Die kleine Wolke und die Verfinsterung des Himmels
"Und als Ahab hinaufzog, um zu essen und zu trinken, ging Elia auf den Gipfel des Karmel und bückte sich zur Erde und hielt sein Haupt zwischen seine Knie und sprach zu seinem Diener: Geh hinauf und schaue zum Meer! Er ging hinauf und schaute und sprach: Es ist nichts da. Elia sprach: Gehe wieder hin. Und der Diener ging wieder hin, sieben Mal. Und beim siebten Mal sprach er: Siehe, es steigt eine kleine Wolke auf aus dem Meer wie eines Mannes Hand. Elia sprach: Gehe hin und sage Ahab: Spann an und fahre hinab, damit dich der Regen nicht aufhält! Und ehe man sich’s versah, wurde der Himmel schwarz von Wolken und Wind, und es kam ein großer Regen." (1. Könige 18, 42-45)
von Rainward Bastian
Das Geschehen erscheint fast trivial. Eine handgroße, also wirklich winzige Wolke ist über dem Meer zu sehen; später verfinstert sich der Himmel, es stürmt und regnet. Und doch geht es um Leben und Tod. Soeben hat Elia den Tod von 450 anderen, konkurrierenden Propheten bewirkt, deren Prophezeiungen nicht eingetroffen waren. Nun will er selbst seinen Gott um Regen bitten, den Gott, der auch Elias erstes Wunder – Feuer vom Himmel – geschehen ließ. Die furchtbare Hungersnot in Israel muss ein Ende haben. Sieben Mal schickt Elia seinen Diener hoch auf die äußerste Spitze des Karmel, um Ausschau nach der Regenwolke zu halten, ehe die kleine unscheinbare Wolke das erlösende Unwetter ankündigt.
Bei der Versammlung des Weltkirchenrates im Jahre 1987, als die Kirchen erstmals versuchten, die Krankheit Aids und die Ausbreitung des HI-Virus wirklich in den Blick zu nehmen, benutzte der Erzbischof von York diese Geschichte von der kleinen Wolke, die bald den ganzen Himmel verfinsterte. Niemand der erschrockenen Zuhörenden konnte sich damals wirklich vorstellen, welch ungeheures Geschehen bevorstand. Alle einigte die Hoffnung, dass das Unheil vorbeiziehen, dieser Erzbischof eine falsche Vision haben möge.
Eine knisternde innere Spannung erlebe ich heute noch bei der Erinnerung an die Darstellung des Erzbischofs. Berichte aus dem Kongo und den USA ergänzten die Schilderung, in einigen der betroffenen Kirchen wurde die ungeheure Gefahr klar verstanden. Allerdings war die Wolke vor zweieinhalbtausend Jahren das Symbol für die Wende zum Guten; 1987 sollte sie unvorstellbares Unheil ankündigen.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation in Israel zu Elias Zeit: Die Königin hatte alles daran gesetzt, das Gute in Israel auszulöschen. Gottes Stimme sollte mundtot gemacht werden. Alle Propheten Gottes wurden gejagt – bis in den letzten Winkel – und getötet. Die Suche nach Elia wurde sogar auf die Nachbarländer ausgedehnt, die sich staatsvertraglich verpflichten mussten, ihm kein Asyl zu bieten.
Mutig durchbricht Elia auf Gottes Geheiß diesen Bann. Er tritt offen der Königin entgegen und erzwingt das Gottesurteil: sollen die Priester des Baal ihren Gott anrufen. Er aber wird seinen Gott anrufen, damit Feuer vom Himmel fällt. Das Wunder geschieht. Gottes Recht wird wieder hergestellt, und nun, in der Gestalt der kleinen Wolke, zieht neues Leben auf. Der Regen beendet die Hungersnot, die alles zu vernichten drohte.
Schon 1987 habe ich mich gefragt, warum Erzbischof Habgood ausgerechnet dieses Bild wählte. Wie konnte er die Wolke, die das Bild des neuen Lebens ist, mit der Wolke vertauschen, die die drohende Vernichtung anzeigt? Hatte er sich genau genug überlegt, wie die Güte Gottes, die Chance des Neubeginns für Israel in Deckung zu bringen ist mit dem 1987 bevorstehenden Unheil einer Krankheit, die scheinbar aus dem Nichts kam und alle medizinische Vorstellungskraft sprengte?
Inzwischen sind dreizehn Jahre vergangen. Unzählbare Kranke, ihre Angehörigen und Freunde, die Familien und ihre Umgebung haben erlebt, was diese Krankheit bedeutet. Die Schilderungen in dieser Ausgabe des "überblick" sind trotz ihrer schonungslosen Offenheit nur ein schwaches Abbild davon, wie die Wirklichkeit sich für die betroffenen Personen geändert hat – ein kleiner Ausschnitt aus den Jahrzehnten des unvorstellbaren Schmerzes und der Verluste auf dem Kontinent.
