Die neuen Farben der alten Schulen
Neue Unterrichtsformen werden in Südafrika erprobt, und zumindest an der ehemals weißen Elite-Schule SACS in Kapstadt ist die Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gelungen.
von Susanne Bittorf
Wer sagt eigentlich, dass Mathematikunterricht immer trocken und theoretisch sein muss, und dass man ihn nur in öden Klassenzimmern abhalten kann? Und warum sollen Kinder abstrakte Rechenaufgaben von der Tafel abschreiben, wenn es im wirklichen Leben so herrlich konkrete Beispiele gibt? In der "Banareng Grundschule" in Atteridgeville, einem Armen-Vorort von Südafrikas Hauptstadt Pretoria, lernen die Kinder das Rechnen im Gemüsegarten: Wie groß muss ein Beet sein, damit man dreißig Kohlköpfe pflanzen kann? Und wie viele Ziegelsteine braucht man, um diese Fläche zu umgrenzen?
Aber nicht nur das Addieren und Multiplizieren fällt leichter, wenn man ein praktisches Ziel vor Augen hat. Auch die Grundzüge der südafrikanischen Politik bringt Paulina Sethole ihren Schülern beim Jäten von Kraut und Rüben bei, im "Nelson Mandela-Garten" zum Beispiel. Den ersten Präsidenten des demokratischen Südafrika symbolisiert ein stattlicher Papaya-Baum, um ihn herum wachsen Kräuter und Gemüse, jedes der neun Beete steht für eine der Provinzen im föderalen Kap-Staat. Und dann gibt es den "Thabo Mbeki-Garten", der die heutige Regierung repräsentiert, der Mango-Baum in der Mitte steht für den jetzigen Präsidenten, um ihn herum liegen die Beete der Ministerien. Sellerie, Petersilie, Majoran, Thymian - für jedes Regierungsmitglied ist ein Kraut gewachsen. Paulina Sethole strahlt über das ganze Gesicht: "Wir sind ein blühendes Beispiel für die ganze Nachbarschaft." Wer die sonst so eintönigen und staubigen Bretterbuden-Siedlungen der Townships kennt, in denen die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Südafrikas auch fast zehn Jahre nach dem Ende der Apartheid haust, kann ihre Freude nur teilen.
Das üppige Grün hat offensichtlich abgefärbt, sogar die Schulgebäude sehen gepflegter aus als anderswo. Die Eltern zeigen einen gewissen Stolz, dass ihre Kinder hier zur Schule gehen, sie lernen Verantwortung zu übernehmen und interessieren sich für die weitere Entwicklung. Selbst die Nachbarn haben angefangen, vor ihrer Türe zu kehren, sie legen Beete an und pflanzen Gemüse und Kräuter für den Eigenbedarf. Kaum zu glauben, was so ein bisschen Grün alles verändern kann. Die Menschen hier haben wenig Selbstvertrauen, viele sind arbeitslos und nicht daran gewöhnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen , erklärt Paulina Sethele, die resolute Schulleiterin. Das Gemüse wird mittags gekocht und ernährt die Kinder, ganz nebenbei lernen sie so auch noch, gesund zu essen. Das Modell hat auch die Regierung überzeugt, Anfang dieses Jahres kam das Gesundheitsministerium in die Banareng Schule, um von hier aus seine neue Ernährungskampagne zu starten.
Dabei ist Paulina auf die Regierung gar nicht gut zu sprechen. "Die Politiker haben uns im Stich gelassen", schimpft sie, "von denen können wir nichts erwarten". Nein, der Mann, dem sie das alles zu verdanken haben, heißt Buzz Bezuidenhout und ist ein Manager beim Automobilhersteller BMW in Südafrika. Er rief das mit Schools Environmental Education Development (SEED) betitelte Projekt 1996 ins Leben. Mit 15 Schulen hat SEED angefangen, heute sind über 60 daran beteiligt. Und Buzz Bezuidenhout sitzt nur noch selten in der Geschäftszentrale in Midrand. In Jeans und T-Shirt fährt der große, breitschultrige Südafrikaner in seinem Pick-up durch Townships und über Land, um in den Schulen nach dem Rechten zu sehen. "Wir verteilen nicht einfach Geld", sagt der Manager, "wir wollen, dass Lehrer und Schüler Verantwortung übernehmen . Wenn eine Wasserpumpe gespendet wird, wird gleichzeitig jemand bestimmt, der sich um sie kümmert. Und wenn sie über Nacht verschwindet, dann gibt es nicht automatisch eine neue. Der Verantwortliche muss sehen, wie er sie wieder beschafft."
