Hilfsorganisationen als Nachrichtenquelle
Hilfsorganisationen und Korrespondenten arbeiten in Afrika zwangsweise eng zusammen. Zum Problem wird das dann, wenn sich Nachrichten wie im Fall der Flut in Ostafrika 2007 verselbständigen.
von Marc Engelhardt
Nach wochenlangem Regen ersoff vielen Bauern in der Region um Katakwi im September 2007 die Ernte – im ohnehin sumpfigen Osten Ugandas lief das Wasser nicht ab und verdunstete auch nur schwer. "Die Menschen müssen nicht vor reißenden Fluten Zuflucht auf Bäumen nehmen wie einst in Mosambik, aber ein normales Leben ist unmöglich geworden", erklärte Sarah Amolo vom "Lutherischen Weltbund", die in Katakwi lebt und arbeitet.
Bei der Nachrichtenagentur Reuters las sich das am 14. September so: "Fluten in Folge schwerer Regenfälle haben in Ostafrika mindestens 41 Menschen getötet, tausende sind obdachlos... Die Region leidet regelmäßig im August und September, dem Ende der Regenzeit, unter Überschwemmungen." In der gleichen Meldung berichtete der Direktor des Welternährungsprogramms in Äthiopien von ersten Lebensmittellieferungen für die Flutregion, wo 42.000 Bewohner obdachlos geworden seien.
So ist es fast immer in Afrika, wenn Zahlen und Fakten, oder auch Einschätzungen gebraucht werden: UN und Hilfsorganisationen, die auf dem Kontinent ein dichteres Netz haben als jede Nachrichtenagentur, sind die ersten Anlaufstellen für Informationen. Beide haben den Vorteil, fast überall und über einen langen Zeitraum in Afrika präsent zu sein, während die meisten Korrespondenten von Nairobi oder Johannesburg aus Ereignisse in mehr als 40 Länder abbilden müssen.
Natürlich verfolgen Korrespondenten die Lage, sei es über Rundfunk, Internet oder Agenturen, und sollten deshalb die richtigen Fragen stellen und Antworten einordnen können. Auch haben sie im Regelfall den Ort des Geschehens bereits ein- oder mehrmals besucht und kennen ihre Quellen persönlich, was bei der Einschätzung hilft. Aber weil es in Afrika praktisch keine staatlichen Stellen gibt, die schnell und zuverlässig mit Informationen weiterhelfen können, und sich nur wenige Korrespondenten Stringer – zuliefernde Journalisten – leisten können (und dann auch nur in einigen Ländern), sind Helfer vor Ort unentbehrliche Informanten – und werden im Text, samt ihrer Organisation, natürlich auch zitiert.
Doch längst ist es so, dass sich Medien und Helfer gegenseitig verstärken. Vor allem die BBC, die in Afrika den Ruf hat, hinter jedem Busch präsent zu sein, ist für Berichterstatter wie Helfer eine Art Kompass. Am 16. September machte der BBC World Service seine Hauptnachrichten mit Bildern aus Ghana und Uganda auf: Menschen in Booten, überschwemmte Dörfer, "Millionen sind von den Fluten in Afrika betroffen", so die Überschrift. Die Sprecherin der UN-Koordinationsstelle für humanitäre Hilfe (OCHA), Elizabeth Byrns, wurde eher zurückhaltend zitiert: "Die Regenfälle gehen weiter, wir sind wirklich besorgt." Doch am 18. September meldete die Nachrichtenagentur AFP "die schlimmsten Überschwemmungen seit Jahrzehnten in Afrika", ihre Konkurrentin dpa sprach am gleichen Tag von der "schlimmsten Flut seit Menschengedenken", ohne dass es für diese Aussage eine Quelle gab: "Schlammige, rotbraune Wassermassen walzen in diesen Tagen unbarmherzig Dörfer und Siedlungen... nieder", geht es weiter. In diesem Bericht kommt nicht ein einziger Mitarbeiter einer Hilfsorganisation zu Wort, stattdessen wird ein ghanaischer "Krisenmanager" zitiert ("Ganze Dörfer sind von der Landkarte verschwunden"), sowie Ugandas Nothilfeminister und Bewohner, deren Stimmen wiederum in der BBC übertragen wurden. "Die Lebensmittelpreise steigen, doch ein Sinken der Wassermassen ist nicht in Sicht", heißt es abschließend – Katastrophenlyrik statt Fakten.
Mitarbeiter von Hilfsgruppen erklären später, sie seien von dem plötzlichen Interesse der Medien an der Flut überrumpelt worden. "Die Regenfälle waren heftiger als in den vergangenen Jahren, aber wir und unser Team vor Ort wurden durch die aktuellen Aufrufe und Berichte überrascht", sagt etwa ein Mitarbeiter von "Cap Anamur". Kein Wunder, denn während 2007 etwa 1,5 Millionen Menschen in ganz Afrika betroffen sind, waren es im Jahr zuvor alleine in Ostafrika mehr als doppelt so viele. In Äthiopien kamen 2006 an einem einzigen Tag rund 900 Menschen in den Fluten ums Leben, in ganz Afrika sollen es im September 2007 über 250 gewesen sein. Doch während die Zusammenarbeit von Korrespondenten und Helfern vor Ort ruhig und routiniert abläuft, lassen sich an dieser Flut neue Mechanismen beobachten, die auf Dauer die Berichterstattung aus Afrika gefährden können.
