Marokko macht Fortschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
Einen erheblichen Schub für Gleichberechtigung, Menschenrechte und Meinungsfreiheit hat es in jüngster Zeit in Marokko gegeben. Mutige Intellektuelle und Vertreter nichtstaatlicher Organisationen haben dies erkämpft. Viele der neuen Rechte aber sind noch nicht auf Dauer gesichert, sondern hängen vom Wohlwollen des Königs ab.
von Natalie Gillet
Die Spielregeln haben sich für Frauen schon jetzt radikal verändert. Und eine weitere Reihe von Rechten für Frauen hat König Mohammed VI von Marokko in seiner Thronrede vom August 2005 versprochen: Sie werden zum Beispiel künftig ihre Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben können. Kinder mit ausländischen Vätern dürfen dann öffentliche Schule besuchen. Später haben sie damit auch Zugang zu anderen staatlichen Stellen oder gar zur Sozialhilfe. Dieses neue Recht muss zwar noch in Gesetzesform gegossen werden. Doch bereits seit anderthalb Jahren haben sich die Eckpfeiler in der marokkanischen Gesellschaft drastisch verändert, und zwar auf eine Weise, die mit dem Wandel in anderen arabischen Ländern (mit Ausnahme von Tunesien) kaum zu vergleichen ist. Am 9. Februar 2004 ist die Mudawana, das Personenstandsgesetz, in Kraft getreten. Entscheidend war eine Thronrede vom November 2003 gewesen. Dafür hatten Frauenbewegungen und Menschenrechtsorganisationen jahrelang gekämpft und Druck ausgeübt. »Allein der Geist des Textes stellt eine revolutionäre Errungenschaft dar, indem er die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ausdrücklich formuliert«, freut sich Menschenrechtsaktivistin und Juristin Leila Rhiwi.
Revolutionär ist der Text auch deswegen, weil die Ordnung der Familienverhältnisse bisher ausschließlich von religiösen Institutionen geregelt wurde und das neue Gesetz einen Schritt in Richtung Säkularisierung bedeutet. Als geistliches Oberhaupt der Gläubigen hätte der König die Mudawana einfach proklamieren können. Statt dessen hat er sie dem Parlament, einer säkularen Institution, vorgelegt. Dort wurde sie heftig diskutiert und nach 53 Abänderungen einstimmig angenommen, also auch von den islamistischen Abgeordneten der »Partei Gerechtigkeit und Entwicklung«. Einige Neuerungen entfernen sich sogar von der Scharia: die Anerkennung der Vaterschaft außerhalb ehelicher Bindungen, die Adoption und die gemeinsame Verwaltung der erwirtschafteten Güter von Frau und Mann.
Die Zeiten, in denen ein Mann Frau und Kinder über Nacht aus dem Haus jagen konnte, sind vorbei. Es ist nicht mehr möglich, sie einfach zu verstoßen. Dafür braucht der Ehemann jetzt die Zustimmung eines Gerichts. Ferner muss er für den Unterhalt der Familie sorgen. Auch die Pflicht der Frau zur Gehorsamkeit »im Tausch« gegen männlichen Schutz wurde abgeschafft, das Mindestheiratsalter von 15 auf 18 Jahre heraufgesetzt, und Frauen müssen jetzt keinen männlichen Vormund mehr beibringen, um eine Ehe schließen zu können.
Die Reform stärkt zudem die Macht der Justiz, führt Familiengerichte ein und beschränkt die Zuständigkeiten der Aduls, der religiösen Notare. Besonders zufrieden ist die Frauenrechtlerin Bouchra Abdou von der »Demokratischen Liga für Frauenrechte« (LDDF) in Casablanca damit, dass jetzt eine staatlich anerkannte Heiratsurkunde obligatorisch ist. »Viele Frauen wurden früher von Islamisten missbraucht, die eine ausschließlich religiöse Heirat verlangten. Der Tradition nach genügt in solchen Fällen ein kurzes Gebet im engeren Kreis. Wenn aber die Frau von ihrem Mann verstoßen wird, kann sie ihre Ehe nicht beweisen und hat keinen Anspruch auf irgendwelche Abfindungen. Wenn sie dazu noch ein Kind hat, gilt sie plötzlich als ledige Mutter.« Das ist das allerschlimmste, was einer Frau in Marokko passieren kann, da unehelicher Geschlechtsverkehr mit Prostitution gleichgestellt und streng bestraft wird.