Viele große Unternehmen fördern inzwischen Schulprojekte in den ärmsten Regionen des Landes. Es gehört inzwischen zum guten Ton multinationaler Konzerne, von "sozialer Verantwortung im Zeitalter der Globalisierung" zu sprechen. Doch was im reichen Norden oft als Kosmetik und geschickte Werbestrategie für Aktienanleger abgetan wird, hat in Südafrika längst mit Überlebensfragen zu tun. Die nächste Generation der zu Apartheid-Zeiten vernachlässigten schwarzen Bevölkerung braucht eine bessere Schulausbildung, damit sich Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln können. Und die Regierung allein kann diese Aufgabe in so kurzer Zeit nicht bewältigen, wenn man bedenkt, dass die allgemeine Schulpflicht für alle, also auch für die Kinder der schwarzen Bevölkerung, erst vor sechs Jahren eingeführt wurde. "Ein Großteil unseres Schulsystems ist nicht funktionsfähig", schrieb der Erziehungsminister Kader Asmal mutig in seiner ersten Bestandsaufnahme, als er 1999 sein Amt antrat. Und er scheut sich auch heute nicht, bei Inspektionsreisen durch die Provinz, die Verantwortlichen in den Schulbehörden vor versammeltem Publikum zur Rede zu stellen. "Wie kommt es, dass diese Schule keine Bücher hat?", fragt er dann böse, "und wieso wissen Sie nicht, wo der Lehrer abgeblieben ist, der hier Unterricht halten müsste?"
Die meisten der 27.000 Schulen in Südafrika haben inzwischen feste Gebäude, aber in mehr als 1000 Schulen hat noch nicht jede Klasse ihren eigenen Raum. Von Computern ganz zu schweigen. Bis zum Jahr 2010 soll jede Schule Computer haben, hofft Kader Asmal, der vor seinem Exil in Irland selbst einmal Lehrer war. 22 Prozent des staatlichen Haushalts stehen ihm zur Verfügung, im nächsten Jahr wird es erstmals Schulen für geistig und körperlich Behinderte geben. 80 Millionen Euro sind für Stipendien reserviert, um junge Talente in den Townships und auf dem Land zu fördern, die alles haben, außer Geld .
Die Unterrichtspläne wurden und werden weiter verändert, von den autoritären Strukturen der Apartheid-Vergangenheit, in der die Prügelstrafe an Schulen üblich war, hin zu einem demokratischen, interaktiven Unterricht. Im Stundenplan wird jetzt Sexualkunde eingeführt, um offen über Probleme wie Aids, Vergewaltigung und Frauenunterdrückung zu diskutieren. Das Klima rund um die Schule muss verbessert werden, wo oft in unmittelbarer Nachbarschaft die nächste Kneipe lauert, in der betrunkene Männer ihren Lohn versaufen. Dreißig Jahre wird es dauern, so glaubt Südafrikas engagierter Erziehungsminister, bis die Folgen des ungerechten Bildungswesens der Apartheid-Ära überwunden sind.
