Nelson Mandelas Lehrjahre
von Tom Lodge
In den verschiedenen Erzählungen über Mandela wird seinem aristokratischen Status viel Gewicht beigemessen. Seine Abstammung wird darin als maßgebende Quelle seiner charismatischen Wirkung betrachtet. "Seit früher Kindheit seitdem er ein kleiner Junge in der Transkei war wurde Mandela als jemand behandelt, der etwas Besonderes war", so Richard Stengel, der an Mandelas Biografie mitgearbeitet hat. "Sein Selbstvertrauen als Politiker" verdankte sich wesentlich "der Sicherheit und Einfachheit seiner ländlichen Erziehung". Mandela selbst behauptet, dass ein Großteil seiner Kindheit eine Art Lehre war, geprägt vom Wissen um seine "Bestimmung" für ein hohes Amt innerhalb der Strukturen des königlichen Hauses der Thembu.
In den 20er Jahren konnte das "Eingeborenen- Reservat" Transkei noch eine bäuerliche Wirtschaft aufrechterhalten. Mandela selbst erinnert sich, dass im Haus seiner Mutter Milch immer reichhaltig vorhanden war. Mandelas Vater, Henry Gadla, stand einer vorwiegend heidnischen Gemeinschaft vor, obwohl seine Mutter, eine Analphabetin, zum methodistischen Glauben übergetreten war.
Mandelas Ausbildung begann lange, bevor er die Missionsschule besuchte. Offenbar war er ein "ernster Junge, der zusammen mit vielen anderen Abkömmlingen des großen Xhosa Häuptlings Ngubengcuka" am Feuerplatz gesessen und den Geschichten seines großen Onkels gelauscht hat, Geschichten, in denen es um die Grenzkriege der Xhosa gegen die Briten und auch um Konflikte aus jüngerer Zeit ging.
Mandela war sich der altbewährten afrikanisch-nationalistischen Tradition bewusst, und dieses Bewusstsein wurde seinen eigenen Erzählungen zufolge geschärft durch die Lektionen, die er auf dem Großen Platz von Jongintaba Dalindyebo lernte, dem Platz des Königs der Thembu. Der hatte Mandela als seinen Pflegesohn und als Gefährten für seinen Sohn Justice angenommen.
In seiner Oberschulzeit in den beiden methodistischen Elite-Institutionen Clarkebury und Healdtown war Mandela, wie er 1962 behauptete, "bitter enttäuscht" über den Geschichtsunterricht, weil die Geschichtsbücher und die Lehrer "nur weiße Führer anerkannten... Afrikaner wurden darin beschrieben als Wilde und Räuber". Tatsächlich gab es in beiden Schulen schwarze und weiße Lehrer. Und einer der schwarzen Lehrer, Weaver Newana, belebte den Geschichtsunterricht durchaus mit seiner eigenen Version mündlicher Überlieferung, wie Mandela sie auch am Feuerplatz seines Vaters und auf Jongintabas Großem Platz gehört hatte.
Healdtown hatte auch den Preissänger, Xhosa-Dichter und Historiker Samuel Mqhayi zu Gast. Dieser sprach zu den versammelten Schülern und Lehrern über den "brutalen Konflikt zwischen dem, was einheimisch und gut und dem, was fremd und schlecht" sei. Anschließend rezitierte er den aufrüttelnden Ruf zum Aufstand, den er anlässlich des Besuchs des Prinzen von Wales geschrieben hatte eine Vorstellung, die ihn, so erinnert sich Mandela, elektrisiert und gleichzeitig verwirrt zurückließ. Alles in allem jedoch waren nach Mandelas Erinnerung die in den Lehrplan aufgenommenen Wertvorstellungen, Ideen und Prinzipien "englisch", und tatsächlich stammte auch die Mehrheit des Lehrkörpers nicht aus Südafrika, sondern aus Großbritannien. In Clarkebury und Healdtown mag sich Mandela ganz bewusst dagegen gewehrt haben, ein "schwarzer Engländer" zu werden, trotzdem haben ihn beide Lehranstalten wie auch seine frühere Schulausbildung zutiefst beeinflusst.
