Ein Drittel der Menschheit hat nur eingeschränkt Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten
Die Versorgung mit grundlegenden Medikamenten ist im Gesundheitswesen armer Länder ein vordringliches Problem. Kirchliche Gesundheitsdienste helfen besonders in Afrika, diese Lücke zu füllen. Ohne Finanzhilfe von Außen ist aber eine Versorgung der Ärmsten mit unentbehrlichen Medikamenten, gerade zur Aids-Behandlung, kaum denkbar.
von Bernd Ludermann
Millionen armer Menschen sterben jedes Jahr an behandelbaren Krankheiten, weil sie keinen Zugang zu den nötigen Gesundheitsleistungen haben. Häufig bräuchten sie keine komplizierte Untersuchung, sondern nur Medikamente etwa gegen Atemwegserkrankungen, Durchfall oder Malaria. Die aber können sie sich nicht beschaffen oder nicht leisten: Wichtige Arzneien sind in der Nähe nicht zuverlässig verfügbar oder für Arme unerschwinglich.
"Unentbehrliche Medikamente sind etwa 300 bis 400 Präparate. Sie sollten für alle bezahlbar und innerhalb einer Stunde vom Wohnort verfügbar sein zumindest 40 bis 50 Mittel, die auch kleine ländliche Gesundheitsposten haben sollten. Die WHO schätzt ganz grob, dass etwa ein Drittel der Weltbevölkerung so verstanden keinen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten hat", erklärt Dr. Hans Hogerzeil, der Direktor der Abteilung Medikamentenpolitik und Standards bei der WHO. "Betroffen sind vor allem Afrika und die ärmeren Länder Asiens, darunter Teile von Indien und China. In manchen Ländern hat bis zur Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang, etwa im Kongo oder im Sudan."
Vier Dinge sind nötig, damit Menschen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten haben, erläutert Hogerzeil. Erstens müssen die richtigen Medikamente ausgewählt werden. Dies ist eine Aufgabe der Regierungen. Die WHO gibt eine Liste wirksamer, sicherer und kostengünstiger Medikamente heraus, doch je nach Land stehen andere Gesundheitsgefahren im Vordergrund. Zweitens ist ein verlässliches Verteilsystem nötig, das Krankheiten diagnostiziert, die Medizin verordnet, sie bevorratet und deren Qualität sichert. Drittens dürfen unentbehrliche Medikamente nicht zu teuer sein. Viertens muss sichergestellt sein, dass jemand dafür bezahlt: der Staat, eine Krankenversicherung, die Patienten selbst oder aber ein Spender.
Wo eine funktionsfähige Regierung die wichtigsten Medikamente identifiziert hat und die Verteilung zumindest teilweise öffentlich organisiert, haben nach dem Eindruck der WHO am ehesten alle Zugang zu diesen Arzneien. In armen Gebieten, in denen das Gesundheitswesen weitgehend privatisiert ist zum Beispiel in Westchina , sieht es laut Hogerzeil schlechter aus. Und in vielen, besonders afrikanischen Ländern ist der Staat zu schwach, zu schlecht geführt oder beides, um die Medikamentenversorgung zu sichern.
In vielen dieser Länder spielen Kirchen im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle (vgl. das Gespräch mit Godfrey Biemba). Sie unterhalten gerade in Afrika neben Krankenhäusern viele ländliche Gesundheitsposten, die auch Medikamente in abgelegene Regionen bringen. Um sie mit Arznei zu beliefern, haben eine Reihe Kirchen zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo und in Kamerun eigene kirchliche Zentralapotheken (Drug Supply Organisations, DSO). Sie kaufen Arzneien und liefern kostendeckend, aber ohne Profit an Endverkäufer weiter. In anderen Ländern, etwa Malawi, Nigeria und Sambia, sind DSO den Christian Health Associations (CHA) angegliedert. Diese Dachverbände der Gesundheitsdienste mehrerer christlicher Konfessionen bestehen in zwölf afrikanischen und einigen anderen Ländern, darunter Indien. Sie stärken die fachlichen und organisatorischen Fähigkeiten ihrer Mitglieder, vertreten das gesamte kirchliche Gesundheitswesen eines Landes gegenüber dem Staat und kaufen oft Medikamente gemeinsam ein.
Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Arzneiversorgung in sehr armen Ländern leistet das Ökumenische Pharma-Netzwerk EPN (Ecumenical Pharmaceutical Network). Es entstand 1981 als Teil der Arbeit der Kommission für Medizin (Christian Medical Commission) beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf. Nach und nach wurde aus einem Genfer Arbeitskreis ein Netzwerk mit über 80 Mitgliedern in 32 Ländern, davon 23 afrikanischen. Beteiligt sind Christian Health Associations, kirchliche Gesundheitseinrichtungen wie Hospitäler und Apotheken sowie Partner in fünf Industrieländern; in Deutschland arbeitet das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) aus Tübingen mit. Das EPN hat seit 1995 ein kleines Sekretariat in Nairobi und wird von "Brot für die Welt" und dem EED gefördert. Mit einer internationalen Tagung in Tübingen feierte es im Mai seinen 25. Geburtstag.
Das Netzwerk hilft die Dienstleistungen seiner Mitglieder verbessern. Es hat zum Beispiel Leitlinien ausgearbeitet, welche Medikamente kirchliche Arznei-Anbieter im Sortiment haben, wie sie diese lagern und wie sie die vernünftige Anwendung fördern sollten. Schon in den 1980er Jahren hat sich das EPN auf Standards für die Annahme von Medikamenten-Spenden aus dem Norden verständigt; die WHO entwickelte diese dann zu Leitlinien weiter. Danach darf zum Beispiel kein Spender die kostenlose Abgabe "seiner" Arzneien verlangen. Denn dann müssten kirchliche oder öffentliche Einrichtungen aus ihren Mitteln die Lagerung und Verteilung finanzieren, und das vielleicht für Medikamente, die gar nicht dringend benötigt werden.
Das EPN macht es auch kirchlichen Gesundheitsdiensten, besonders Afrikas, leichter, international gehört zu werden. "Die WHO bezieht das EPN immer ein, wenn es um strategische Fragen der Medikamentenversorgung geht", sagt Hogerzeil. Unter den Fachleuten sei das Netzwerk ein angesehener Partner.
Zusammen mit der WHO hat das EPN die Arbeit von 16 kirchlichen Zentralapotheken in Afrika untersuchen lassen. Sie funktionieren demnach insgesamt gut. Allerdings halten sie oft die Leitlinien des EPN etwa für die Lagerung von Medikamenten und die Förderung der rationalen Anwendung nicht ein. Mangel an qualifiziertem Personal ist der Hauptgrund dafür. Über die Hälfte der 16 Organisationen hat auch Arzneispenden außerhalb der eigenen Leitlinien akzeptiert. "Die Spender geben, was ihnen passt, und die Zentralapotheken nehmen es", erklärte die Kenianerin Jane Masiga, ein Vorstandsmitglied des EPN, auf der Tagung in Tübingen.
Die Studie des EPN und der WHO fand, dass kirchliche Anbieter in zehn afrikanischen Ländern durchschnittlich immerhin 43 Prozent der Medikamentenversorgung bereitstellen. Sie gelten als eine Art Sicherheitsnetz, wo staatliche Systeme versagen. Soll man daher mit Entwicklungshilfe eher kirchliche als staatliche Arzneianbieter unterstützen? "Einige kirchliche Gesundheitsdienste sind sehr stark und besser als die staatlichen, da sollte man den Weg über sie nehmen", sagt Hogerzeil. "Wenn aber die Qualität des kirchlichen Systems nicht gesichert ist oder die Regierung das Gesundheitswesen ernsthaft regeln will und vernünftige Dienste bietet das ist etwa in Tansania, Uganda oder Ghana der Fall , dann sollten die Kirchen dies respektieren." Im Gesundheitssystem eines Landes, betont Hogerzeil, sollte es immer nur einen Plan, ein Verteilsystem und ein Berichtssystem geben.