Als die Agenturen "Land unter" in ganz Afrika melden, rüstet sich die "Aktion Deutschland hilft" für einen Großeinsatz. Das Bündnis, dem zehn große deutsche Hilfsorganisationen angehören, schickt nicht nur die Pressesprecherin, sondern auch ein Kamerateam und die Journalistin Nicole Macheroux-Denault ins Flutgebiet. Von dort macht Macheroux-Denault, die beim RTL Nachtjournal arbeitet, nicht nur Berichte für die Website der Organisation und bietet Klammermaterial an, das Fernsehsender bestellen können – sie taucht nach ein paar Tagen auch in den RTL-Nachrichten auf, wo sie – ohne als Mitarbeiterin des Bündnisses kenntlich gemacht zu sein – von der Flut berichtet. Anders als ARD und ZDF hat RTL keine Korrespondenten in Afrika, doch hätte man natürlich einen Reporter von Köln aus schicken können. Dass eine Reporterin zeitgleich für ein Hilfsbündnis und einen Fernsehsender berichtet, ist hingegen die schlechtmöglichste Lösung – und stellt das Gebot der Trennung von redaktionellem Inhalt und Werbung in Frage. "Aktion Deutschland hilft" bemühte sich dem Vernehmen nach, Beiträge auch bei "Sat1" unterzubringen, was aber misslang. Die Gründe dafür sind unklar.
Der Vorfall erinnert an Reportagen, die – von Hilfsorganisationen produziert und bezahlt – 2004 als redaktioneller Inhalt bei n-tv gezeigt worden waren. Die Hilfsorganisation Worldvision, die im Abspann als "freundliche Unterstützer" gewürdigt wurden, hatte die Filme fast komplett finanziert. Erwartungsgemäß kam sie gut weg: In einem Bericht über "Kindersoldaten – Ugandas vergessene Kinder" wurde sie binnen einer halben Stunde "epd Medien" zufolge zwölfmal genannt, in dem Beitrag "Angolas Fluch – Die Minen" waren es immerhin noch viermal. Die im Film dargestellten Projekte wurden vorteilhaft präsentiert, was sie möglicherweise auch verdient haben – das Problem bleibt: Es handelte sich bei keinem der insgesamt zwölf Reportagen um ein journalistisches Produkt. Der deutsche Journalistenverband urteilte: "Der Privatsender hat sich aus rein wirtschaftlichem Interesse für PR-Zwecke einspannen lassen."
Denn Reportagen, vor allem Auslandsreportagen, sind teuer. Die Produktionsfirma NeuSehLand, welche die umstrittenen Reportagen für n-tv produzierte, erklärte damals "epd Medien": "So macht man heute privatrechtliches Fernsehen." Wenn man ernste Themen wie Entwicklung oder Umwelt unterbringen wolle, gelte: "Die Finanzierung muss man mitbringen."
Dramatisch für die Berichterstattung sind solche Ereignisse auch deshalb, weil sich viele Zeitungen längst keinen festen Afrika-Korrespondenten mehr leisten. Von den wenigen Journalisten, die heute noch aus Afrika berichten, arbeiten viele frei und finanzieren sich mehr schlecht als recht über Zeilengeld. Reisen, die ein dickes Minus in die Kasse hauen, refinanzieren sich nur über einen langen Zeitraum. Das gilt auch bei den berühmten "Pressereisen", bei denen in Afrika im Regelfall der Journalist für Unterkunft, Verpflegung und Linienflüge selbst aufkommt.
Die Reise mit einer Hilfsorganisation ist aus ganz anderen Gründen hilfreich. In viele Krisenregionen gelangt man fast nur dann, wenn man gemeinsam mit Helfern unterwegs ist. Die Beantragung von Visa wird deutlich erleichtert, ebenso Reisegenehmigungen und natürlich die Orientierung vor Ort. Ein Flüchtlingslager im Osten Tschads ist zunächst einmal ein Wust an Unterkünften und Menschen. Es hilft, wenn die Helfer vor Ort den Kontakt zu traditionellen Führern, zu lokalen Politikern oder anderen herstellen können.
Auch die Projekte der Hilfsorganisationen sind meistens interessante Anlaufstellen: Hier kommt man ins Gespräch mit Bewohnern, bekommt Hinweise auf weitere Recherchepunkte und im Zweifel noch ein interessantes Reportageelement dazu. Wichtig ist, dass man jederzeit nein sagen kann und die Recherche (die Berichterstattung sowieso) in der Hand behält. Professionelle Hilfsorganisationen wissen, dass sie auf einer Reise dem Journalisten möglichst spannende Angebote machen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das klingt mehr nach Gratwanderung, als es letztlich ist. Ich selbst jedenfalls habe in den vier Jahren, die ich in Afrika verbracht habe, noch nie ein Problem mit einer Organisation deswegen gehabt.