Der streng regulierte Tagesablauf der Internatsschule half, Selbstbeherrschung einzuüben. Boxen und Leichtathletik traten an die Stelle der Stockkämpfe der Kindheit, in denen er gelernt hatte, Gegner zu schlagen, ohne sie zu demütigen. Die Schule unterstützte auch seinen Respekt vor Ordnung, Disziplin, Struktur und Autorität. Seine Klassenkameraden erinnern sich an einen exemplarischen Vorfall aus der Zeit, in der Mandela Vertrauensschüler in Healdtown war. Dabei sprang er auf uncharakteristische Weise selbstgerecht auf den Tisch des Speisesaals und ermahnte seine Mitschüler, ein verantwortungsvolleres Benehmen an den Tag zu legen.
In den 50er Jahren vertraute man Mandela als eine Führungsfigur des ANC die Aufgabe an, ein Konzept für die politische Organisation an der Basis zu entwickeln. Darin stammte ein Großteil des Vokabulars, mit dem er die Funktionsträger und die Strukturen beschrieb, aus der Terminologie der methodistischen Kirche.
Am Vorabend vor einer Besuchsreise nach England im Jahr 1993 erzählte Mandela Journalisten, dass er "den Einfluss, den Großbritannien und die britische Kultur auf uns gehabt haben" niemals abgestreift habe. In seiner Autobiografie bekennt er sich dazu, so etwas wie ein Anglophiler zu sein... "in vielerlei Hinsicht war für mich das Wesen eines Gentleman immer das eines Engländers; zwar habe ich die Vorstellung des britischen Imperialismus immer verabscheut, aber die Feinheiten des britischen Stils und seiner Umgangsformen habe ich niemals abgelehnt."
Trotz des beschriebenen eher antikolonialen Geschichtsunterrichts an der Feuerstelle war auch Jongintabas Haushalt christlich und anglophil geprägt; Jongintabas Frau trug den Namen No- England (Mutter von England). Und die erste direkte Erfahrung mit britischen Manieren hatte Mandela am Esszimmertisch des Pfarrhauses in der Nähe von Jongintabas Hof. Er war dorthin von einer der Töchter der Pfarrersfamilie, Winnie Matyolo, eingeladen worden.
Nationalistische südafrikanische Historiker stellen schnell eine Verbindungen her zwischen prekolonialen Institutionen, einem von Mandelas früher Jugend an bestehenden Widerstand gegen koloniale Herrschaft und dem Kampf des ANC für moderne Rechte. Sie schließen das aus Mandelas Erinnerung an mündliche Überlieferungen der Xhosa und aus seinem Herkommen aus einer aristokratischen Dynastie. Mandela selbst hat in seinen Reden vor Gericht darauf hingewiesen, dass "der Keim revolutionärer Demokratie" angelegt war in den auf Konsens ausgerichteten Verfahrensweisen, die er an Jongintabas Gerichtshof beobachtet hatte. Mandela behauptet, dass seine eigene Vorstellung von Führung im wesentlichen geprägt worden sei durch das, was er als Kind erlebt hat am Großen Platz von Jongintaba.
Aber die Welt, in der Mandela aufwuchs, war vielschichtig, weil es verschiedene im Wettstreit liegende institutionelle Zentren von Macht, Kultur und moralischer Autorität gab, die sich darüber hinaus auch noch in ihrem jeweiligen lokalen Kontext gegenseitig beeinflussten. Thembuland war seit den 1880er Jahren eine koloniale Verwaltung auferlegt worden. Von 1895 an war stufenweise neben einer Häuptlinge und traditionelle Distriktsführer einbeziehenden, aber auf Verwaltungsbürokratie beruhenden Regierung zusätzlich ein System gewählter Vertretung eingeführt worden. In diesem Wahlsystem nahm eine an Missionsschulen erzogene Elite, die sich wiederum im Wesentlichen aus Distriktführern und Häuptlingen zusammensetzte, die leitenden Positionen ein.
1938 schrieb der Anthropologe Isaac Shapera über "eine spezifisch südafrikanische Kultur, die von Schwarzen und Weißen gleicherrnaßen geteilt werde", in der "der Missionar, der Verwaltungsbeamte, der Händler und der Anwerber von Arbeitskräften ebenso als Bestandteile des Stammeslebens betrachtet werden müssten wie der Häuptling oder der Magier."