Eine besondere Sorge bewegte die Kirche schon vor dreizehn Jahren – und auch dies hatte der Erzbischof im Blick: Wird nicht gerade die Kirche Hindernis und Ärgernis sein? Bei all ihrem wohlgemeinten Bemühen? Wird sie nicht dennoch viele Verzweifelte allein lassen, enttäuschen, ja durch Diskriminierung ihre Not verstärken? Wird sie nicht gerade Schwierigkeiten haben mit den Tabuthemen, die angesprochen werden müssen? Muss nicht gerade sie erneuert werden, damit von ihr die Kraft zur Hilfe, zum Aushalten und Überwinden ausgeht, damit Erneuerung auch die Gesellschaft erreicht? Wenn sich doch nur die Wolke des Unheils in die Wolke des Lebens verwandeln würde!
Für Elia war der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben, im Leben seines Volkes, keineswegs im voraus erkennbar. Obwohl er ein Wunder nach dem anderen erlebt und ausgelöst hat, sagt die Bibel hundert Jahre später über ihn: "Elia war ein schwacher Mensch wie wir!" Elia klagt Gott selbst schonungslos an, etwa als in dem Haus, in dem er wohnt, ein junger Mann stirbt, und er sagt: "Mein Gott, willst du denn auch über die Witwe . . . Unheil bringen und ihren Sohn sterben lassen." Und schließlich, nach all dem Eingreifen Gottes, trotz all dem Eingreifen Gottes wünscht sich Elia den Tod. Er bittet Gott: "Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter."
Hier, genau an diesem Tiefpunkt, beginnt für mich nun wirklich die Parallele zu der Geschichte von damals und dem Erleben in unserer Zeit. In den Berichten dieses Heftes müssen wir sehr sorgfältig, wohl auch sieben Mal wie der Diener, hinschauen, um das Leben der einzelnen Menschen zu begreifen: Femi in Nigeria, Onkel Olikoye Ransome-Kuti, sind sie nicht Männer, die sich in unglaublicher Weise gegen die Macht der Vernichtung anstemmen? Sie brechen ein wichtiges Familientabu und legen offen, wie ihr Vater und Bruder tausende ins Verderben geführt hat. Das Ehepaar Ndlovu in Zimbabwe, sind sie nicht ganz direkt ein Abbild des Elia? Elia nahm den dem Tod geweihten Mann in seinen Schoß.
Ganz ähnlich verhält sich Frau Ndlovu. Mit ihrer blanken Hand behandelt sie die offene Seite der Kranken. Elia wurde vom Engel des Herrn angerührt: "Steh auf und iss, sonst ist der Weg zu weit für dich." Herr Ndlovu scheut keine Mühe, um Kranke zu besuchen, die Tabuthemen Sexualität, Tod und Aids öffentlich anzusprechen. Mitten in der Nacht bricht er auf, um Kranke zu besuchen. Erst nach Stunden zu Fuß erreicht er die weit entfernte Bushaltestelle am Morgen. Und dann spottet er nach stundenlangem, vergeblichem Warten auf den Bus noch über sich selbst: "Es ist besser, der Bus kommt zu spät, als wenn du zu spät bist."
Und schließlich die Uganderin Noerine Kaleeba. Sie selber hat entscheidenden Anteil, dass das grenzenlose Unheil in ihrem Land nun langsam erster aufkeimender Hoffnung weichen darf. Unermüdlich beschwört sie "die Wolke des Lebens" herauf. Die vielen freiwilligen Initiativen der Hilfe in ihrem Land nennt sie "einzeln verstreute Blumen" und gebraucht dann das Bild, dass doch endlich der eine Blumengarten entstehen möge.
Und wir in Europa? Bewegt das richtige Sehen und Verstehen unsere Herzen? Erkennen wir, wie Aids auch uns angeht? Uns, in unserer Umgebung? Lassen wir uns von der Wolke des Unheils lähmen? Oder bewegt auch uns die Kraft des Elia, seiner heutigen Gefährtinnen und Gefährten? Sind wir dabei, wenn unter Gottes Güte heute die unscheinbare Wolke des neuen Lebens sichtbar werden will? Wird sie uns, wird sie den ganzen Himmel verändern können?
aus: der überblick 03/2000, Seite 100
AUTOR(EN):
Rainward Bastian:
Dr. Rainward Bastian ist Arzt und Direktor des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission in Tübingen.