Die Probleme mit Visa und – für das Fernsehen – mit Drehgenehmigungen sind hingegen nicht zu unterschätzen. Vor den Wahlen in Nigeria in diesem Frühjahr war es monatelang unmöglich, ein Journalistenvisum zu bekommen. Alle Anträge gingen auf dem Faxweg zwischen der Botschaft und Abuja angeblich verloren. Die meisten Journalisten kontaktierten deshalb Hilfsorganisationen, um eine Einladung ins Land zu bekommen. Doch ungefährlich ist auch das nicht, wie der Fall der deutschen Dokumentarfilmer Florian Opitz und Andy Lehmann beweist. Beide drehten im Herbst 2007 im ölreichen Niger-Delta. Die Dokumentationen von Opitz liefen in ARD, 3Sat und ARTE; sein letzter Film über die Folgen der Privatisierung, "Der große Ausverkauf", wurde deutschlandweit in Kinos gezeigt. Die Filmemacher waren offiziell aber als Studenten im Auftrag einer nigerianischen Hilfsorganisation unterwegs. Und deshalb stehen sie derzeit vor Gericht, ihnen drohen 14 Jahre Haft.
Mit solchen Aktionen wollen Regierungen wohl auch Druck auf Journalisten wie Hilfsgruppen ausüben. Der sudanesischen Regierung ist das im Fall von Darfur längst gelungen. Praktisch keine Organisation geht derzeit das Risiko ein, Journalisten im Schlepptau mit in die westsudanesische Krisenregion zu nehmen. Selbst Statements zur aktuellen Lage werden – wenn überhaupt – anonymisiert gegeben. Es ist einer der seltenen Fälle, wo Hilfsorganisationen darum bitten, nicht genannt zu werden. Die Gruppen, deren Aufgabe es vornehmlich ist, zu helfen, sind in der Zwickmühle: Sie wissen, dass es Öffentlichkeit braucht, damit eine Dauerkrise wie Darfur nicht vergessen wird. Doch zugleich sorgen sie sich um eine mögliche Ausweisung aus Darfur und das Leben ihrer Mitarbeiter. Ein moralisches Dilemma, von dem nur die Regierung in Khartum profitiert, die den Konflikt am Kochen halten möchte.
Bei der generell guten Zusammenarbeit gibt es jedoch auch immer wieder einmal Konflikte, die vor allem mit den unterschiedlichen Rollen von Helfern und Journalisten zusammenhängen. Der Notfallarzt und Chirurg Richard Munz hat seine Kritik an Berichten aus Katastrophengebieten in einem Buch zusammengefasst: Dort erklärt Munz, "was es wirklich bedeutet, vor Ort zu helfen". Erfahrung dafür hat er genug: Seit mehr als 20 Jahren ist er als Organisator und Leiter von Katastropheneinsätzen unterwegs; zudem lehrt Munz an der Ruhr-Universität Bochum im Studiengang "Internationale Humanitäre Hilfe". Zwölf Mythen hat er ausgemacht, die das Herzstück seines Buches sind, etwa der Mythos von der Untätigkeit der hilflosen Überlebenden, die in Wahrheit meist die ersten Helfer sind, oder der Mythos vom heillosen Durcheinander, dass oft erst entstehe, weil hunderte Helfer aus aller Welt gleichzeitig helfen wollen – koste es, was wolle. Doch was das Buch besonders prägt, ist eine offensichtliche Abneigung des Autors gegen Journalisten und ein Unverständnis gegenüber Berichten, die nicht immer dem täglichen Erleben des Helfers entsprechen.
Was das heißen kann, erfuhr ARD-Hörfunkkorrespondent Wim Dohrenbusch, als er in einem auch unter Korrespondenten kontrovers diskutierten Kommentar zur Flut im Herbst 2007 den Hilfsorganisationen Dramatisierung vorwarf: "Offensichtlich müssen Hilfsorganisationen heute aus einer Überschwemmung eine Flutkatastrophe oder aus einer Dürre eine Hungerkatastrophe machen, um ihre Spendenkassen zu füllen." Dass das Kritik herausfordern würde, war klar und überraschte Dohrenbusch nicht, der schon lange in Afrika arbeitet. Doch der Sprecher einer großen UN-Organisation bemängelte vor allem die bloße Tatsache, dass man eine solche Meinung haben könne. Dass es sich um einen Kommentar handelt, der genau das soll – Meinung zuspitzen und zur Debatte anregen – war für den Sprecher kein Argument: In einem Schreiben drohte er sogar an, den Deutschen Presserat einzuschalten.
aus: der überblick 04/2007, Seite 48
AUTOR(EN):
Marc Engelhardt
Marc Engelhardt lebt in Nairobi und arbeitet von dort als freier Afrika-Korrespondent unter anderen für den Evangelischen Pressedienst (epd) und die ARD.