Zu Mandelas Schulzeit existierte eine Xhosa-Literatur in gedruckter Form, ursprünglich das Publikationsprodukt der Glasgower Missionsgesellschaft von 1821. In Mandelas Jugendjahren war Samuel Mqhayi, dem er in Healdtown gelauscht hatte, der einflussreichste Xhosa-Schriftsteller. Mqhayis Art zu schreiben war ein Beispiel für die kulturelle Synthese zwischen Englisch und Xhosa, die in der literarischen Standardisierung des Xhosa zum Ausdruck kam; sie wurde sichtbar in der Anpassung des traditionellen isibongi (der Lobesgesänge) an den formalen Stil der Victorianischen Englischen Poesie. Das war eine literarische Kultur, die nachdrücklich in Healdtown gefördert wurde. 1938 gewann Mandela hier den Jahrespreis für den besten in Xhosa geschriebenen Essay. Mandela selbst wurde schon 1954 zum beliebten Sujet für isibongis, etwa als David Yali-Manisi seine Hommage schrieb an "den Mann der Stärke, der starken, eisernen Rute, der schwarzen von Mandela".
Die Methodistische Kirche in der Transkei war im wesentlichen afrikanisch; ihre Mitglieder wie Mandela auch pendelten zwischen dem, was sie später als "britische" und als "angestammte" Rahmenbedingungen kultureller Bezüge beschrieben. Die Sozialstruktur an Jongintabas Großem Platz war in gleicher Weise synkretistisch. Es gibt eine Sicht auf die Politik Mandelas, die nahelegt, dass seine Konzentration auf eine "nach Stammesregeln funktionierende Demokratie", die er an Jongintabas Großem Platz erlebt hat, ernsthafte Betrachtung verdient, weil darin die "verborgene Konsequenz seines politischen Denkens" zum Ausdruck kommt. In Mandelas "Stammes-Modell" ist Demokratie im Wesentlichen diskursiv: Jeder sollte frei sein, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, "ohne unterbrochen zu werden" ungeachtet jeder "Hierarchie der Wichtigkeit" unter den verschiedenen Sprechern. Versammlungen endeten gewöhnlich in "Einmütigkeit" oder Konsens oder gar nicht. Das Modell der "Mehrheitsherrschaft" war dagegen eine fremde Vorstellung.
Der Regent pflegte nur am Schluss solch traditioneller Versammlungen das Wort zu ergreifen. Seine Rolle sah vor, alles, was gesagt worden war, zusammenzufassen und einen gewissen Konsens unter den verschiedenen Meinungen herzustellen.
In diesem Modell von Demokratie ist "die Frage der Führung schon im Voraus entschieden und wird vollkommen getrennt gehalten von der Frage, wie der Volkswille interpretiert werden soll". Mandelas Hinweise auf solche Verfahrensweisen in seiner Autobiografie wurden in den frühen 1990er Jahren geschrieben, zu einer Zeit, in der sich südafrikanische Führungspersönlichkeiten Mandela eingeschlossen wie nie zuvor mit der Idee des Konsens beschäftigten. Mandelas Bereitwilligkeit, sich inspirieren zu lassen von seiner Kindheit, in der gesellschaftliche Harmonie erreicht wurde "nicht durch Leugnung der Unterschiede, sondern durch die Entwicklung moralischer Verhaltensregeln zu ihrer Überwindung", war 1962 eher ungewöhnlich, als er bei seinem Prozess von solchen kgotla- oder imbizo-Verfahrensweisen als von dem Brutkasten "revolutionärer Demokratie" sprach.
Beobachter haben auf Mandelas "patriarchalische" Stimme und seine aristokratischen Umgangsformen hingewiesen und haben beides in Zusammenhang gebracht mit seiner Abstammung und seiner Erziehung; aber Mandelas Verhältnis zu den prekolonialen Lehranstalten, wie er es in den einführenden Kapiteln in "Der lange Weg zur Freiheit" beschreibt, ist keinesfalls gradlinig.
Entscheidungsfindung, die auf dem Weg des Konsens zustande kommt, mag Beispiel sein für eine bestimmte Art von Demokratie, aber sie liegt im Streit mit der "allgemein verbreiteten Demokratie" der Mehrheitsherrschaft, der Mandela während der Verfassungsverhandlungen den Vorzug gab; und Mandela gibt selbst zu, "dass es Zeiten gibt, in denen ein Führer seiner Gefolgschaft vorausgehen muss".
