"Kosmetik allein genügt nicht" - Interview mit Hans Morton Haugen
Die Vereinten Nationen halten im März 2002 eine Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Mexiko ab. Dort steht die öffentliche Entwicklungshilfe ebenso auf der Tagesordnung wie Privatinvestitionen in armen Ländern und Fragen der Weltfinanzordnung. Ein Ökumenisches Team, das vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und vom Lutherischen Weltbund (LWB) getragen wird, beteiligt sich an den Vorbereitungen zu der Konferenz. Sie solle auch die Ungerechtigkeiten im internationalen Finanz- und Handelssystem zur Sprache bringen, fordert Hans Morton Haugen, ein Mitglied des Ökumenischen Teams und leitender Vertreter der Norwegischen Kirche für internationale Angelegenheiten.
von Jürgen Duenbostel
Herr Haugen, das Ökumenische Vorbereitungsteam für die UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung sagt, auf der Konferenz sollten Fragen der Gerechtigkeit und nicht Details der Finanzierung von Entwicklung Vorrang haben. Was bezweckt das Team damit?
Auf der Themenliste der Konferenz stehen sechs Schwerpunkte: an erster Stelle, heimisches Privatkapital in Ländern des Südens für die Entwicklung zu gewinnen; an zweiter die Mobilisierung von internationalem privaten Kapital; dann kommt der Beitrag des Handels; an vierter Stelle die internationale Zusammenarbeit, insbesondere die staatliche Entwicklungshilfe; danach die Frage der Verschuldung; als sechstes schließlich Systemfragen der internationalen Handels- und Finanzarchitektur. Das ökumenische Team will praktisch nichts anderes, als diese Rangliste umzukehren. Damit will das Team deutlich machen, wie wichtig die System-Aspekte sind, dass vor allem die Ungerechtigkeiten im System angesprochen werden müssen und nur kosmetische Veränderungen an der Oberfläche der Entwicklung nicht helfen werden. Die meisten Regierungsdelegationen des Westens, insbesondere aus den USA und Australien, betonen dagegen, dass die Konferenz nur Fragen der Entwicklungsfinanzierung behandeln soll und sich weder mit irgendwelchen Aspekten einer Systemreform befassen soll noch mit Fragen der Globalisierung.
Damit sagt das ökumenische Team aber eigentlich: Wir wollen eine andere Konferenz.
Ja schon; ich bin sicher einer der Pragmatiker, die versuchen, auf dieses Problem hinzuweisen. Aber ich muss auch sagen, das Niveau der Teilnehmer im ökumenischen Vorbereitungsteam ist sehr hoch, weil viele von ihnen über das ganze Jahr hinweg zu Fragen der Gerechtigkeit gearbeitet haben und den Ansatz der Konferenz um diesen Aspekt erweitern wollen. Damit wollen sie auch die Handlungsmöglichkeiten der offiziellen Delegationen erweitern.
Dann muss das Team aber doch auch ganz konkrete Forderungen stellen und nicht nur allgemein für eine gerechtere Welt eintreten.
Wir haben in unserem Diskussionspapier "getting to the heart of the matter" ("Zum Kern der Dinge kommen")* zu allen sechs Themenbereichen durchaus konkrete Forderungen gestellt, vor allem aber versucht, Alternativen zu der üblichen Rhetorik dazu aufzuzeigen. Ich persönlich möchte daran erinnern, dass wir Mitte der neunziger Jahre auf die gleiche Art von Widerstand gestoßen sind, als es um die Frage des Schuldenerlasses ging. Da hat man auch gesagt, unsere Forderungen seien doch utopisch. Wir müssen weiter in die Zukunft denken und nicht nur an das, was in den letzten Monaten der Konferenzvorbereitung durchsetzbar ist.
Der Prozess ist wichtig - und zwar über die Konferenz hinaus - und nicht Einzelfragen der Entwicklungsfinanzierung. Immerhin ist dieses die erste hochrangige Konferenz, die sich damit befasst, wie die Millennium-Ziele und die Zusagen des Millennium-Gipfels vom September 2000 umgesetzt werden können.