Eine gut funktionierende Verteilung ist aber nur eine Seite beim Zugang zu Medikamenten. Die andere ist der Preis. "Von dem Geld, das Haushalte in armen Ländern für Gesundheitsversorgung ausgeben, entfällt der größte Teil bis zu 80 Prozent auf Medikamente. Deshalb sind für arme Menschen die Preise der Medikamente entscheidend", erklärt Hogerzeil. Der Zugang zu Arznei ist ihm zufolge dort am besten, wo der Staat die Kosten für Arme subventioniert. Das kann mit Hilfe einer staatlich unterstützten Krankenversicherung geschehen, die es in Afrika aber kaum gibt. Eine andere Möglichkeit ist, dass wie in Ägypten und Indonesien staatlich unterstützte Fabriken das öffentliche Gesundheitswesen billig mit entscheidenden Arzneien beliefern. Auch das kann die Mehrzahl der afrikanischen Länder nicht leisten, zumal eine Pharma-Industrie sich in Ländern mit kleiner Bevölkerung kaum rentiert. Die meisten afrikanischen Länder importieren einen Großteil ihrer Medikamente.
Die Kosten tragen die Kranken: "80 bis 90 Prozent der Medikamente in Afrika werden von den Kranken selbst bezahlt. Im Durchschnitt kann ein Drittel derjenigen, denen Medikamente verordnet werden, sie nie kaufen", sagt Hogerzeil. "Andere kaufen nur genug für ein oder zwei Tage." Eine Erhebung der WHO und der nichtstaatlichen Organisation (NGO) Health Action International in acht afrikanischen Ländern hat das 2005 bestätigt: Besonders wenn in einer Familie chronische Krankheiten wie Asthma oder Diabetes vorkommen, genügt das Gehalt eines unteren Regierungsbediensteten (und viele Familien haben weniger) nicht für die nötigen Medikamente. Auch nicht für so genannte Generika das sind Nachahmer-Produkte, die denselben Wirkstoff wie das ursprüngliche Markenprodukt enthalten und preiswerter sind.
Ohne Zuschüsse von Außen wird man also Menschen in sehr armen Ländern kaum ausreichend Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten geben können. Das gilt besonders für anti-retrovirale Medikamente, die bei Aids-Kranken das Virus in Schach halten. In der billigsten Version (Generika aus Indien mit Wirkstoffen der ersten Generation) kostet eine Jahresdosis mindestens 132 US-Dollar. Die 54 Länder mit niedrigen Einkommen (darunter 34 der 48 Länder südlich der Sahara) haben im Mittel ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von gut 500 US-Dollar pro Jahr. Kaum jemand kann da eine Aids-Medikation bezahlen. Dabei ist Afrika südlich der Sahara die am stärksten von Aids betroffene Region: Dort lebten 2005 nach Schätzungen des UN-Aidsprogramms 22 bis 27 Millionen der insgesamt 33,4 bis 46 Millionen Aids-Infizierten. Bei 5,8 bis 8 Millionen Menschen in Entwicklungsländern hat die Infektion laut der WHO das Stadium erreicht, wo anti-retrovirale Medikamente zum Überleben nötig sind, darunter zwischen 4 und 5,4 Millionen in Afrika.
Die wachsende internationale Hilfe für das Gesundheitswesen armer Länder hat den Zugang zu Medikamenten etwas verbessert. Sie hat zum Beispiel bewirkt, dass laut der WHO in Entwicklungsländern rund ein Viertel der Bedürftigen Aids-Medikamente erhalten. In Afrika bekommen etwa eine Million Aids-Kranke solche Präparate, das sind zehnmal mehr als Ende 2003, aber unter ein Viertel der Bedürftigen. Der größte Teil der Kosten wird aus Entwicklungshilfe gedeckt.