Dann könnte es vielleicht überall im Lande solche Schulen geben wie das hinter alten schattigen Bäumen und gepflegten Rasenflächen versteckte College am Fuße des Tafelbergs von Kapstadt: SACS, South African College High School, die älteste Schule am Kap. In einem Jahr feiert sie ihr 175-jähriges Bestehen. In dem großen holzvertäfelten Saal, der für Abiturfeiern, Ehrungen und andere Festlichkeiten bestimmt ist, sind die Namen aller Abiturklassen verewigt, soweit man sie zurück verfolgen kann. Die Schule ist stolz auf Tradition und Beständigkeit, und auf ihre Absolventen; viele von ihnen haben als Richter, Politiker und anderweitig bekannte Persönlichkeiten die Geschichte Südafrikas mit geprägt. Sie alle trugen die gleiche Schuluniform: kurze Khaki-Hosen, lange beigefarbene Wollstrümpfe und braune Schuhe im Sommer, lange dunkle Hosen im Winter, dazu einen dunkelblauen Blazer, weißes Hemd und hellblau gestreifte Krawatte.
Auch David Motubudi hat diese Uniform jahrelang getragen. Jetzt fällt er durch einen Blazer in leuchtendem Meeresblau auf, der nur den ältesten Schülern in besonderen Funktionen zusteht. Der 17-Jährige war ein Jahr lang Schulsprecher, er schreibt gerade an seinen Arbeiten für die Abiturprüfung und wird die High School in wenigen Wochen verlassen. Zum ersten Mal in der Geschichte der SACS hatten die 720 Schüler einen Schwarzen zu ihrem Sprecher gewählt. Und zum ersten Mal macht ein Jahrgang Abitur, in dem es von der ersten Klasse an keine Rassentrennung mehr gab.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Schüler ausgerechnet einen Afrikaner aus dem Nachbarland Botswana zu ihrem Sprecher wählten. Dort gab es keine Apartheid. Demütigung und Unterdrückung hat David Motubudi nie kennen gelernt. Selbstbewusst und umgänglich tritt er auf, und offenbar hat er die Interessen der Schüler zur Zufriedenheit aller vertreten. "Wir haben mit der Rassenfrage nichts mehr zu tun", sagt David und meint das stellvertretend für alle in der SACS. Die Mehrheit, etwa 65 Prozent, kommen nach wie vor aus weißen Familien, etwa 20 Prozent der Schüler sind Farbige und 10 Prozent Schwarze. Zahlen, die einem die Schüler selbst vorrechnen. Denn der Direktor sagt, er wisse es nicht. Die Schule führt keine Statistik über die Hautfarben ihrer Schüler, das wäre politisch unkorrekt und spiele im neuen Südafrika auch keine Rolle mehr. Seit 19 Jahren steht Gordon Law an der Spitze der Elite-Schule, und es ist ihm wichtig zu betonen, dass die SACS schon Ende der achtziger Jahre, als sich vielleicht noch nicht das Ende, aber zumindest Veränderungen in der weißen Regierung abzeichneten, ein Konzept für die Öffnung der Schule vorlegte. Inzwischen herrsche ein völlig anderer Geist in der Schule, den die älteren Generationen nie kennen gelernt hätten. Ganz Südafrika, so Gordon Law, habe in den letzten zehn Jahren einen enormen Lernprozess durchgemacht. Und wahrscheinlich sei die südafrikanische Gesellschaft heute offener und toleranter als die in so manchem europäischen Land. SACS, die renommierte High School, ist seine Zukunftsvision für Südafrika.
Noch allerdings kann sich die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung diese Zukunft nicht leisten. Die Schulgebühren für die staatliche Schule betragen knapp 1000 Euro im Jahr, dazu kommen die Kosten für Schuluniformen, Bücher und für den Schultransport. Geld, das sich gemessen am Einkommen nur gehobene Mittelstandsfamilien leisten können. Traditionell kommen die meisten weißen Schüler aus den umliegenden wohlhabenden Wohnvierteln von Kapstadt. Inzwischen hat sich auch der eine oder andere gut verdienende schwarze Anwalt oder Arzt in der Gegend niedergelassen und schickt seine Kinder in die SACS. Andere schwarze Schüler kommen von weit her, wie Schulsprecher David Motubudi, dessen Eltern in Botswana Wert auf seine gute Ausbildung legen und sie sich auch leisten können. Oder sie kommen jeden Tag den weiten Weg aus den Townships, den abgelegenen Vororten, in die der Apartheidstaat die schwarze Bevölkerung verbannte und in denen die Mehrheit heute noch lebt. Viele der schätzungsweise 70 schwarzen Schüler haben ein Stipendium, ohne das sie sich die Ausbildung in der High School nicht leisten könnten.