Gut eineinhalb Jahre nach diesen Neuerungen lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Was hat sich für Frauen tatsächlich geändert? Wie lassen sich die zahlreichen Errungenschaften in der Praxis umsetzen? Einige Dinge haben sich verbessert, bewertet es Leila Rhiwi, insbesondere die für Frauen verkürzte Scheidungsfrist und das Scheidungsverfahren, das für Frauen sehr viel einfacher geworden ist. Während früher ein Mann seine Frau durch einen Spruch verstoßen konnte, mussten Frauen tausend Gründe vorbringen, um eine Scheidung zu rechtfertigen, etwa eindeutige Beweise für Misshandlungen. Meistens mussten sie sogar auf ihre Rechte wie das Sorgerecht für die Kinder, ihr Recht auf Unterhalt und dergleichen verzichten, um sich von ihrem Mann trennen zu können. Das Scheidungsverfahren konnte sich bis zu 15 Jahren hinziehen, ohne dass ihre Rechte am Ende gesichert waren. So lief zumeist das so genannte Khul-Verfahren, das weiterhin bestehen bleibt.
Parallel hat man nun das Schiqaq-Verfahren eingeführt, das offiziell nur sechs Monate dauern soll und als Grund allein den Wunsch der Partner voraussetzt, sich zu trennen. In der Praxis wird die neue Frist durchaus eingehalten, stellen Beobachter fest. »Heute würde kein Mensch mehr mit einer Verfahrensdauer von länger als zwei Jahren rechnen«, sagt Menschenrechtlerin Rhiwi. Dennoch haben die Rechtsanwälte und Juristen nach wie vor reichlich Zulauf. Denn es gibt noch Frauen, die den steinigeren Weg gehen. Die auf dem Papier festgeschriebenen Fortschritte stoßen in der marokkanischen Wirklichkeit auf unbarmherzigen Widerstand und an erster Stelle auf Ignoranz. Bis zu 70 Prozent der Marokkanerinnen sind Analphabeten. »Die Lage ist so, dass die meisten von ihnen ihre neuen Rechte gar nicht kennen und die ungünstige Khul-Scheidung wählen«, meint Bouchra Abdou von der Frauenliga und erläutert: »Die Familienrichter machen es ihnen auch nicht immer einfach; einige weigern sich, das Schiqaq-Verfahren einzuleiten.«
Der Text selbst erlaubt viele Ausnahmen, und die Spanne für die Auslegung durch die Richter ist breit. Frauen brauchen beispielsweise keinen Vormund mehr, um eine Ehe schließen zu können, aber sie dürfen einen solchen »wünschen«. Laut der offiziellen Statistik haben nur 25 Prozent darauf »verzichtet«. Und die Trauung von minderjährigen Mädchen darf ein Richter nach wie vor genehmigen, wenn er die Braut für reif genug hält. Besonders in ländlichen Gebieten genehmigen die Gerichte viele derartiger Trauungen ab einem Alter der Mädchen von elf Jahren. Auch die Polygamie ist noch nicht abgeschafft, allerdings jetzt auf genau festgelegte Fälle beschränkt. »Der Sinn der ganzen Reform wird ausgehöhlt«, protestiert Bouchra Abdou von der Frauenliga LDDF, die im März eigene Statistiken veröffentlicht hat. Mentalitäten ließen sich selbst in juristischen Kreisen nicht so einfach ändern. Casablanca möge mit der bekannten Präsidentin seines Familiengerichts, Zhor el Horr, einer der Verfasserinnen der Mudawana, noch so vorbildhaft dastehen, die kleineren Städte oder die ländlichen Gebiete hätten es mit weniger gutwilligem Personal zu tun. Einige Richter handeln eindeutig gegen den Willen der Frau, in dem sie einen Vormund verlangen oder die Anwesenheit des Vaters. »Ich pfeife auf die Mudawana, habe ich von einem schon mal gehört«, berichtet Aischa Esch Schanna, Leiterin von Solidarité féminine, einem Verein für alleinstehende Mütter in Casablanca. Aber Zhor el Horr beruhigt: »Viele Richter bekommen jetzt eine Ausbildung und werden für den Sinn der Reform sensibilisiert.« Alles brauche seine Zeit.