Auf einer tieferen Ebene nehmen die Werte und Pflichten, die mit Familie und Verwandtschaft zu tun haben und die, wie in Mandelas Autobiographie beschrieben, das moralische Zentrum eines auf Erbfolge beruhenden Systems bilden, keine sehr gefestigte Position in seiner eigenen Geschichte ein. Wie er im Alter einräumte, "hat jeder Mann eine doppelte Verpflichtung"; und der Dienst an seinem Volk hinderte Mandela daran, seine Rolle als "Sohn, als Bruder, als Vater und als Ehemann zu erfüllen." Denn Mandela wuchs auf unter Umständen, in der die Väter abwesend waren und die Söhne sich Ersatzeltern suchten, um sie an die Stelle der Toten und der in der Ferne Lebenden zu setzen. Mandela gibt zu verstehen, dass er beim Tod seines Vaters Henry Gadla weniger Trauer empfand als das Gefühl, hilflos preisgegeben zu sein.
Es gibt ein wiederkehrendes Bild in seinem Buch: das Bild eines Kindes, das die Kleider seines Vaters anzieht: Der junge Nelson trägt die zurecht geschnittenen Hosen seines Vaters, als er zum ersten Mal zur Schule geht und Nelsons Sohn kleidet sich mit den Sachen seines Vaters nach Nelsons Scheidung. Das Bild wird zu einer ergreifenden Metapher für Verlust und Einsamkeit. Und wenn Mandela "hilflos ausgeliefert" ist bei Henrys Tod, um wie viel mehr muss er es gewesen sein bei der Trennung von seiner Mutter und der Welt der Frauen, in der er bis dahin so lange gelebt hatte, und bei seinem Umzug zum Großen Platz der Männer und Häuptlinge. Mandelas Kindheit war ungewöhnlich wegen des frühen Abschieds vom Haus der Mutter und seines Aufwachsens als Pflegesohn eines königlichen Herrschers.
Die emotionale Selbstkontrolle in Mandelas Persönlichkeit und auch seine Empfänglichkeit für neue Ideen lassen sich zurückführen auf seine Erziehung, die in hohem Maß von Institutionen geprägt war. Sowohl bei Gericht wie in der Schule verinnerlichte er die Prinzipien ritterlicher Umgangsformen, die durch sein ganzes öffentliches Leben hindurch wichtige Richtlinien blieben. Diese Prinzipien wurden erhärtet durch eine hoch entwickelte literarische Kultur, welche die Heldengeschichten der afrikanischen mündlichen Überlieferung mit dem victorianischen Konzept von Ehre, Anstand und Tugend verschmolz. Von Kindheit an war Mandelas Leben geformt von Ideen und Werten, die seine Landsleute schwarze wie weiße miteinander teilten; sie hatten für beide Seiten eher eine bindende als eine trennende Funktion.
In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass es in seiner Jugend keine einschüchternden oder erniedrigenden Begegnungen mit Weißen gab. Bis zu einem gewissen Grad unterscheidet das Fehlen solcher Erfahrungen seine Kindheit von der Kindheit vieler anderer schwarzer Südafrikaner. Die Verhaltensformen Sitten und unbewusste Reflexe , die er als Kind entwickelte, waren Produkt einer Hochkultur, die geprägt war von einheimischer Herrschaftsgeschichte und britischer aristokratischer Ethik, und beides beeinflusste sein späteres öffentliches Leben zutiefst und nachhaltig.
Gewöhnlich wird Mandela gezeichnet in der Rolle eines militanten Führers, der die Speerspitze in der Entwicklung des ANC in den 1950er Jahren bildete. Tatsächlich aber fand er sich oft im Konflikt mit den militanten Strömungen innerhalb des ANC in jener Zeit. Das folgende Beispiel illustriert das. 1958 beschloss der ANC einen dreitägigen Streik parallel zu den Parlamentswahlen unter den Weißen. Die etwas unrealistisch anmutende Absicht dahinter war die Hoffnung, auf die weißen Wähler Einfluss zu nehmen. Zum Ärger einiger besser organisierter ANC-Lokalgruppen in Johannesburg entschieden einige Führer des ANC, Mandela eingeschlossen, am Abend des ersten Tages, den Streik abzubrechen, nachdem sie enttäuschende Berichte über die Streikbeteiligung der Arbeiter erhalten hatten. Während der nachträglichen Erörterung des Streiks durch das Nationale Exekutivkomitee wurde Mandela in eine hitzige Kontroverse über den Einsatz von Streikposten verwickelt, eine illegale Maßnahme, die vielerorts eingesetzt wurde. Mandela wollte nichts davon hören, und blieb dabei, "am besten sei es, sich auf die freiwillige Unterstützung der Menschen zu verlassen".