Genau dazu sind doch Angaben über einzelne konkrete Schritte nötig, wie man zu diesen Zielen gelangt. In dem Papier "getting to the heart of the matter" findet man jedoch kaum unmittelbar umsetzbare Forderungen.
Dem muss ich teilweise widersprechen. Das Dokument will nämlich betonen, dass Finanzfragen nicht von der moralischen Ebene getrennt werden sollten. Der Beitrag der Kirchen ist ja gerade der, dies zu unterstreichen und mehr Verantwortlichkeit auf allen Ebenen zu fordern - auf der lokalen, nationalen und internationalen - und zu versuchen, den Raum zum Denken und den Handlungsspielraum auszuweiten. Es gibt ja einen starken Konservatismus, der Schritte nach vorne sehr schwierig macht. Ich will nicht das Dokument als solches verteidigen, weil ich auch nicht so sehr an seiner Formulierung beteiligt war; aber ich meine, die Absicht, zu unterstreichen, dass man an das Thema mit einer breiteren Perspektive herangehen muss, ist recht hilfreich. Ich persönlich bin auch ein Mitglied der offiziellen Delegation Norwegens, und wenn es zu konkreten Interventionen der norwegischen Seite kommt, dann können wir durchaus auf dem aufbauen, was vom ökumenischen Vorbereitungsteam entwickelt worden ist.
Das Team stellt auch den Freihandel infrage, der in der Weltwirtschaft mehr und mehr Fuß fasst.
Zur Liberalisierung sagen wir, dass unter den richtigen Umständen Handel und Investitionen durchaus gute Beiträge zur Entwicklung eines Landes leisten können. Aber wir betonen auch: Handel und Investitionen haben Folgen für die Einkommensverteilung, die nicht ausreichend beachtet werden. Wir weisen darauf hin, dass die grundlegenden UN-Konventionen wie die Menschenrechtskonvention und Umweltvereinbarungen zu einem großen Teil etwa in Freihandelszonen ausgehebelt werden. Deshalb fordern wir, dass die Nebenwirkungen der Liberalisierung von Handel und Investitionen stärker ins Bewusstsein treten. Das fordern wir übrigens auch bei den Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO).
Das Team fordert mehr Mitsprache für die Vertreter des Südens bei den WTO-Verhandlungen und in der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Glauben Sie, dass die reichen Länder sich vorschreiben lassen würden, wie sie ihr Geld ausgeben müssen, wenn die Habenichtse das Sagen in diesen Institutionen hätten?
Im gegenwärtigen Stadium gibt es kein Anzeichen, dass bei der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung oder in anderen Foren substanzielle Reformen von WTO, Weltbank und IWF beschlossen werden. Die Länder, die die Macht haben, glauben nämlich, dass diese Institutionen recht gut arbeiten. Zwar sind WTO, Weltbank und IWF für die Entwicklungsländer heute offener und transparenter als früher, aber es gibt noch große Defizite, besonders in der WTO, wo es viel zu sehr um rein technische Verfahrensregeln geht. Wir wollen dagegen der wachsenden globalen Macht der Wirtschaft mehr politische und institutionelle Macht gegenüberstellen und wollen, dass dafür auch die nötigen neuen Institutionen geschaffen werden. Das wird gewiss noch nicht auf der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung beschlossen, aber vielleicht wird dort ein Prozess in diese Richtung angestoßen, zum Beispiel um eine Weltorganisation für die Harmonisierung von Steuern und Zöllen zu gründen. Das wäre ein Instrument, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Realistisch können wir jetzt keine signifikanten Reformen bei WTO, Weltbank und IWF erwarten, höchstens kosmetische. Aber wenn das Ökumenische Vorbereitungsteam jetzt die Idealziele hervorhebt, kann dies die Diskussion darüber anregen und vielleicht dazu führen, wenigstens pragmatische Ziele zu verfolgen, die in diese Richtung gehen.