Inzwischen verfestigen sich aber einige Missverständnisse. Frauen scheuen sich etwa, auf ihre Rechte zu pochen, weil sie glauben, sie verletzten damit die Prinzipien ihrer Religion. Bouchra Abdou von der Frauenliga: »Wenn wir aber kommen und erklären, dass selbst der Prophet Mohammed seinem Schwiegersohn Ali eine zweite Frau verweigert hat, weil er nicht wollte, dass er seine Tochter Fatima dadurch kränkt, oder wenn wir Koranverse benutzen, dann hören Frauen zu und akzeptieren ihre Rechte als legitim.«
Männer hingegen fürchten um ihr Vermögen, das sie durch eine eventuelle Scheidung verlieren könnten. »Wir sind doch alle Muslime, warum vertrauen wir diese Dinge wie Heirat oder Rechtsstellung des Mannes nicht weiterhin unserer Religion an, die es seit 1400 Jahre gut im Griff hatte? Warum wollen wir das alles komplizierter machen?« Solche Fragen stellen junge Männer wie Sascha. Er ist 27 Jahre und Bankberater aus der Stadt MeknPs, rund 200 Kilometer von der Hauptstadt Rabat entfernt.
Aufklärung seitens des Staates könnte die Missverständnisse sicher schneller ausräumen. Bislang aber gab es keine nennenswerte landesweite Kampagne, die die Bürgerinnen und Bürger informiert hat. Unmittelbar nachdem die Reform verabschiedet worden war, haben nur wenige Fernsehsendungen darüber berichtet und wenn, dann auf Hocharabisch, was die meisten Marokkaner nicht verstehen. Die Zeitungen haben zwar viel darüber geschrieben, erreichen aber wegen der hohen Analphabetenrate nur ein begrenztes Publikum. In den Gerichten gibt es keine Informationsstellen, und die Justiz ist so überlastet, dass die Richter kaum Zeit haben, Frauen aufzuklären. Oft fehlt am entscheidenden Tag eine wichtige Akte und die Sitzung muss vertagt werden. Hinzu kommt das unbeschreibliche Ausmaß der Korruption, die den gewöhnlichen Bürger misstrauisch gegenüber staatlichen Institutionen macht oft zu Recht. Eines steht aber immerhin fest: Trotz aller Schwierigkeiten können sich Frauen von nun an auf einen Text berufen, der ihre Rechte ausdrücklich festlegt. Das bedeutet einen großen Schritt nach vorn. »Jetzt brauchen wir keine Reform mehr im Gegensatz zu Algerien,« sagt Menschenrechtlerin Leila Rhiwi. »Das einzige, was wir noch verlangen, sind Nachbesserungen und lokale Änderungen in Richtung auf mehr Gleichberechtigung.«
Daran arbeiten nichtstaatliche Organisationen (NGOs) weiter. Diese führen um Wissenslücken zu füllen dort eigene Kampagnen durch, wo der Staat seiner Aufgabe nur unzureichend nachkommt. Die Frauenliga fährt mit Ärzten und Juristen durch ländliche Gebiete, beraten kostenlos, um die neuen Rechte bekannt zu machen. Sie verteilen Kassetten in der Berbersprache und in lokalen Dialekten. Der »Demokratische Verein für marokkanische Frauen« (ADFM) hat im Frühling eigene Werbespots produziert. Sogar Mikrokreditorganisationen wie Zakoura, deren Kundschaft zu 90 Prozent aus Frauen besteht, berichten über und fördern die neue Reform.