Der traditionsreichen Schule ist ein Internat angeschlossen, das 130 Schülern Unterkunft bietet, auch denen aus der "früher benachteiligten Bevölkerung" wie Schwarze und Farbige im heutigen Südafrika politisch korrekt genannt werden. Beim Zusammenwohnen in disziplinierter, aber entspannter Atmosphäre - wie es im Schulprospekt heißt - erlebt die neue Schülergeneration in der SACS hautnah, was es heißt, tolerant zu sein und die Kultur der anderen zu respektieren. "Vorurteile kannst du dir hier nicht leisten", sagt der weiße Abiturient Niall Boyle, der wochentags im Internat wohnt. Dabei geht es keineswegs immer politisch korrekt zu. Es sei durchaus üblich, sich in der Klasse gegenseitig aufzuziehen. "Farbige stehlen", "du weißer Rassist" und Ähnliches werfen sich die Schüler gegenseitig an den Kopf. Aber nichts davon sei wirklich ernst gemeint, bestätigt David Motubudi, man spiele einfach mit den Begriffen aus der Vergangenheit, die für sie hohl und ohne Bedeutung seien. Das habe überhaupt nichts Verletzendes.
Trotzdem: Außerhalb der Schulmauern lebt jede Gruppe für sich. Die meisten Weißen werden von ihren Müttern im Auto abgeholt, die anderen fahren mit Bussen und Zügen, jeder dorthin, wo er zu Hause ist. Und das bestimmen weiterhin die ökonomischen Verhältnisse. Zweimal jährlich fahren die SACS-Schüler zu ihrer Partnerschule in den Armen-Vorort Khayelitsha, nicht gerade mit Begeisterung, aber immerhin, man bekommt doch mit, wie die anderen jenseits des Wohlstands so leben. Früher, zu Apartheidzeiten, hatten die Schüler in der feinen SACS keinen blassen Schimmer, wie es in den Townships aussah, erzählt ein Ehemaliger, einer der "Old Boys" wie das in der College-Sprache heißt. Man lebte in einer heilen, behüteten Welt und wusste, dass einem mit dem Abschluss der South African College High School in der Tasche die Welt offen stand, zumindest bis an die Grenzen des weiß beherrschten Südafrika.
Heute ist es für die weiße Minderheit nicht mehr so einfach. Jetzt sind Schwarze mit einer guten Ausbildung gefragt. David Motubudi wird nicht zurück nach Botswana gehen, sondern an der Universität von Kapstadt Sozialwissenschaften studieren. Naill Boyle hat in der 1800 Kilometer entfernten Hauptstadt Pretoria einen Studienplatz für Tiermedizin bekommen. Er weiß, dass Schwarze heute leichter einen Job bekommen als er, aber er findet das fair. "Die Schwarzen haben ihr ganzes Leben gekämpft, jetzt sollen sie auch profitieren." Das sei zwar ungünstig für ihn und die anderen Weißen, aber ohne Unterstützung für die schwarze Mehrheit würde sich in seinem Land ja sonst nichts ändern. Meint er das wirklich ernst? "Ja klar", gibt der Abiturient zurück, "wir müssen endlich anfangen, aus den Fehlern unserer Väter und Großväter zu lernen." Etwas pathetisch vielleicht, aber ein bestechendes Zeugnis für einen Abiturjahrgang, der privilegiert und ohne Vorurteile aufgewachsen ist.
aus: der überblick 04/2002, Seite 20
AUTOR(EN):
Susanne Bittorf:
Susanne Bittorf arbeitet als Korrespondentin für die "Süddeutsche Zeitung" und lebt in Kapstadt, Südafrika.