Aber richtet das Team seine Forderungen nicht an das falsche Forum? Die bevorstehende Konferenz hat die Finanzierungsfragen zum Thema. Das Ökumenische Team dagegen verlangt eine neue Struktur für das Weltfinanzsystem und den Welthandel. Solche Forderungen müsste man doch eher an die Führer der stärksten Wirtschaftsnationen richten.
Natürlich müsste jede Mitgliedskirche aus dieser gemeinsamen Position abgeleitete spezielle Forderungen an die eigene Regierung stellen. Zum Beispiel hat meine Kirche, die Kirche von Norwegen, niemals ein Dokument des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) wortwörtlich als eigene Position übernommen. Wir haben unsere Position, etwa zum Welthandel, auf Basis der ÖRK-Grundlagen entwickelt, aber diese nicht Wort für Wort übernommen - allein schon deshalb, weil es in Norwegen bereits eine Tradition für mehr Transparenz gibt und mehr Bereitschaft zum Zuhören. In Norwegen gibt es vielleicht - bei denselben langfristigen Idealzielen - auch pragmatischere Auffassungen, wie man zu diesen Zielen gelangen kann. Deshalb sind wir auch nicht mit dem Ökumenischen Team darüber einig, wie radikal man sein soll oder wie weit man in den Institutionen mitarbeiten soll. Wenn es darum geht, die richtigen Foren für die Entwicklungsfinanzierung anzusprechen, dann gehören die WTO, die Weltbank und der IWF aber auch dazu.
Macht das Team die Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung aber nicht gerade dadurch ineffektiv, dass es dort alle möglichen Themen zur Sprache bringt, über die diese Konferenz gar nicht entscheiden kann?
Das könnte eine Gefahr sein, wenn es dadurch zu einer Blockade kommt. Das wäre in der Tat tragisch. Die Position der norwegischen Regierungsdelegation hat sich beispielsweise der US-Position insoweit angenähert, dass wir auf jeden Fall zu einem Konsens kommen wollen. Dieser sollte aber zumindest zugestehen, dass die Rolle von WTO, Weltbank und IWF in einer neuen Perspektive gesehen werden sollte. Dabei kommt es gar nicht so sehr auf den genauen Wortlaut der Beschlüsse an als darauf, dass die Vereinten Nationen wieder etwas von dem Einfluss zurückbekommen, den sie in den vergangenen zwanzig Jahren verloren haben. Der Prozess, der mit der Konferenz angestoßen wird, erscheint uns wichtiger als der Wortlaut der Beschlüsse dieser Konferenz.
Für mich persönlich sind die innovativen Themen der Konferenz - bei denen auch am schwersten Entscheidungen durchzusetzen sind - wichtiger als die möglichen Beschlüsse über einen Schuldenerlass oder darüber, wie hoch der Anteil der staatlichen Entwicklungshilfe am Sozialprodukt sein sollte. Zum Beispiel wird es keine konkreten Beschlüsse über neue Quellen der Entwicklungsfinanzierung wie eine CO2-Steuer oder eine Devisentransfer-Steuer geben, die dem weiterentwickelten Vorschlag von James Tobin folgt. Aber wenn wenigstens ein Zeitplan beschlossen wird, wann man weiterhin über die Einführung solcher Instrumente beraten will, dann wäre das schon ein Fortschritt. Wir wären auch schon weiter, wenn Forschungsarbeiten zu diesen Instrumenten von der Konferenz zur Kenntnis genommen und anerkannt werden und man damit beginnt, solche Empfehlungen zunächst regional umzusetzen.
Hat das Ökumenische Team einen Prioritätenkatalog, was die Konferenz auf jeden Fall beschließen sollte?
Die Prioritäten hängen auch davon ab, wen man in dem Team fragt. Manche Mitglieder aus Ländern des Südens etwa sehen als das Wichtigste an, dass das Ziel, 0,7 Prozent vom Sozialprodukt für die Entwicklungshilfe einzusetzen, endlich umgesetzt wird. Mitglieder aus dem Norden mögen die Einführung einer Devisentransfer-Steuer für wichtiger halten. Was die Institutionen betrifft, so sind wir uns einig, dass eine internationale Steuer-Organisation benötigt wird. Das Team betont aber vor allem, dass es mehr Gerechtigkeit bei den Verhandlungen über Schulden geben muss, etwa durch die Einrichtung einer Schlichtungsstelle. Es gibt also keine formelle Prioritätenliste. Die Prioritäten hängen ja auch von dem jeweiligen Gesprächspartner ab: Wenn man mit der Weltbank spricht, hat etwas anderes Vorrang als bei einem Gespräch mit einer Regierung des Nordens oder des Südens. Das Wichtigste ist, dass das vorhandene Geld angemessener und gerechter eingesetzt wird. Denn zur Zeit ist das nicht der Fall, und das trägt zur Zerrüttung von Gesellschaften, zunehmender transnationaler Kriminalität und ähnlichem bei.
Wird das Team bis zur Konferenz noch eine Art Aktionsplan mit konkreten Schritten entwerfen?
Wir werden bei unseren langfristigen Visionen und Zielen bleiben, aber wir werden in unserer konkreten Lobbyarbeit beispielsweise direkt die US-Position ansprechen, die sehr widersprüchlich und sehr ideologisch ist. So sagen die USA etwa, alle Länder sollten sich auf den Kapitalismus verpflichten. Wir selbst haben in den westlichen Ländern aber sehr starke Staatsinterventionen, die beispielsweise bankrotte Fluggesellschaften retten. Das westliche System ist selbst nicht rein kapitalistisch, sondern basiert auf starken Staatsgarantien und finanziellen Stützen durch den Staat. Das andere ist der Freihandel: Die Länder des Südens sollen sich zum Freihandel verpflichten. Wir selbst halten uns in vielen Bereichen nicht daran, verlangen es jedoch von anderen. Um solche Widersprüche in der US-Position müssten sich vor allem unsere Kirchenpartner in den USA kümmern. Von dem, was sie bislang dazu getan haben, bin ich persönlich nicht sehr beeindruckt.
Das Ökumenische Team will Fairen Handel statt Freihandel. Kann das in großem Maßstab überhaupt funktionieren? Das Internationale Kaffeeabkommen, das Kakaoabkommen und die OPEC haben doch gezeigt, dass es bei guten Erzeugerpreisen zu einem Überangebot kommt und dann die Preise wieder zusammenbrechen.
Wir müssen gewiss mehr koordinierte Anstrengungen machen, um zu gerechten Preisen zu kommen. Und dabei müssen wir unten beginnen und Konsumenten überzeugen, damit sie bereit sind, für gerecht gehandelte Waren auch mehr zu bezahlen. Nur dann können wir zu gerechten Handelsbeziehungen kommen, die auch vom Markt unterstützt werden.
Sie scheinen insgesamt eine andere Position zu haben als die, die in dem Papier des Ökumenischen Teams zum Ausdruck kommt.
Meine Auffassung unterscheidet sich nicht sehr von denen der anderen im Ökumenischen Team. Es mag aber sein, dass ich vorziehe, Schritt für Schritt vorzugehen, und nicht an sofortige radikale Änderungen denke. Die halte ich in der gegenwärtigen Diplomatie und unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen für nur schwer durchsetzbar. Aber in den Zielen, die wir am Ende anstreben, unterscheiden wir uns nicht sehr.
Literaturhinweis
Das Papier "Getting to the heart of the matter" ist im Internet unter dem Link www.un.org/esa/ffd/1001ngo-wcc-talking-points.pdf zu finden.
aus: der überblick 04/2001, Seite 78
AUTOR(EN):
Jürgen Duenbostel :
Jürgen Duenbostel ist Redakteur beim überblick.