Es gab überzeugende taktische Erwägungen, die die ANC-Führer dazu bewogen haben mochten, auf Konfrontation zu verzichten. Zunehmend teilte Mandela mit den Kommunisten in der Bewegung die Erkenntnis, dass man "vor jeder Aktion zunächst einmal eine Struktur haben muss, man muss die Organisationskapazität haben", und er mag sich klarer als die meisten seiner Kollegen in der ANC-Führung darüber gewesen sein, wie unzulänglich die Organisation des ANC an der Basis war. Mehr noch, so deutete Mandela an: Selbst ANC-Anhänger, abgesehen von denen in den politisch kampfbereitesten Zentren, mochten überwiegend moralisch noch nicht bereit gewesen sein zu direkter und gewaltsamer Konfrontation mit der Staatsmacht.
Von taktischen Erwägungen einmal abgesehen, glaubte die ANC-Führung Nelson Mandela eingeschlossen -in den 1950er Jahren tatsächlich an die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den Rassen. Die gelegentlichen freundlich-höflichen Gesten, und sogar Empathie, die ihnen von höchst unerwarteten Ecken entgegenkamen, halfen dabei, diesen Glauben aufrechtzuerhalten. Mandela misst solchen Erfahrungen eine große Bedeutung bei. Als er 1952 einmal durch den Orange-Freistaat fuhr, ging ihm das Benzin aus und er bekam Nachschub von einem "freundlichen und hilfsbereiten" Farmer, einem Verwandten des späteren Premierministers Johannes Strijdom.
Später im selben Jahr kamen Mandela und Yusuf Cachalia, der Führer der indischen Gemeinschaft, während der Kampagne für den passiven Widerstand nach Boksburg, und zwar ein paar Stunden, bevor eine der Freiwilligen-Gruppen eintraf, um den dortigen Amtsrichter rechtzeitig von der bevorstehenden Aktion in Kenntnis zu setzen, als ob sie sicherstellen wollten, dass die Polizei zur Stelle sein würde, um die nötigen Verhaftungen vorzunehmen.
Der Richter, so erinnerte sich Mandela im Gefängnis, "lud Yusuf Cachalia und mich in sein Büro ein und machte darauf aufmerksam, dass unangemessene Publizität um Angelegenheiten, die in Ruhe und direkt allein zwischen Südafrikanern diskutiert werden sollten, unerwünscht sei. Sein Büro, sagte er, würde immer offen für uns sein und wir könnten uns immer mit einem Problem an ihn wenden. Er vertraue darauf, dass wir auf diesem Weg einen bedeutsameren Fortschritt machen könnten beim Finden angemessener Lösungen. Ich hatte von einem weißen Beamten ein so höfliches und liebenswürdiges Benehmen nicht erwartet und war für einen Augenblick vollkommen überrascht. Aber ich begrüßte ganz offen die Gewichtigkeit seines Arguments und lobte ihn ausdrücklich für seine ernsthafte Einstellung. Diese zufällig entstandene Diskussion endete in freundlicher Stimmung. Vor diesem Justizbeamten war ich bei verschiedenen Gelegenheiten als Anwalt aufgetreten. Er war ein fähiger Mann, für den ich großen Respekt entwickelt hatte. Seine Reaktion auf die Art, in der wir ihn von den beginnenden Aktionen des passiven Widerstands in seinem Distrikt in Kenntnis gesetzt hatten, stimmte mit seiner zuvorkommenden Persönlichkeit überein."
Während des Hochverrats-Prozesses von 1956 bis 1961 entwickelten Mandela und seine Mitangeklagten sogar "eine gewisse Zuneigung" für den Staatsanwalt Oswald Pirow, den früheren Politiker der pro-Nazi orientierten "Neuen Ordnung", dessen höfliche Gewohnheit, uns als Afrikaner zu bezeichnen, in Kontrast stand zu seinen politischen Neigungen, die auf Vorherrschaft ausgerichtet waren."
Mandela war nicht der einzige, der bei den Gegnern des ANC im Gerichtssaal Anzeichen von Menschlichkeit entdeckte. Der zusammen mit Mandela verurteilte Ahmed Kathrada erinnert sich an die Schwester des furchterregenden Richters Kennedy, die als Protokollführerin im Gericht arbeitete und Häuptling Lutuli in seiner Gefängniszeit während des Ausnahmezustands 1960 mit selbstgekochtem Essen versorgte. Sie schickte sogar einen Kranz, als Elias Moretsele, der ExANC- Präsident, an einem Herzanfall starb. Selbst Kennedy, ursprünglich gefürchtet als ,Henker- Richter "wurde im Lauf des Gerichtsverfahrens unerwartet vernünftig, bis hin zu einem Punkt, wo wir tatsächlich anfingen, ihn zu mögen." Wenn er nicht im Gerichtssaal sein musste, war es Mandela während seiner Gefangenschaft unter den Notstandsgesetzen erlaubt, über das Wochenende sein Büro aufzusuchen und er wurde dabei eskortiert von einem verständnisvollen Sergeant Kruger, mit dem er die stillschweigende "Gentleman-Vereinbarung" getroffen hatte, ohne Fluchtversuch im Wagen zu bleiben, während Kruger einen Imbiss kaufte, um ihn mit Mandela auf der Fahrt zu teilen.
Vorkommnisse wie diese betonen die Komplexität und Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen in Südafrika während der 1950er Jahre. Obwohl Mandela ebenso wie seine Kampfgefährten in dieser Zeit die Regierung gewöhnlich als faschistisch bezeichnete, erwartete er doch in seinem täglichen Umgang mit den Amtsträgern oder zumindestens forderte er ein Benehmen, das sich an die Gepflogenheiten guter Umgangsformen und gegenseitigen Respekts hielt, die er von Kindheit an verinnerlicht hatte.
Diese Ambivalenz der Widerspruch von rhetorischem Diskurs, der Terminologie hoher Politik auf der einen Seite, die den Staat als monolithische Tyrannei charakterisierte, und der eher liberalen oder umgänglichen Würdigung menschlicher Güte, wo immer man sie fand, auf der anderen Seite, spiegelt sich in dem fließenden Charakter, sogar der Unentschlossenheit des strategischen Denkens Mandelas (und anderer Führer des ANC) zu dieser Zeit.
Was waren denn nun die Ideen, die den politischen Aktionen dieser Zeit zugrunde lagen? Die Ziele des ANC wurden 1955 auf dem Kongress des Volkes erklärt, der die Freiheitscharta verabschiedete. Die Charta enthielt eine Liste von grundsätzlichen Rechten und Freiheiten. Sie begann mit dem erneuten Bekenntnis zum multirassischen Charakter der südafrikanischen Gesellschaft ("Südafrika gehört allen, die darin leben, Schwarzen und Weißen") und fuhr fort mit dem Versprechen auf gleichen Status aller "nationalen Gruppen". Sie befürwortete den Transfer der Eigentumsrechte an Minen und Monopolgesellschaften der Industrie an die Bevölkerung (the people as a whole), verhieß, gleiche Chancen für alle zu garantieren, die Handel treiben und Waren herstellen wollen, sprach sich für eine Neuverteilung von Land aus ""unter denen, die es bearbeiten", wollte die Einschränkungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsorganisationen beenden und umfassende Wohlfahrtsmaßnahmen vorschlagen.
Im Juni 1956 schrieb Mandela einen Kommentar zur Charta für die links gerichtete Zeitung "Liberation". Darin merkte er an, dass die Charta keinesfalls "eine Blaupause für einen sozialistischen Staat" sei. Sie schlage die Übergabe der Macht an das Volk vor, nicht an eine bestimmte Klasse, sondern an alle Bürger in diesem Land, seien sie Arbeiter, Bauern, Freiberufler oder Angehörige der Petty Bourgeoisie. Gewiss, würde diese Charta inkraftgesetzt, wäre das ein tödlicher Schlag gegen die Finanz- und Goldminen-Konzerne und die Interessen der Großfarmer, die dieses Land jahrhundertelang ausgeplündert haben."
Das Zerschlagen der Machtkonzentration und die "Demokratisierung" solcher Unternehmen, so fuhr er fort, würde neue Räume eröffnen für die Herausbildung einer nicht-europäischen bürgerlichen Klasse, die zum ersten Mal in eigenem Namen produktives Eigentum besitzen würde. Als Konsequenz würde "privates Unternehmertum" aufblühen wie nie zuvor.
Seine Erwartungen bezüglich der Chancen, die die Charta dem nicht-europäischen Geschäftsmann eröffnen würden, spiegelten wohl eine eher wohlwollendere Sicht vom privaten Unternehmertum als die, die seine Bundesgenossen in der Kommunistischen Partei geäußert haben würden.
In seinem Prozess 1963 betonte Mandela seinen "Respekt vor den britischen Institutionen", einschließlich des britischen Parlaments, "der demokratischsten Institution der Welt"; und vor der Unparteilichkeit der britischen Gerichtsbarkeit eine Meinung, von der er zugab, dass die kommunistische Partei sie als reaktionär ansehen würde. Natürlich mögen solche Versicherungen beeinflusst gewesen sein vom Kontext, in dem sie geäußert wurden, aber es ist unwahrscheinlich, dass Mandela seine politischen Überzeugungen falsch dargestellt haben würde in einem Prozess, in dem er wenig Rücksicht darauf nahm, was ihm Vorteile hätte bringen können.
Anerkennung britischer Institutionen bedeutete nicht das über Bord Werfen des afrikanischen Erbes: Wie Mandela in der gleichen Erklärung vor Gericht anmerkte, hat er die "Bewunderung für Struktur und Organisation der frühen afrikanischen Gesellschaft", in der alles Land "dem Stamm gehörte" und "in der es keine Ausbeutung gab", beibehalten.
Die Art der Führung, die Mandela selbst im ANC ausübte, als "Vorsitzender, der wartete, bis alle Meinungen gehört worden waren, bevor er über seine eigene Position entschied", mag sich bewusst orientiert haben an dem Modell einer Autorität, die auf Konsens beruhte, die, wie Mandela glaubte, das Charakteristikum königlicher Herrschaft im prekolonialen Afrika gewesen war.
Für Mandela und viele seine Kampfgefährten blieb der Kurs, den ihr Marsch in Richtung Freiheit einschlagen würde, für den Rest des Jahrzehnts und darüber hinaus ungewiss. Er blieb beeinflusst von im Wettstreit liegenden politischen Ideen. Auf der einen Seite fand Mandela den moralischen Absolutismus des "professionellen Revolutionärs" zwingend und überzeugend: Durch die fünfziger Jahre hindurch hatte er zuhause Bilder von Lenin und Stalin über seinem Schreibtisch an der Wand. Und 1953 beschrieb er in einer wichtigen Rede einen manichäischen Kampf zwischen der "Macht der afrikanischen Arbeiterschaft" und einem "offen faschistischen Staat". Da schien wenig Raum zu bleiben für Kompromisse.
Oft jedoch schien Mandelas politische Führung des ANC-Kampfes auf der Voraussetzung zu beruhen, dass eine signifikante Zahl weißer Südafrikaner zur Demokratie überredet werden könnte. Es stimmt, dass Mandela 1953 zumindest ansatzweise die Aussichten eines gewaltsamen Aufstandes in Erwägung zu ziehen begann; und zwei Jahre später auf einer Fahrt im Kap entlang der Gartenroute wurde der spielerische Gedanke wach an die "Chancen dort für Guerilla-Schlupfwinkel". Die Entscheidung der ANC- Führer für gewaltfreie Formen zivilen Ungehorsams hatte tatsächlich eher Versuchscharakter als dass sie auf strategischer Überzeugung beruhte.
"Unterstellen wir einmal", fragte der Staatsanwalt Hoexter Mandela während des Kreuzverhörs, "dass die herrschende Klasse aufgrund von Druck im nächsten Monat einem qualifizierten Wahlrecht für Afrikaner zustimmen würde... und dass im nächsten Jahr aufgrund weiteren Drucks eine noch wichtigere Konzession gemacht würde, und eine weitere im Jahr 1962 und so weiter... glauben Sie, dass so die Demokratie für das Volk erreicht werden könnte?"