Hilfreich für den Zugang zu Medikamenten sind Generika. Viele nach Afrika importierte Arzneimittel sind Generika aus Indien. Dort konnten Medikamente bis vor kurzem nicht patentiert werden, so dass eine leistungsfähige Pharma-Industrie entstanden ist. Der Handel mit Generika wird nun jedoch durch das Abkommen über "handelsbezogene geistige Eigentumsrechte" (TRIPS) erschwert, das im Rahmen der Welthandelsorganisation beschlossen wurde. Es hat Indien gezwungen, seine Patentgesetze zu Anfang 2005 zu ändern. Neu entwickelte Wirkstoffe sind seitdem auch dort geschützt. Ausnahmen sind möglich, aber Generika-Exporte mit neuen, patentgeschützten Wirkstoffen müssen umständlich genehmigt werden.
Deshalb könnten neue Medikamente gegen Aids, aber auch etwa gegen Malaria und Tuberkulose noch lange teuer bleiben. Dies droht unter anderem die Versorgung mit Aids-Medikamenten wieder zu gefährden. Denn viele Patienten müssen, weil das Virus gegen Medikamente der ersten Generation resistent wird, nach wenigen Jahren auf neue Präparate umsteigen. Sie sind nur teilweise als Generika verfügbar und etwa zehnmal teurer.
Ein zusätzliches Problem der Aids-Medikation ist allerdings, dass die Medikamente ein Leben lang genau nach Plan und richtig dosiert genommen werden müssen. Daher ist eine fachliche Begleitung nötig, die das Gesundheitswesen in vielen Ländern nicht ausreichend leisten kann. Um das Problem zu mildern, schult das EPN Kirchenführer unter anderem in Grundkenntnissen der Aids-Behandlung, damit sie auf Verbesserungen drängen. Kleriker aus sechs afrikanischen Ländern haben bisher teilgenommen, allerdings keine aus dem besonders betroffenen südlichen Afrika. "Brot für die Welt" bringt seine Partnerorganisationen in Afrika, die in der Aids-Behandlung arbeiten, mit dem EPN in Verbindung, damit sie sich dort fachlichen Rat holen können.
Albert Petersen vom DIFÄM, der auch Vorstandsvorsitzender des EPN ist, sieht in den Hilfsprogrammen für die Aids-Behandlung eine große Chance, das Gesundheitswesen der afrikanischen Staaten insgesamt zu verbessern. "Gerade Kirchen setzen sich dafür ein, dass keine Sonderstrukturen nur für Aids aufgebaut werden", erklärt er. Wegen der hohen Kosten auf die Verteilung anti-retroviraler Medikamente zu verzichten und das Geld für andere Gesundheitsprobleme zu verwenden, ist für ihn keine Option: "Dann sterben jedes Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Menschen infolge von Aids. Das nötige Geld muss irgendwie aufgebracht werden."
Das sehen der EED, "Brot für die Welt" und viele andere NGOs genauso. Viele treten dafür ein, den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten dazu gehören anti-retrovirale Mittel als Teil des Menschenrechts auf Gesundheit anzusehen. Sie berufen sich darauf, dass im Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, dem 153 Staaten beigetreten sind, das Recht auf den besten erreichbaren Gesundheitsstandard enthalten ist. Laut einem Rechtskommentar des zuständigen UN-Komitees von 2000 gehört dazu das Recht auf angemessene Gesundheitsversorgung einschließlich Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten. Es zu verwirklichen, ist eine Aufgabe für nationale Regierungen wie für die Staatengemeinschaft.
Auch die WHO unterstützt inzwischen diesen Ansatz. Ihr sind laut Hogerzeil 59 Fälle bekannt, in denen Einzelne ihr Recht auf Zugang zu Medikamenten gegen die eigene Regierung eingeklagt haben. Erfolg hatten sie überwiegend in 52 Fällen in Lateinamerika, außerdem zweimal in Südafrika und einmal in Indien. Diese Länder können die Kosten für eine medizinische Grundversorgung eher tragen als die ärmsten Länder, die dafür noch lange ständige internationale Zuschüsse benötigen werden. Kirchliche Gesundheitseinrichtungen und Hilfswerke und auch das EPN fordern die Industrieländer daher auf, die nötige Hilfe zu gewähren. Außerdem sollen Pharma-Unternehmen ihre Produkte an arme Länder preiswerter abgeben. Auf beiden Gebieten sind immerhin Teilerfolge zu verbuchen.
aus: der überblick 03/2006, Seite 92
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann