitäten ... besserer Ausstattung mit und Nutzung von technischen Hilfsmitteln, besserer Betreuung jüngerer Schüler, Offenheit der Lehrer gegenüber Beschwerden der Eltern" führe. Aber es gebe drei wichtige Gründe, warum die Untersuchungsergebnisse sie nicht davon überzeugt hätten, dass eine größere Rolle für den Privatschulsektor wünschenswert oder notwendig sei: Erstens nutzten Privatschulen "die Wehrlosigkeit der Eltern oft aus", zweitens richteten Privatschullehrer den Unterricht gezielt auf die Prüfungsvorbereitung aus, hätten aber "wenig Veranlassung, die persönliche Entwicklung der Kinder zu fördern, einfühlsam mit ihnen umzugehen oder ihnen moralische Werte zu vermittelt". Das dritte Argument lautet, dass Privatschulen für die große Mehrheit der armen Eltern unbezahlbar seien.
Die ersten beiden Kritikpunkte beziehen sich auf die Qualität der privaten Schulbildung. Sie fußen jedoch nicht auf den Erhebungen des Probe-Reports: Die in Hyderabad durchgeführten Untersuchungen, die sich tatsächlich mit der Qualität des Angebotes der Privatschulen beschäftigt haben, decken sich nicht mit diesen Schlussfolgerungen. Aber natürlich gibt es in den untersuchten Schulen auch eine Reihe von qualitativen Mängeln, wie es nicht anders zu erwarten ist in Schulen, die umgerechnet rund 20 Euro Schulgeld pro Jahr erheben. Zudem bestehen zwischen den Schulen Qualitätsunterschiede. Wenn man jedoch wirklich den Armen helfen will, müssen Wege gefunden werden, wie man zur Verbesserung dieser Schulen beitragen kann, statt sie dafür zu verdammen, dass sie bestimmte wünschenswerte Standards nicht erreichen.
Der dritte Einwand hat einen wahren Kern: Nicht alle Eltern können sich private Schulen leisten. Für manche Familien sind sogar Schulgebühren, die so niedrig sind wie in den untersuchten Schulen, unbezahlbar - sie liegen bei etwa fünf Prozent des Jahreseinkommens eines Rikschafahrers. Für viele Familien mit fünf und mehr Kindern sind solche Summen möglicherweise einfach zu hoch. Aber im Durchschnitt stellen die Schulen der Hyderabad-Studie 15 Prozent Plätze kostenlos oder verbilligt für bedürftige Kinder zur Verfügung. In den Schulen mit den höchsten Gewinnen betragen die kostenlosen und verbilligten Schulplätze sogar etwa 20 Prozent der gesamten Kapazität. Die Schulen selbst wissen also, dass sie auch den Ärmsten helfen müssen.
Wünschenswert wäre es, ein privates Stipendienprogramm aufzulegen, um den Ärmsten der Armen den Zugang zu privater Schulbildung zu ermöglichen, anstatt sich mit der minderwertigen Qualität staatlicher Schulen abzufinden. Ein solches Stipendienprogramm könnte die Schulen entlasten und sie in die Lage versetzen, mehr Geld in Investitionen zu stecken.
Literatur
Emmanuel Jimenez,"Marlaine E. Lockheed and Vicente Paqueo: The Relative Efficiency of Private and Public Schools in Developing Countries. In World Bank Research Observer " Vol. 6, no. 2, 1991.
Emmanuel Jimenez, Marlaine E. Lockheed and Nongnuch Wattanawaha: The Relative Efficency of Private and Public Schools: the Case of Thailand. In "The World Bank Economic Review", Vol. 2, no. 2, Oxford 1988.
Geeta Kingdon: The Quality and Efficiency of Private and Public Education: A Case Study of Urban India. In "Oxford Bulletin of Economics and Statistics", 58.1, 1996.
The Probe Team: Public Report On Basic Education In India, Oxford University Press, 1999.
Amartya Sen: Development as Freedom, New York 1999.
aus: der überblick 04/2002, Seite 23
AUTOR(EN):
James Tooley:
James Tooley ist Professor für Bildungspolitik an der "University of Newcastle Upon Tyne", Großbritannien.