Mandela antwortete: "Nun, ich gehe die Frage so an: Wir fordern universelles Wahlrecht für Erwachsene und wir sind bereit, ökonomischen Druck auszuüben, um unsere Ziele zu erreichen; wir werden Ungehorsamskampagnen in Gang setzen, Streiks, als einzelne Aktionen oder parallel verlaufend, bis die Regierung sagt: 'Meine Herren, mit diesem Zustand können wir nicht leben, wenn Gesetze nicht geachtet werden, und mit dieser ganzen Situation, die durch das Zuhausebleiben der Arbeiter heraufbeschworen wird. Lassen Sie uns miteinander reden. Was mich betrifft ich würde sagen: ja, reden wir!' Und die Regierung würde sagen: 'Wir glauben, dass die Europäer zur Zeit nicht bereit sind für eine Regierung, unter der es zur Vorherrschaft der Nicht-Europäer kommen könnte. Wir denken, wir sollten Ihnen 60 Sitze geben, damit die afrikanische Bevölkerung 60 Afrikaner als ihre Repräsentanten ins Parlament wählen kann. Wir werden die Sache für fünf Jahre so lassen und am Ende der fünf Jahre werden wir sie Überprüfen. Meiner Meinung nach wäre das ein Sieg, Euer Ehren. Damit würden wir einen bedeutsamen Schritt tun auf dem Weg zum universellen Wahlrecht für Afrikaner und für die Dauer dieser fünf Jahre würden wir dann sagen wir mal: den zivilen Ungehorsam suspendieren; wir würden nicht zu Streiks aufrufen und würden diese Zeitspanne der Erziehung des Landes widmen, der Erziehung der Europäer... ich würde sagen, wir sollten das akzeptieren, aber ich würde natürlich nicht die Forderung nach Ausweitung des Wahlrechts aufgeben..."
Solche Aussagen mögen auf taktischen Erwägungen juristischer Erfordernisse beruht haben, aber der entspannte Ton des Wortwechsels und die Schlagfertigkeit von Mandelas Antwort auf die Frage des Staatsanwalts sind auffallend. Das legt nahe, dass die von Anwalt Hoexter vorgeschlagene Situation eine Möglichkeit darstellte, die Mandela schon ernsthaft erwogen hatte.
Mandelas Zeugenaussage macht auch klar, wie entspannt er sich im Gerichtssaal fühlte mit dessen achtungsvollen Umgangsformen und dem von Logik beherrschten Dialog; der Gerichtssaal war einer der wenigen Orte, an dem schwarze Südafrikaner ihre Rechte und ihren Status als Bürger einfordern konnten, "der einzige Platz in Südafrika, wo ein Afrikaner möglicherweise eine faire Anhörung bekommen und wo die Rechtstaatlichkeit noch Anwendung finden würde", wie er glaubte.
Mandelas Einstellung dem Recht gegenüber war nicht nur instrumentalisierend, sondern moralisch komplex. Für ihn waren Prozesse und Gerichtssäle nicht lediglich Plattformen politischer Zweckdienlichkeit und seine darin gemachten Zeugenaussagen sollten nicht leichthin außer acht gelassen werden. Die Prozesse, die durch Ordnungsvorgaben reguliert wurden, waren eine Ausweitung der Lektionen, die er von Kindheit an gelernt hatte; Lektionen, die geholfen hatten, einen Kodex der Höflichkeit und Ehrenhaftigkeit zu konstituieren, der seine Politik beherrschte, noch lange, nachdem seine juristische Laufbahn beendet war.
Bei seiner Amtseinführung 1994 als südafrikanischer Präsident war Mandela der einzige Überlebende in einem öffentlichen Amt aus der Generation der afrikanischen Staatsmänner, die den Kontinent in die Freiheit geführt hatten. Während seiner Präsidentschaft fuhr er fort, den Verhaltenskodex aufrechtzuerhalten, den er so viele Jahre zuvor verinnerlicht hatte in den Gerichtssälen von Johannesburg und, sogar noch früher, am Gerichtsplatz von Jongintabas Palast.
aus: der überblick 03/2007, Seite 132
AUTOR(EN):
Tom Lodge
Tom Lodge ist Professor an der Universität in Limerick, Irland.
Bis 2005 war er Professor für Politikwissenschaft an
der "University of the Witwatersrand", Südafrika.
2006 ist sein Buch, "Mandela: A Critical Life", bei der Oxford
University Press erschienen.