Die marokkanische Zivilgesellschaft hat in der Tat eine stabile Tradition und damit eine Dynamik, die es in Nachbarländern nicht gibt. Die Zahl der Vereine wird heute auf rund 40.000 geschätzt. Alle Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung, Menschenrechte und Meinungsfreiheit sind ihnen und dem Mut vieler Intellektueller zu verdanken. Die Zivilgesellschaft hat in den vergangenen Jahren das Königshaus dazu gezwungen, erste Versuche zuzulassen, sich öffentlich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und sie auf diese Weise zu bewältigen. In den vergangenen sechs Jahren wurden viele Tabus gebrochen, die ihr gesteckten Grenzen von der Presse überschritten und Debatten zum Islam, zur Stellung des Königs und zur Besetzung der Westsahara geführt. Seit Dezember 2004 organisierte eine »Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung« öffentliche Anhörungen von Opfern der Menschenrechtsverletzungen, die in der Zeit der »bleiernen Jahre« vor 1998 in Marokko begangen wurden. Von Europa aus gesehen, wirken diese Schritte im arabischen Zusammenhang beeindruckend, jedenfalls sehr positiv. Doch genau das irritiert den Menschenrechtsaktivisten und Verleger der Tarik Éditions, Bichr Bennani: »Warum müsst ihr westlichen Beobachter uns immer mit Algerien oder dem brutalen tunesischen Regime vergleichen? Ich will mich doch mit Dänemark vergleichen oder mit Schweden, nicht mit den kranken Ländern.«
Seinen Ärger teilen viele andere Menschenrechtsverteidiger, denn ihre Arbeit ist noch lange nicht erfolgreich beendet. Die Aktion der »Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung« werde beispielsweise in Frage gestellt, weil die Namen der Folterer nicht genannt werden dürften. Der Verleger ist der Meinung, nicht die Kommission habe die Dinge öffentlich gemacht, sondern die Arbeit der Zivilgesellschaft seit den siebziger Jahren habe diese Dinge ans Licht gebracht. Die Kommission sei im Gegenteil ein Versuch, die Wahrheit zu unterdrücken, indem man behauptet, seit 1999 gebe es keine Folterungen mehr. Die regierungskritische Zeitschrift TelQuel etwa werde regelmäßig in ihre Schranken gewiesen, die Wochenzeitung Le Journal unterliege de facto einem Werbeboykott.
Die Repression besteht also weiter, wird aber nicht mehr mit Gewalt ausgeübt, sondern sehr viel subtiler. Der ehemals linksradikale Regimegegner Abdallah Zaazaa, der 15 Jahre lang im Gefängnis saß und heute ein weites Netz von Vereinen in Casablanca leitet, ist ähnlicher Ansicht. Seiner Einschätzung nach hat »Marokko einen sehr großen Schritt nach vorne gemacht, doch dies ist nicht unumkehrbar, weil die Fortschritte nicht institutionalisiert werden. Das System hat sich keineswegs geändert, und die Parteien sind machtlos. Die ganze Macht ist weiterhin beim Monarchen konzentriert. Wir brauchen eine Republik«. Das Versagen der Institutionen ist auch ein Grund, warum junge Menschen den Marsch durch die Vereinsbewegung wählen und nicht durch die Parteien, die sie als geschlossene Systeme und veraltet wahrnehmen.
Wichtige Errungenschaften wie die Mudawana hat sich eine aktive Zivilgesellschaft durch Druck und Mut erkämpft, aber diese Fortschritte hängen weiterhin vom guten Willen des Königs ab. Hat nicht Mohammed VI den entscheidenden Schub für ein Personenstandsgesetz gegeben, während die »Bärtigen« in den Jahren davor heftig dagegen demonstriert hatten? Einen besseren Zeitpunkt hätte er nicht wählen können, da die Gesellschaft nach dem Bombenattentat in Casablanca am 16. Mai 2003 noch unter Schock stand und die Islamisten stillhalten mussten. »Alles hängt vom König ab, nicht von unseren Institutionen,« bedauert auch der Verleger Bichr Bennani. »Das ist die Weihung der absoluten Macht, nicht die Demokratie«, fügt er hinzu. Heute ist die Sprache freier, und selbst Bennani gibt zu, dass er seine Bücher darunter Dokumente mit Zeugenaussagen von gefolterten Häftlingen seit 1999, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, veröffentlicht hat. Sobald sich hingegen Kritik an den gegenwärtigen Zuständen erhebt, wird die Sache heikler. Marokko ist auf dem richtigen Weg, einen demokratischen Kurs einzuleiten. So mancher jedoch befürchtet, das Land werde in diesem Zwischenstadium verharren. Einige Beobachter schließen sogar Rückfälle noch nicht völlig aus.
aus: der überblick 04/2005, Seite 39
AUTOR(EN):
Nathalie Gillet
Nathalie Gillet war von 2000 bis Mai 2005 leitende Redakteurin der französischen Zeitschrift »Marchés tropicaux et méditerranéens« und arbeitet jetzt als freie Autorin in Paris mit dem Schwerpunkt Nordafrika und Horn von Afrika.